Austauschlager Bergen-Belsen (1944)

Aus Frühe Texte der Holocaust- und Lagerliteratur 1933 bis 1949
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Angaben zum Werk

Titel Austauschlager Bergen-Belsen
Autor Herrmann, Simon Heinrich (1907-?)
Genre Erinnerungsbericht

Ausgaben des Werks

Ausgabe von 1944, Tel Aviv
Titel Austauschlager Bergen-Belsen
Untertitel Geschichte eines Austauschtransports

Erscheinungsort Tel Aviv
Erscheinungsjahr 1944

Verlegt von Bitaon Ltd.
Gedruckt von Achva Printing Press
Publiziert von Herrmann, Simon Heinrich (1907-?)

Umfang 96 Seiten

Bibliotheksnachweise UBGI-icon.gif UB Gießen (Print-dnb-icon.gif gedruckte Ausgabe)


Zusammenfassung

Als sogenannte Austauschjuden wurden 222 holländische Juden im Sommer 1944 von Bergen-Belsen nach Palästina in die Freiheit gebracht. Einer von ihnen ist Simon Heinrich Herrmann, der noch während des Kriegs seinen Bericht über die Maßnahmen der Judenverfolgung in den Niederlanden im Allgemeinen und die Lager Westerbork und Bergen-Belsen im Besonderen vorlegt. Dabei geht der Autor fast wissenschaftlich distanziert vor; erst am Ende des Buches schildert er auch die Gefühlsschwankungen der ‚Palästina-Fälle‘ bis zu ihrer geglückten Ankunft in Haifa.

Chronologisch beschreibt Herrmann den Verlauf der Judenverfolgung in Holland ab Mai 1940. Dabei datiert er die einzelnen Phasen der Verfolgung exakt und beschreibt detailliert das System der Stempel und Kategorien für Juden. Er nennt Institutionen sowie Akteure und analysiert präzise die Handlungen der Nationalsozialisten. Sein Text ist aber kein Bericht über das eigene Schicksal – meist spricht er von „man“ oder „die holländischen Juden“ –, sondern er stellt vielmehr allgemeine Betrachtungen an. Besonders am Anfang des Buches reflektiert er neutral und bisweilen distanziert – wie ein Historiker, der ironisch-leicht im Rückblick schreibt; die direkte Betroffenheit Herrmanns wird nur selten erkennbar. Deutlich wird hingegen die allgemeine Verwirrung unter den holländischen Juden, welche Möglichkeiten des Aufschubs der Deportation die Rettung bringen können. So gibt es zunächst verschiedene Gründe für eine Rückstellung vom Transport, etwa die Zugehörigkeit zum Judenrat oder der Austausch gegen Deutsche aus Palästina. Doch, so Herrmann, „letzten Endes mussten sie alle aus Holland verschwinden“ (S. 8). Die holländischen Juden werden zunächst in das Sammellager Westerbork gebracht. Die „Ungesperrten“ (S. 20), die Herrmann als ruhige, entschlossene „wahrhafte Helden“ (ebd.) beschreibt, werden von dort ab 1942 in die Vernichtungslager im Osten geschickt. Herrmann macht allerdings deutlich, dass das Lager „[f]ür diejenigen, die es verstanden, sich einige Zeit in Westerbork zu halten“ (S. 23), wie ein kleines jüdisches Dorf ist. So gebe es trotz der Angst vor der Deportation nach Polen einen Alltag mit Kultur und Sport, Kontakt zur Außenwelt und die Möglichkeit, Lebensmittelpakete zu erhalten. Zudem sei die Gruppe homogen und kollegial, die deutschen Wachmänner lassen, so Hermann, die Juden oft in Ruhe.

Damit steht Westerbork im krassen Gegensatz zum Konzentrationslager Bergen-Belsen, in das die Gruppe der Austauschjuden im Dezember 1943 deportiert wird. Wie besonders die Stellung der Austauschjuden in beiden Lagern ist, macht Herrmann deutlich: „Das Wort ‚Austausch‘ hatte einen Zauberklang, denn es versprach die Freiheit, während andere bevorzugte Gruppen bestenfalls auf eine Gefangenschaft unter günstigen Bedingungen hoffen durften“ (S. 25). Dennoch herrscht nie Sicherheit darüber, dass die Gruppe tatsächlich die Freiheit erlangen wird, immer wieder gibt es Rückschläge und Einzelne werden doch in andere Lager geschickt. Mal schöpft die Gruppe Hoffnung, dann ergreift sie Desillusion – diese Stimmungsschwankungen macht Herrmann durch die Schilderung der Positionen einzelner Gruppenmitglieder deutlich. Dem Lager Bergen-Belsen widmet sich Herrmann ebenfalls ausführlich. Er beschreibt den dortigen Alltag, das Praktizieren der Religion im Geheimen sowie die Kultur. Er schildert die ersten Eindrücke nach der Ankunft, wie sie auf einen Neuankömmling wirken, und nimmt dabei nichts vorweg. So heißt es z.B.: „Ein unheimliches Gefühl überfiel uns, was ist mit diesen Leuten los“ (S. 31)? Mit der Ankunft in Bergen-Belsen wechselt auch die Perspektive des neutralen Erzählers. Immer öfter spricht er nun von „ich“ oder „wir“, schildert gar einen Tagesablauf aus seiner Sicht. Zudem wird der Ton bitterer, Herrmann spricht etwa vom „Menschenpackhaus“ (S. 32). Der Autor analysiert darüber hinaus die SS-Männer, deren Namen er nicht nennt, und ihr Verhalten gegenüber den Häftlingen, aber auch untereinander. Im Gegensatz zum Zusammenhalt unter den Häftlingen, den er ausdrücklich an vielen Stellen fast pathetisch lobt, handeln die Wachmannschaften seiner Meinung nach aus Angst vor ihren Vorgesetzten feige und brutal; Solidarität habe unter ihnen keine geherrscht.

Schließlich wird die Gruppe aufgerufen, sich für den Transport vorzubereiten. Das Tempus wechselt ins Präsens und die Schilderungen werden individueller und wertender. Die Menschen schöpfen erneut Hoffnung, beginnen sich auf ein Leben in Palästina durch Hebräischunterricht vorzubereiten und der Neuanfang wird beschworen: „Erst müssen wir lernen, in Freiheit zu leben, von einem tierähnlichen, nur von Instinkten gelenkten Dasein zu normalen menschlichen Lebensfunktionen zurückzukehren und wieder unter eigener Verantwortung zu denken und zu handeln“ (S. 66). Poetisch ist von der „Vermählung mit einer neuen Heimat“ (S. 67) die Rede. Doch erneut gibt es Rückschläge, 50 Personen dürfen nicht mit auf die Reise. Viele Familien werden auf diese Weise getrennt, zudem kommt es immer wieder zu Aufschüben. Am 29. Juni 1944 wird überraschend die Abreise befohlen und die ‚Austauschjuden‘, hauptsächlich Alte und Kinder, treten ihren Weg nach Palästina an. Die Auswahl der Menschen erscheint Herrmann rein zufällig. Dass kaum junge Leute dabei sind, erklärt er sich damit, dass die Gruppe so weniger zum Aufbau eines jüdischen Staates beitragen könne. Herrmann reflektiert auf der Reise über sein Glück und ist sich bewusst, dass zeitgleich andere Juden ein schlimmes Schicksal ereilt: „Warum sitze ich in diesem Zug? Er fährt schon eine ganze Weile langsam. Vielleicht liegt vor ihm einer jener endlosen Güterzüge mit kleinen wackeligen, versiegelten Wagen, und darin, Körper an Körper verzweifelte, dem Verderben entgegenfahrende Menschen: Juden, unsere Brüder und Schwestern“ (S. 85). Die Reise über Wien, Belgrad und Istanbul beschreibt Herrmanns als „luxuriös“ (S. 89), die Verpflegung und Behandlung steht im krassen Gegensatz zu Bergen-Belsen. Nicht nur für die Kinder wirkt es wie ein Märchen. Einem traditionellen Reisebericht ähnelnd werden alle Ortschaften und Städte genannt, die sie passieren, sowie die Natur und die Architektur der Länder beschrieben. Die Ankunft in Palästina, dem „Land, dem unser Leben und unsere Zukunft gehören soll“ (S. 95), nach knapp zwei Wochen Fahrt wird euphorisch beschrieben. Der abschließende Blick in die Zukunft ist positiv und verdeutlicht die Intention des Textes. Bei der Beschreibung der Neuankömmlinge nimmt Herrmann wieder die Perspektive des allwissenden Erzählers ein: „Sie werden Wurzeln schlagen im Boden von Erez Israel. Seine Sonne wird die Spuren, welche vergangene Tage in ihrem Geiste und Körper hinterlassen haben, auslöschen und bald werden sie bereit stehen, ihrem neuen Heimatland zu dienen“ (S. 96).


Biografie

Simon Heinrich Herrmann (geb. 27.04.1907 in Schwabach) stammte aus Deutschland. Mit seiner Frau Ilse Herrmann-Portje (geb. 13.09.1916 in Ochtrup), die er am 5. August 1942 geheiratet hatte, wurde er am 20. Juli 1943 gemeinsam mit anderen holländischen Juden aus Amsterdam in das Sammellager Westerbork deportiert. Wann und warum er mit seiner Frau in die Niederlande gezogen war, ist nicht bekannt. Herrmann selbst war in Westerbork in der Baracke 60 untergebracht, seine Frau in Baracke 65. Von dort wurden sie gemeinsam am 11. Januar 1944 nach Bergen-Belsen gebracht. Wie die Quellen belegen, verließ das Ehepaar am 10. Juli 1944 im sogenannten Palästinatransport das Konzentrationslager und überlebte so die Verfolgung durch die Nationalsozialisten.

Quelle:

  • Informationen des Herinneringscentrum kamp Westerbork (Gedenkstätte Westerbork)


Werkgeschichte

Simon Heinrich Herrmann verfasste seine „Geschichte eines Austauschtransports“ nach seiner Ankunft in Palästina. Verlegt wurde der Text 1944 von Irgun Olej Merkaz Europa, einer Vereinigung der Juden aus Mitteleuropa, die vermutlich 1942 in Tel Aviv gegründet wurde. Nach dem Krieg publizierte die Zeitschrift „Aufbau“ den Erinnerungsbericht in mehreren Teilen vom 9. März bis zum 30. März 1945, wo in der Folge auch weitere Texte von Herrmann über Bergen-Belsen abgedruckt wurden. In der Forschung ist nichts bekannt über weitere publizierte Schriften von Herrmann.



Bearbeitet von: Christiane Weber