„Turm A ohne Neuigkeit“! (1946)

Aus Frühe Texte der Holocaust- und Lagerliteratur 1933 bis 1949
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Angaben zum Werk

Titel „Turm A ohne Neuigkeit“!
Autor Grand, Anselm J. (1913-1976)
Genre Erinnerungsbericht

Ausgaben des Werks

Digitalisat in DIGISAM öffnen
Ausgabe von 1946, Leipzig,Wien
Titel „Turm A ohne Neuigkeit“!
Untertitel Erleben und Bekenntnis eines Österreichers. Ein Komponist, Maler und Schriftsteller schildert das KZ

Erscheinungsort Leipzig,Wien
Erscheinungsjahr 1946

Verlegt von Ludwig Doblinger/Bernhard Herzmansky KG
Gedruckt von Waldheim-Eberle
Publiziert von Grand, Anselm J. (1913-1976)

Umfang 184 Seiten
Abbildungen 1 Porträt und 1 Selbstporträt von Anselm J. Grand, 2 Lagerskizzen, 3 Faksimile, 3 Zeichnungen

Bibliotheksnachweise UBGI-icon.gif UB Gießen (Print-dnb-icon.gif gedruckte Ausgabe)
DNB-icon.gif Deutsche Nationalbibliothek (Print-dnb-icon.gif gedruckte Ausgabe)


Zusammenfassung

Der österreichische Künstler und Autor Anselm J. Grand beschreibt in seinem Bericht in einem überwiegend sachlich-nüchternen Stil seine Verhaftung und Inhaftierung als politischer Häftling im Konzentrationslager Dachau, wo er schließlich zum Hauptkapo des Lagers wird, und in Sachsenhausen. Grand empfindet sich jedoch weniger als politisch denkenden Menschen, sondern vielmehr als Künstler und Musiker. Darauf weist auch bereits die Gestaltung des Covers hin, das eine leere Partitur zeigt, die statt Linien aus Stacheldraht besteht. Seinen Bericht beginnt Grand mit der Schilderung des besetzten Graz. Kontrastierend stellt er „zwei Sorten Menschen“ (S. 5) gegenüber, die sich auf den Straßen der Stadt begegnen: „Die eine Gruppe: Sieger, voll Lust, Rausch, Zuversicht und Hoffnung, voll Gemeinheit und Blödheit, voll Bosheit, Eigensinn, Niedertracht und Unmenschlichkeit, voll Rachsucht und aufreizender Präpotenz. Die zweite Gruppe: Gedrückte, Traurige, mit Tränen in den Augen“ (ebd.). Die weitaus kleinere zweite Gruppe ist diejenige, zu der er sich zählt, die „der Patrioten, der ewig treuen Österreicher!“ (ebd.) Diese „wenigen tapferen, unbeirrbaren Österreicher von Graz“ (S. 9), die wie Grand Verteidiger des ‚wahren Österreich’ sind und bereit, für ihr Land zu kämpfen, und die er in einem kollektiven Wir zusammenfasst, werden in die Konzentrationslager verbracht. Er nennt sie – ebenso wie seine Mithäftlinge im KZ Dachau – in sehr großer Zahl namentlich, um ihnen ein Denkmal zu setzen, da die wenigsten von ihnen noch leben.

Um einer Verhaftung zu entgehen, versteckt sich Grand zeitweise in den Wäldern. Am 28. September 1938 wird er schließlich verhaftet und zunächst in einem Gestapogefängnis festgesetzt. In der Zelle verfasst er Gedichte und Melodien. Immer wieder wird er verhört und mißhandelt. Im März 1939 wird ihm die Entlassung in Aussicht gestellt; diese Hoffnung erfüllt sich jedoch nicht. Stattdessen wird er kurz darauf in das KZ Dachau transportiert, wo er im Block 3 untergebracht wird, dem Block der „Lageraristokratie“ (S. 32). Zunächst wird er der Strafkompanie zugeteilt; Schreiben oder Komponieren kann er hier nicht mehr. Schnell wird jedoch bekannt, dass er Musiker ist und der Lagerführer befiehlt ihm, etwas auf der Geige vorzuspielen. Danach wird er dem ‚Arbeitskommando Plantage‘ zugeteilt. Die harte Arbeit und die Schikanen, etwa das ‚Baumbinden‘ und später auch eine Bunkerstrafe, setzen ihm schwer zu. Schon bald wird er jedoch wegen seines Geigenspiels zum Hilfskapo ernannt und es gelingt ihm, einige seiner österreichischen Mithäftlinge ebenfalls in das Plantagenkommando versetzen zu lassen. Als am 26. Dezember 1939 eine Komission das Lager besucht, die für das Buch ‚Heilkräutergärten Europas‘ Maler sucht, wird Grand zusammen mit dem Polen Kascak für diese Tätigkeit ausgesucht. Das Malerkommando ist erfolgreich, Grands Atelier wird vom Adjutanten Hitlers, von Heinrich Himmler und anderen hohen NS-Persönlichkeiten besucht.

Grand beschreibt in seinem Bericht auch, wie es ihm trotz der verschiedenen Machtkämpfe der Lagerleitung und der Häftlingsleitung gelingt, Kontakte für sich zu nutzen. So wird er dank der Unterstützung des Obersturmführers Vogt im Frühjahr 1940 zum Hauptkapo ernannt. Jeden Tag muss er 2.000 Häftlinge zusammenstellen, die dann von den Untercapos in 20 Hundertschaften unterteilt werden. In dieser Position kann er etwas bessere Ernährungs- und Arbeitsbedingungen und somit Überlebenschancen für viele Mithäftlinge erwirken, so Grand in seinem Bericht. Die Musik bleibt für ihn ein wichtiges Anliegen und eine Überlebensmotivation im Lager. Nebenbei nutzt Grand die Zeit, um eine Symphonie in Partitur zu setzen. Er bemüht sich, eine „Lagermusik“ (S. 69) aufzustellen und sammelt Musiker und Notenmaterial. Im Frühjahr 1941 gelingt es ihm, ein Orchester zusammenzustellen.

Als Kapo ist er aber auch „ständig den Vorwürfen und Gemeinheiten des Lagerführers ausgesetzt“ (S. 72). So wird er für 14 Tage in den Bunker gesperrt und bekommt in dieser Zeit nur zwei Mal etwa zu essen; bei seiner Entlassung erhält er 25 Doppelschläge mit dem Ochsenziemer. Seine wachsenden Privilegien und Machtbefugnisse im Lager beschämen Grand jedoch zunehmend, wie er fluchend und in vulgärer Ausdrucksweise gesteht: „Teilweise schämte ich mich vor den anderen Kameraden, wenn ich das Essen an der hungrigen Kolonne vorbeitrug. Umsomehr traf es mich innerlich, wenn vor meinen Füßen einer zusammenbrach, dessen Kadaver ich mit diesem gottverfluchten Fressen überschreiten mußte“ (S. 87).

Im April 1941 werden Grand sowie sechs weitere Maler zu Sonderhäftlingen ernannt und sie tragen nun eine violette Binde. Die Maler bekommen zwei Zimmer mit Ofen und eigener Toilette, Tischtücher und Blumen, weiße Bettwäsche und Waschgelegenheit zugewiesen. Sie dürfen sich ihre Haare wachsen lassen, werden täglich rasiert und können wöchentlich schreiben und Post empfangen.

Seine heimliche Liebe zu Elfi, die im Laboratorium und der Kanzlei des Lagers arbeitet, führt jedoch bald zu Spannungen. Grand wird im Atelier unter Arrest gestellt und am 28. Juni 1941 in den Bunker abgeführt, wo er 42 Tage verbringt. Nahrungsentzug und körperliche Folter können ihn jedoch nicht dazu bringen, sein Verhältnis mit Elfi zu verraten. Schließlich wird er über das Gefängnis Berlin Alexanderplatz in das KZ Sachsenhausen überstellt. Hier ist Grand weiterhin den Malern zugeteilt, aber nur ein ganz gewöhnlicher Häftling ohne Privilegien. Grand ist nervlich und körperlich am Ende, er nässt immer wieder ein, was ihn auch bei den Kameraden unbeliebt macht. Den Leser lässt er an seinem inneren Erleben Teil haben.

Das Sterben der Häftlinge beschreibt Grand mit vielen Ausrufezeichen. Er erzählt detailliert vom Geruch des verbrannten Menschenfleischs sowie von den Leichenhaufen, die nach Erschießungen bewacht werden müssen: „Die Leichenhaufen mußten nun streng bewacht werden. Nicht, weil man fürchtete, daß Leichen verschleppt werden könnten, sondern weil nach einiger Zeit die Haufen sich langsam belebten. Die Gefangenen waren zum Teil schlecht getroffen, es kam also nicht selten vor, daß plötzlich ein blutüberströmter nackter Kerl vor einem stand“ (S. 113).

In Sachsenhausen gelingt es Grand ebenfalls, ein Orchester zusammenzustellen. Ende 1941 wird er aus dem Kommando der Kunstmaler entlassen und zum „Stehkommando“ (S. 129) in Sturm und Schneegestöber eingeteilt. Grand wird zum „Muselmann Nr. 39.123“ (S. 130). Aus mehreren Wunden blutend, zu Tode erschöpft und jeder Bewegung unfähig bricht er schließlich zusammen. Noch einmal sieht er sein Leben an sich vorüberziehen: „Trostlose Schmach – trauriges Beginnen – ganz wenig Freude war in diesem Bilderbuch zu sehen. Die Geige, das einzige Ding, begrenzte mir einige Stunden, sonst aber war nichts mit mir gegangen. […] Sie beide, Geige und Pinsel, entzündeten mir selbst in den schwersten Stunden freudumrankte Träumereien“ (S. 131). Durch die Hilfe eines Kameraden kann Grand schließlich gerettet werden und wird im Revier aufgenommen, wo er wieder zu Kräften kommt. Die Bedingung für seine Rettung ist jedoch, dass er den Arzt porträtieren muss. Weitere Aufträge folgen, die er mit Wissen des Arztes in den Kellern und Kanalschächten nahe der Pathologie ausführt, um nicht entdeckt zu werden. Schließlich wird er vom Arzt zum „Chef der Pathologie“ (S. 153) ernannt und muss nun „an den Leichen herumschnitzeln“ (S. 154). Detailliert beschreibt er die abstoßende und menschenunwürdige Arbeit an den toten Körpern, ebenso die qualvollen Phlegmoneversuche an lebenden Häftlingen, denen er beiwohnen muss.

Am 2. November 1942 wird Grand schließlich entlassen. Seine Kleidung und alle Gegenstände, die ihm bei seiner Verhaftung 1938 abgenommen worden waren, werden ihm wieder ausgehändigt. Auf dem Weg nach Hause wird er von Visionen von Kommandostimmen und von den „Fratzen der gestorbenen Kameraden“ (S. 172) begleitet: „Ich glaubte, wahnsinnig zu werden, und es kostete viel Mühe und Energie, bis ich mich langsam an Freiheit und an den irdischen Zauberacker gewöhnen konnte“ (ebd.). Am 4. November kommt er in Wien an, die Stadt erscheint ihm jedoch ebenso fremd wie wenig später seine Heimatstadt Graz. Als er seinem eigenen Kind gegenübersteht, erkennt er auch dieses nach zwölf Jahren Trennung nur zögerlich: „Du bist zu groß, um mein Kind zu sein. […] Du lagst noch in deiner Wiege, als ich von dir in aller Stille Abschied nahm“ (S. 173). Tränenreich ist auch die Begegnung mit der Großmutter, die ihm sagen muss, dass seine Freundin Elfi sich des Wartens auf ihn müde schließlich verlobt hat. Die Mutter erkennt ihn zunächst nicht wieder, da er „eher einer Leiche ähnlich“ (S. 175) sieht. Schwer erkrankt an Ruhr wird er immer schwächer und schwächer.

Ein unerwartetes Wiedersehen mit Elfie auf die Vermittlung ihrer Mutter hin bringt die Wendung. Elfi entscheidet sich, bei ihm zu bleiben. Der letzte Satz des Werks lautet: „Nun bin ich bei dir – und bleibe …!“ (S. 183)

Dem Text vorangestellt ist das Gedicht von Grand „Denk, Österreich ...!“, in dem den ermordeten Österreichern gedacht wird.


Biografie

Anselm Jakob Grand (geb. 02.05.1913 in Knittelfeld, gest. 04.09.1976 in Wien) wurde als erstes von zehn Kindern von Anselm und Stefanie Grand geboren. Bereits mit drei Jahren erhielt er Violinenunterricht, ab 1919 besuchte er das Grazer Paulinum. Er studierte am Konservatorium Graz und lernte außerdem Orgel und Fagott spielen. Er erhielt zudem eine Ausbildung in Kunst bei Prof. Stefan Mautner. Ab 1930 spielte er im Philharmonischen Orchester der Stadt Graz Fagott. Später wurde er Konzertmeister und es folgten Konzertreisen nach Deutschland, Italien, Frankreich und andere Länder. Während der 1930er Jahre war er Mitglied der österreichischen Milizorganisation „Heimwehr“. Als Mitglied der „Frontbereitschaft“ verteilte er Flugzettel gegen den Nationalsozialismus. Als führendes Mitglied der militärischen Widerstandsbewegung „Freikorps“ war er ab Mai 1938 ein bekannter Gegner der Nationalsozialisten. Er musste untertauchen und wurde am 28. September 1938 in Graz verhaftet. Als Schutzhäftling wurde er am 8. Juli 1939 in das Konzentrationslager Dachau überstellt, wo er die Häftlingsnummer 34 525 erhielt und im April 1940 im Zuge einer Neunummerierung die Nummer 78 bekam. Grand war in Dachau zunächst als Hilfskapo, später als Lagerkapo sowie als Zeichner im Arbeitskommando Plantage eingesetzt, wo er die Pflanzen für ein bebildertes Herbarium für Himmler zeichnete. Er war auch an der Illustration einen Heilkräuterbuchs beteiligt und leitete das Lagerorchester in Dachau. Der SA-Mann Josef Haslinger hatte ein Blumenstillleben Grands aus Dachau in seiner Wohnung hängen. Auf einem großformatigen Ölbild hat Grand nach 1945 die Folterung am ‚Baum’ in Dachau dargestellt. Dieses Bild hängt heute zentral im Versammlungsraum des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes in Wien. Später wurde Grand in das KZ Sachsenhausen überstellt, wo er sich ein ‚Atelier‘ neben dem Leichenkeller einrichten konnte. Nach seiner Entlassung am 20. September 1944 kehrte er nach Wien zurück. Seine Erlebnisse aus der KZ-Haft schilderte er 1946 in seinem autobiografischen Bericht „Turm A ohne Neuigkeit!“.

Nach dem Krieg war Grand ab Herbst 1945 Lehrer für Zeichnen, Malen und Naturstudien an der Modeschule Hetzendorf in Wien. Außerdem war er Dozent an der Volkshochschule in Wien West. Grand wurde Mitglied und später Präsident der Berufsvereinigung bildender Künstler Österreichs. Bei der großen antifaschistischen Ausstellung „Niemals vergessen“ 1946 wurden zwei seiner Bilder ausgestellt. Anfang 1970 wurde Grand Vizepräsident des Albert Schweitzer Studienzentrums. Er malte neben Allegorien und Landschaftsmalereien im öffentlichen Auftrag Portraits berühmter Persönlichkeiten wie Albert Schweitzer, Otto von Habsburg, Winston Churchill, Charles de Gaulle oder den indischen Staatspräsidenten Pandit Nehru, wodurch er bekannt wurde. Als Musiker arbeitete Grand als Instrumentalist, Dirigent und Komponist vor allem im Bereich sakraler Musik. 1962 verließ Grand die Modeschule und arbeitete von da an als freischaffender Künstler. 1963 wurden ihm für seine künstlerischen Verdienste im Bereich Malerei und Musik der Titel Professor verliehen und 1972 erhielt er das Österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst I. Klasse sowie 1975 den päpstlichen Orden Pro Ecclesia et Pontifices.

Quellen:




Bearbeitet von: Charlotte Kitzinger