Der Bockerer (1946)

Aus Frühe Texte der Holocaust- und Lagerliteratur 1933 bis 1949
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Angaben zum Werk

Titel Der Bockerer
Autor Becher, Ulrich (1910-1990), Preses, Peter (1907-1961)
Genre Drama

Ausgaben des Werks

Ausgabe von 1946, Wien
Titel Der Bockerer
Untertitel Dramatisches Possenspiel in 3 Akten

Erscheinungsort Wien
Erscheinungsjahr 1946

Verlegt von Verlag A. Sexl
Gedruckt von Hans Bulla & Sohn
Publiziert von Becher, Ulrich (1910-1990), Preses, Peter (1907-1961)

Illustriert von Becher, Ulrich (1910-1990)

Umfang 154 Seiten
Abbildungen 1 Zeichnung der Hauptfigur Karl Bockerer mit dem Untertitel „bürgerlicher Fleischhauer und Selchermeister auf der Wieden“

Preise 24 Schilling
Bibliotheksnachweise DNB-icon.gif Deutsche Nationalbibliothek (Print-dnb-icon.gif gedruckte Ausgabe)


Zusammenfassung

Die Geschichte um den renitenten Fleischermeister Karl Bockerer, der sich den deutschen Machthabern und der von den nationalsozialistischen Ideen begeisterten Bevölkerung in Wien entzieht, ist ein Klassiker der österreichischen Literatur. Bockerer provoziert auf vielfältige Weise die Autoritäten, oft ohne es zu merken. Dadurch entstehen Situationen voller Humor in dieser Posse, welche die Ereignisse in Wien seit dem Anschluss Österreichs 1938, über die zunehmende Verfolgung von politischen und rassischen Gegnern bis hin zur Siegesfeier der Alliierten 1945 erzählt. Dabei wird neben der Standhaftigkeit Bockerers an vielen Stellen deutlich, wie leicht sich die Bevölkerung an die jeweiligen gesellschaftlichen Vorgaben anpasst.

Bockerer, dem ein „Biedermannsgesicht“ (S. 9) zugeschrieben wird, lebt mit seiner Frau und seinem 23-jährigen Sohn Hans in Wien. Sein Alltag ist bestimmt von der harten Arbeit in der Metzgerei. Nur in seiner Freizeit spielt er seit Jahren Karten mit dem Pensionär Hatzinger und dem jüdischen Rechtsanwalt Rosenblatt; auch ist er gelegentlichen Gaststättenbesuchen mit alten Freunden wie dem Eisenbahner Hermann nicht abgeneigt. An diesen sechs Personen wird von Preses und Becher im Wesentlichen verdeutlicht, wie sich der Alltag und das Wesen der Menschen unter den neuen Machthabern verändern: Rosenblatt muss in die USA emigrieren; der Kommunist Hermann wird in das Konzentrationslager Dachau verschleppt und ermordet, nachdem er mit Bockerer in eine Schlägerei mit deutschen Nazigrößen geraten ist; der Sohn Hans, der sich schon vor dem ‚Anschluss‘ bei der SA engagiert, wendet sich nach einem Streit mit seinem Vater gänzlich von seiner Familie ab und wird zum überzeugten Nationalsozialist, fällt aber in Stalingrad; Hatzinger und Bockerers Frau Sabine verfallen zusehends – aus Angst und Feigheit bzw. aus Begeisterung – den neuen Ideen. Immer wieder wird auch die Gesellschaft porträtiert, die etwa Aktionen gegen Juden in aller Öffentlichkeit bejubelt und selbst zuvor geachtete jüdische Künstler auslacht. Der Alltag der Menschen in Wien wird immer mehr überwacht: Gestapooffiziere verfolgen auch Bockerer und seine Freunde, sie werden vorgeladen und verhört. Der Überschwang der Bevölkerung bei Kriegserfolgen und die Angst bei Misserfolgen, die Methoden der Verfolgung und Ermordung der Juden – explizit werden Gaskammern genannt –, die Aufnahme von evakuierten Bombenopfern aus Berlin und der Versuch der Menschen, das eigene Handeln im Nachhinein umzuwerten, um selbst in einem besseren Licht dazustehen, werden von Becher und Preses ebenfalls thematisiert.

Für das Possenspiel typisch kommt es immer wieder zu Szenen und Dialogen, welche deutlich machen, wie wenig Bockerer die aktuelle Lage versteht. Vielmehr missversteht er vieles und verdreht ungewollt Informationen bis ins Humoristische oder redet mit anderen Figuren aneinander vorbei. So antwortet Bockerer etwa auf die Frage seiner Frau, ob denn das Hitler-Bild wie angeordnet in der Auslage der Metzgerei aufgestellt wurde: „Mir ham doch den Schweinskopf in der Auslag. Was brauchn mir denn den Kopf des Führers“ (S. 12)? In derselben Szene fragt Bockerer den Juden Rosenblatt, ob er einen Ariernachweis besitze und bezeichnet sich selbst als „rassenfremdes Element“ (S. 14). Warum die Nürnberger Gesetze auch in Wien gelten, erschließt sich ihm nicht. Ohne nachzudenken lobt er jüdische Sportvereine und vergleicht Heinrich Himmler mit einem Ober aus einem Wiener Café. In einer anderen Szene glaubt er, dass die Festlichkeiten zu Hitlers Geburtstag ihm gelten, da er am selben Tag wie Hitler geboren ist. Possenhaft wirkt auch die Szene, in der Bockerer eine ungebrauchte Hakenkreuzfahne verkaufen will, was von den lokalen Staatsvertretern als Affront wahrgenommen wird, der so jedoch von Bockerer nicht intendiert war. Durch den durchgängig benutzten Dialekt – sei es das Wienerische, das Berlinerische oder das Hochdeutsch – werden die Figuren sprachlich charakterisiert und einem gesellschaftlichen Milieu zugeordnet. Bockerer wird zudem noch durch fehlerhafte Aussprachen oder Wortwahl als Mann des Volkes dargestellt.

Nur Bockerer scheint trotz aller Ereignisse immer derselbe zu bleiben. Freundschaft und Familie sind durch das gesamte Stück hindurch die wichtigsten Werte für ihn. Heißt es am Anfang noch, dass Bockerer ein Mann sei, der „sich eben nicht an die neuen Verhältnisse gewöhnen“ (S. 12) kann, der grob und grantig wirkt, ist er tatsächlich den anderen emotional überlegen und hilft Juden sowie politisch Verfolgten. Am Ende des Dramas ist er fast zu einem gestandenen und akzeptierten Widerständler geworden. So heißt es in einer Szene, die im Oktober 1942 nach dem Tod des Sohnes Hans spielt: „’s hätt uns erspart bleibn können […]. Wann mer auf eahm ghört hättn, den Herrn Bockerer – beizeiten“ (S. 113). Obgleich er nicht heroisch auftritt, ist Bockerer in seiner grantigen Art einer der wenigen „anständige[n] Menschen“ (S. 54), der sich auch im Gespräch mit einflussreichen Parteigenossen nicht den Mund verbieten lässt. Der Gefahr, in die er sich begibt, wenn er etwa Gestapooffiziere reizt, ist er sich nicht bewusst, so bezeichnet ihn ein Gestapobeamter als „Alkoholiker. Ein volksfremder Querulant und Radaubruder. Ein Meckerer und Miesmacher. Einer von den feinen Kunden, die unser Doktor Göbbels als berufsmäßige Kri-ti-ka-ster bezeichnet hat“ (S. 72). So ist es an ihm, den Appell am Ende des Dramas an die Zuhörer/Leser zu richten, um eine Wiederholung der vergangenen Jahre zu verhindern: „Aufpassen müssen mer halt, Herr Doktor. […] Wia-r-a Luchs. Alle mitanander, wia mer da san. Alt und jung. […] Auf an jeden kommt’s an“ (S. 154).

Eine Wendung erhält das Drama am Ende des letzten Aktes: Im August 1945 liegt Wien in Trümmern, aber es herrscht Frieden. Frau Bockerer ist auf einer Feier der Alliierten, nur Bockerer ist in der Metzgerei, als plötzlich ein vermummter Mann in seinem Geschäft auftaucht. Er gibt sich – im typischen Sprachduktus – als Adolf Hitler zu erkennen, der die Bombardierung in Berlin überlebt habe und sich nun als Flüchtling vom ‚treuen Volksgenossen Bockerer‘ seine Rettung erhofft. Doch Bockerer, der dem Mann zunächst glaubt, gibt auch dem vermeintlichen ‚Führer‘ in einem langen Monolog Widerworte, zeigt ihm seine Schuld auf und verweigert dem „Massenmord-Fabriksdirektor“ (S. 145) seine Hilfe: „Wen drifft die Schuld an dem größtten Verburechen, das in der ganzen Menschheitsgeschichthä begangen wurde – wen driftt die Schuld?? […] Ihner“ (S. 144), und an anderer Stelle weiter: „I hab ka Angst mehr vor Ihnen, Herr Hitler […]! Net amal a Dackl hat mehr an Angst vor ihnen“ (S. 147). Doch in diesem Moment treten Wächter der Wiener Anstalt Steinhof auf, die den entlaufenen Geisteskranken Selchgruber, um den es sich tatsächlich handelt, mit einer Zwangsjacke wieder einfangen. Und so endet das Drama genau wie es angefangen hat mit einem harmonischen Kartenspiel zwischen Hatzinger, Bockerer und Rosenblatt, der als amerikanischer Soldat nach Wien zurückgekehrt ist.

Autorbiografie(n)

Ulrich Becher (geb. 02.01.1910 in Berlin, gest. 15.04.1990 in Basel) wuchs in Berlin auf, bevor er sein Jurastudium in Genf und Berlin begann. Neben seinem Studium war Becher bereits früh in vielfältigen kulturellen Belangen aktiv, etwa als Grafikschüler bei George Grosz, als Autor sowie als Dramatiker am Berliner Theater. Seine Arbeiten wurden wahrgenommen und seine Texte wurden unter anderem von Peter Suhrkamp und Lion Feuchtwanger besprochen. Schon als Zwanzigjähriger hatte er Dramen und Erzählungen verfasst, die von den Nationalsozialisten nach ihrer Machtübernahme unmittelbar verboten wurden. Tatsächlich war Becher der „jüngste unter den von den Nazis verbotenen und verfolgten Dichtern“ (Munzinger Archiv, o.S.). Becher, der ab 1932 Mitglied der Schriftstellervereinigung PEN (Poets Essayists Novelists) war, musste in der Folge aus Deutschland fliehen: Zunächst emigrierte er nach Wien, wo er heiratete, und 1938 in die Schweiz. Im Exil wurde er zum „konsequenten Antifaschisten“ (Naumann/Töteberg, o.S.), veröffentlichte in den Presseorganen der Emigranten und forderte eine „Einheitsfront aller Antifaschisten“ (ebd.). Da er in Europa nicht sicher war, entschied er sich 1941 für eine Flucht nach Brasilien, wo er „auf einer Urwaldfarm und in Rio de Janeiro [lebte und] für Tageszeitungen und für die deutsche Emigranten-Presse Artikel schrieb“ (Marschall, S. 139). Nach drei Jahren schriftstellerischer Tätigkeit in Südamerika durfte er in die USA einreisen und lebte fortan in New York. Publikationsmöglichkeiten für seine Texte, außerhalb der Exilpresse, hatte er in dieser Zeit jedoch nicht. Bechers nächste Stationen waren die Rückkehr nach Wien 1948 und schließlich Basel, das später die Heimat seiner Familie wurde. Bis zu seinem Tod widmete sich Becher, der die österreichische Staatsangehörigkeit erhalten hatte, weiterhin der Schriftstellerei, verfasste seine bekanntesten Werke „Der Bockerer“ (1949) sowie „Murmeljagd“ (1969) und erhielt für sein Schaffen zahlreiche Preise, unter anderem 1980 das Österreichische Bundesverdienstkreuz 1. Klasse für Literatur und Wissenschaft.

Quellen:

Peter Preses (geb. 29.10.1907 in Wien, gest. 10.07.1961 in Wien) musste wie Ulrich Becher als Autor, der nicht den Vorstellungen der Nationalsozialisten entsprach, 1938 ins Exil gehen. Es verschlug ihn nach London, wo er sich als Schauspieler im deutschsprachigen Exilkabarett „Laterndl“ engagierte. 1939 zog er nach New York, wo er mit Becher den „Bockerer“ verfasste.

Quelle:

  • Schulz, Georg-Michael: „Von der tragischen Posse zum österreichischen Leinwand-Epos. Der Bockerer von Ulrich Becher und Peter Preses. Text – Bühne – Film“. In: Barsch, Achim/Scheuer, Helmut und Georg-Michael Schulz (Hg.): Literatur – Kunst – Medien. Festschrift für Peter Seibert zum 60. Geburtstag. München 2008, S. 458-472.

Werkgeschichte

Die Posse um den renitenten Wiener Metzger Karl Bockerer verfassten die beiden Autoren Becher und Preses bereits 1944 in New York – andere Quellen nennen den Zeitraum Ende 1945 bis März 1946. Georg-Michael Schulz bezeichnet es als erstaunlich, „dass bereits im Jahr 1946 zwei Autoren […] die Unerschrockenheit aufbringen, einen Ausschnitt aus der jüngsten Geschichte in einer farcenhaften Komödie zu verarbeiten“ (S. 458).

Nach der Erstveröffentlichung im Wiener Sext Verlag 1946 stand die Theaterfassung im Vordergrund: Am 2. Oktober 1948 wurde das Stück in Wien mit großem Erfolg uraufgeführt; bis 1949 gab es bereits 100 Aufführungen. Wie Schulz bemerkt, wurde das Stück in einem von der sowjetischen Besatzungsmacht und der KPD geförderten Theater gegeben. Die antifaschistische Aussage des Stückes bewog auch den Berliner Aufbau Verlag, es 1949 in Deutschland zu verlegen. Es erschien in der Reihe der „Aurora-Bücherei“, die von Bertolt Brecht, Alfred Döblin, Heinrich Mann und anderen prominenten Schriftstellern herausgegeben wurde.

„Der Bockerer“ wurde nach seiner Uraufführung kaum noch gespielt und geriet fast in Vergessenheit. Selbst eine österreichische Verfilmung von 1963 wurde kaum wahrgenommen, weder in Deutschland noch in Österreich. Dies änderte sich 1978 mit der Wiederentdeckung des Stückes am Mannheimer Nationaltheater; zahlreiche Aufführungen an deutschen und österreichischen Theatern und 1982 sogar in Peking folgten. Die Kritiker des Stückes schieden sich in ihrer Meinung: Lobten die einen den Umgang mit dem Nationalsozialismus, störten sich andere an der Verharmlosung in der Posse.

1981 stellte sich der durchschlagende Erfolg durch die österreichische Verfilmung von Franz Antel ein, die bis heute bestimmend in der Rezeption des „Bockerers“ ist und sogar für den Oskar nominiert war. Der Stoff der Urfassung wird in dem Film teilweise erweitert und neue Figuren und Handlungsstränge werden aufgenommen. So wirft Hans im Film seinem Vater beispielsweise vor, sich nie um ihn gekümmert zu haben. Darüber hinaus ist der Film weniger als humoristische Posse inszeniert, vielmehr wird Bockerer als bewusster Widerständler dargestellt. Diese Verfilmung wird 1996, 2000 und 2003 von Franz Antel fortgesetzt. In den drei Filmen „Österreich ist frei“, „Die Brücke von Andau“ und „Prager Frühling“ wird die Geschichte des Fleischermeisters weitergesponnen von der Nachkriegszeit und den Kontakten zu den Alliierten über Bockerers Engagement in den Aufständen gegen die sowjetischen Machthaber in Ungarn und der Tschechoslowakei bis hin zum Jahr 1986, in dem Bockerer die Witwe Hermanns heiratet und eine Metzgerei in Prag eröffnet. Einzelne Figuren werden zwar aus dem eigentlichen Stück von Becher und Preses übernommen, aber viele weitere kommen hinzu, um die neuen Zeiten und Konflikte darzustellen.

Quellen:

Für Rezensionen: Becher-Nachlass im Deutschen Exilarchiv der DNB Frankfurt.



Bearbeitet von: Christiane Weber