Drei Kinder kommen durch die Welt (1949)

Aus Frühe Texte der Holocaust- und Lagerliteratur 1933 bis 1949
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Angaben zum Werk

Titel Drei Kinder kommen durch die Welt
Autor Pollatschek, Walther (1901-1975)
Genre Autobiografische Erzählung

Ausgaben des Werks

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Ausgabe von 1949, Berlin
Titel Drei Kinder kommen durch die Welt

Erscheinungsort Berlin
Erscheinungsjahr 1949

Verlegt von Alfred Kantorowicz Verlag
Gedruckt von Buck GmbH
Publiziert von Pollatschek, Walther (1901-1975)

Umfang 223 Seiten

Lizenz Lizenz-Nr. 433-5091/49-7014/49

Bibliotheksnachweise UBGI-icon.gif UB Gießen (Print-dnb-icon.gif gedruckte Ausgabe)


Zusammenfassung

Die Erzählung von Walther Pollatschek über den Zweiten Weltkrieg, den Nationalsozialismus und das Schicksal der eigenen deutsch-jüdischen Familie richtet sich an Kinder und ist inhaltlich und sprachlich durch den Versuch geprägt, kindgerecht zu erzählen. Anhand der Exil-Geschichte seiner eigenen drei Kinder, die als Identifikationsfiguren für die lesenden Kinder dienen sollen, soll eine wahre und wahrhaftige Geschichte erzählt werden. Diese wird durch zahlreiche Zeichnungen unterstützt. Die beiden älteren Kinder – Doris und Silvia –, so heißt es, sind „gerade so alt oder ungefähr so alt wie ihr“ (S. 7). Sie sind zehn und sieben Jahre alt.

Pollatschek beginnt seine Erzählung mit dem behüteten und harmonischen Leben von Doris und Silvia in der Heimatstadt Wuppertal, die der auktoriale Erzähler ausführlich vorstellt. Auch im weiteren Verlauf nehmen Reise-, Landschafts-, Natur- und Tierbeschreibungen einen großen Raum ein. Zunächst stellt er die übrige Familie der Kinder vor und verbindet diese Beschreibungen mit allgemeinen Aussagen. So hat etwa Onkel Winter nur ein Bein, da ihm das andere im Ersten Weltkrieg „abgeschossen“ (S. 12) wurde, was der auktoriale Erzähler kommentiert: „Wie schrecklich muß ein Krieg sein, wenn einem Menschen so etwas Schlimmes geschehen kann! Stellt euch nur vor, ihr könntet nicht mehr springen, nicht mehr wandern, ja, nicht einmal richtig spazieren gehen. […] Solche furchtbaren Dinge sind durch den Krieg auf die Welt gekommen. Er ist etwas Entsetzliches. Und man muß sich immer und immer bemühen, die bösen und dummen Menschen daran zu hindern, daß sie Kriege anfangen“ (S. 13).

Der Vater der Kinder, der mit dem Verfasser identisch ist, aber im Text vom Erzähler als ‚Vater‘ eingeführt wird, ist ein vielbeschäftigter Redakteur, der selten zu Hause ist. Die Mutter dagegen „hatte viel Zeit für ihre Kinder. Das Leben war schön. Doris und Silvia hatten alles, was sie brauchten und was sie sich wünschten“ (S. 16). Eines Tages jedoch – Jahreszahlen und Daten werden weitestgehend vermieden, stattdessen orientiert sich der Erzähler immer wieder am Alter der Kinder – wird der Vater aus politischen Gründen arbeitslos. Der Erzähler erklärt dies so: „Damals gab es plötzlich eine böse Politik in Deutschland. Die nahm Doris‘ und Silvias Vater die Arbeit weg“ (S. 17). Die Familie gerät in finanzielle Bedrängnis und muss schließlich zu den Großeltern nach Berlin ziehen. Da der Vater in Deutschland aufgrund der „Leute, die damals in Deutschland die böse Politik machten, […] die Nazis“ (S. 31), die „sogar viele, viele Menschen umgebracht“ (S. 31) haben, keine Möglichkeit mehr sieht, für den Lebensunterhalt der Familie sorgen zu können und aufgrund seiner politischen Einstellung, die jedoch nicht genauer erläutert wird, verhaftet wird, beschließen die Eltern nach seiner Freilassung, das Land zu verlassen.

Die beiden Mädchen sind sechs und drei Jahre alt, als die Familie nach Spanien emigriert. Die Reise dorthin wird ausführlich und sehr detailliert geschildert, etwa die Fahrt mit einem Ozeandampfer und die Begegnung mit Delphinen und anderen Tieren sowie ungewöhnlichen Pflanzen. Schließlich erreichen sie im November die Insel Mallorca. Das Leben auf der Insel wird als für die Kinder idyllisch, spannend und friedlich geschildert. Sie gehen zum Strand, lernen Spanisch, spielen mit anderen Kindern und lernen Natur und Tiere kennen. Der Vater arbeitet als Lehrer. Auch andere Mitglieder der Familie verlassen Deutschland nach und nach und emigrieren nach Mallorca, was den Kindern ermöglicht, Kontakt zu Großeltern, Tanten und Onkel aufrecht zu erhalten. Insgesamt wird also das Bild eines idyllischen und harmonischen Emigrantenlebens geschildert. Nach zwei Jahren – Doris ist nun acht und Silvia fünf Jahre alt – bricht der spanische Bürgerkrieg aus, den der Erzähler als „noch schlimmer“ (S. 99) als einen normalen Krieg bezeichnet. Er versucht die Hintergründe des Krieges mit ganz einfachen Worten zu erklären und beschreibt die Auswirkungen auf das Leben der Familie in Mallorca durch Versorgungsengpässe und Bombenabwürfe. Als der Bürgerkrieg Mallorca vollends erreicht, flieht die Familie in den Wald. Auf dem Wasser fahren Kriegsschiffe, man hört Kanonendonner, Fliegerbomben und Maschinengewehre. „Die Kinder waren so erregt, daß sie überhaupt nichts mehr spielen und nichts mehr tun mochten. Sie mußten immer daran denken, daß dort ganz in der Nähe jetzt Menschen auf andere Menschen schossen. Und sie mußten daran denken, daß vielleicht im nächsten Augenblick eine Kanone nach Cala Ratjada schießen und sie töten könnte. Oder, daß ein Flugzeug eine Bombe auf sie abwerfen könnte“ (S. 107). Nach dem Ende der Kämpfe und dem Sieg der Faschisten über die Regierungstruppen werden die Eltern der Kinder verhaftet, spanische Faschisten wollen den Vater erschießen. Nur durch den Einsatz von Menschen aus dem Dorf werden die Eltern verschont.

Mit einem Kriegsschiff wird die Familie über Valencia und Barcelona nach Marseille gebracht. In Frankreich kommen sie schließlich in dem kleinen Ort Saint Aygulf unter. Erneut muss der Vater eine Arbeit suchen, die Familie lebt unter ärmlichen Bedingungen. Die Kinder müssen Reisig sammeln, wie im Märchen. Hier bekommen die beiden Schwestern – sie sind nun neun und sechs Jahre alt – eine weitere Schwester, die Konstanze genannt wird. Nach weiteren vier Monaten ziehen sie erneut um, diesmal nach Appenzell in der Schweiz, wo die Großeltern inzwischen leben und wo der Vater hofft, Arbeit zu finden. Von hier aus kann man bis nach Deutschland sehen, aber „man konnte nicht hinübergehen. Sonst wären Mutter und Vater eingesperrt und vielleicht getötet worden. Und vielleicht hätte man sogar Doris und Silvia und Konstanze getötet“ (S. 151).

In der Schweiz muss die Familie erneut unter ärmlichen Verhältnissen leben, da der Vater von einem Berufsverbot betroffen ist. Aufgrund der schlechten Lebensbedingungen in der Schweiz plant die Familie, nach Chile auszuwandern, der Kriegsausbruch verhindert dies jedoch. Der Vater kümmert sich in der Schweiz um jüdische Flüchtlingskinder, die aus verschiedenen von den Nazis besetzten Ländern stammen. Immer wieder versucht der Erzähler, Empathie bei den jungen Lesern zu wecken: „Denkt nur einmal, wie das wäre, wenn ihr allein wäret, und es würde keiner für euch sorgen!“ (S. 207) Ein Kapitel widmet der Erzähler dem Krieg und der Erklärung, was ein Krieg ist: „Denn der Krieg geht schon die kleinen Kinder etwas an. Es gibt auf der ganzen Welt keinen Menschen, den der Krieg nichts anginge. Darum müßt ihr etwas davon wissen. So viel, wie ihr verstehen könnt“ (S. 184f.). Er würde auch lieber lauter lustige Sachen erzählen, heißt es weiter. Im Leben sei jedoch nicht alles lustig und Kinder müssten verstehen, warum es in der Welt jetzt so aussähe. Er erklärt, dass die Nazi-Regierung zuerst in Deutschland allein das Sagen haben wollte und dann in der ganzen Welt und bereit war, dafür Menschen ins Gefängnis zu stecken oder zu töten. Sie haben dafür Länder überfallen, Städte bombardiert, Häuser und Möbel zerstört und auch überall Menschen getötet: „Manche Menschen sind böse und freuen sich, wenn es anderen Menschen schlecht geht. Und viele Menschen sind dumm. Sie überlegen sich gar nicht, daß der Krieg etwas Böses ist, und daß das Soldatsein etwas Böses ist, wenn man nicht Soldat ist, um sein Land gegen böse Leute zu schützen“ (S. 189).

Ein weiteres Kapitel trägt die Überschrift „So war das mit den Juden“. Hier wird zum ersten Mal deutlich, dass die Mutter der Mädchen, die Großeltern mütterlicherseits sowie drei ihrer Onkel Juden sind. Der Erzähler erläutert, wo das jüdische Volk herkommt und dass dieses Volk die Bibel geschrieben habe. Er erklärt, dass die Nationalsozialisten die Juden für alles Elend in Deutschland verantwortlich machten und so legitimierten, dass man ihnen alles abnahm, was sie besaßen. „Und die Juden wurden in Lager gebracht. Die hießen Konzentrationslager. Da mußten sie noch mehr arbeiten und bekamen noch weniger zu essen. Und sie wurden geschlagen und gequält“ (S. 198 f.). Der Erzähler schildert, wie viele Juden vor Hunger starben oder einfach umgebracht wurden, auch alte Menschen und kleine Kinder. Ebenso erzählt er, dass die Großeltern und einige Onkel mütterlicherseits ins Konzentrationslager gebracht und dort getötet wurden. Er betont, dass die Unterschiede zwischen den Menschen nicht groß und nicht wichtig seien, aber es gebe dumme Leute, „die meinen, es wäre etwas ganz Besonderes, wenn man Deutscher ist oder Engländer oder Amerikaner“ (S. 197).

In einem eingeschobenen Teil, der die Erzählung zum Exil in der Schweiz unterbricht und mit der Überschrift „Nennt man das Zwischenwort?“ (S. 154) versehen ist, springt der Erzähler etwa neun Jahre voraus. Konstanze ist nun zehn Jahre alt, Doris neunzehn und Silvia sechzehn Jahre alt. Die Familie wohnt wieder in Deutschland in einer großen Stadt, die „früher einmal sehr, sehr schön“ (S. 155) war. „Aber dann haben die bösen Leute Krieg angefangen. Und in dem Krieg wurden so viele Häuser zerstört, daß in einer Menge von Straßen kein einziges Haus mehr steht. Das sieht sehr traurig aus“ (S. 155). Der Erzähler appelliert an die jungen Leser: „Alle großen Leute und auch schon die Kinder müssen etwas dafür tun, daß es in der Welt schöner wird, und daß es keinen Krieg mehr gibt, in dem Menschen getötet und Häuser zerstört werden“ (S. 155 f.). Des Weiteren erklärt der Erzähler an dieser Stelle auch, warum die Geschichte erst jetzt, nach so vielen Jahren, zu Ende geschrieben werden kann. Eine Geschichte müsse gedruckt werden, heißt es, man brauche Papier, einen Drucker, Buchbinder und Buchhändler sowie einen Verlag, der sich um alles kümmere. Der Vater habe jedoch in der Schweiz keine Druckgenehmigung für sein Buch bekommen, weil „in diesem Buch die Wahrheit über die Nazis und über Spanien gesagt ist“ (S. 157).


Biografie

Walther Pollatschek (geb. am 10. September 1901 in Neu-Isenburg, gest. am 1. März 1975 in Ost-Berlin) wurde als Sohn eines Ingenieurs geboren. Er studierte in Heidelberg, München und Frankfurt am Main Germanistik, Theater- und Musikgeschichte und schloss 1924 sein Studium mit der Promotion über „Hofmannsthal und die Bühne“ ab. Anschließend war er als Journalist tätig, bis er 1933 entlassen wurde. 1928 wurde die este Tochter Doris geboren, 1931 kam die zweite Tochter Silvia auf die Welt. 1934 zog die Familie nach Berlin, wo Pollatschek jedoch von der Gestapo verhaftet wurde. Nach seiner Entlassung emigierte die Familie zunächst nach Spanien, wo Pollatschek 1936 erneut vorübergehend verhaftet wurde. Die Familie emigrierte weiter nach Frankreich und schließlich 1937 in die Schweiz. Hier wurde im gliechen Jahr die jüngste Tochter Constanze geboren. Pollatschek war mit einem Arbeitsverbot belegt und engagierte sich im antifaschistischen Widerstand.

Nach Kriegsende kehrte Pollatschek mit seiner Familie nach Deutschland zurück, zunächst nach Frankfurt am Main, wo er Redakteur der „Frankfurter Rundschau“ war. 1947 veröffentlichte er sein Kinderbuch „Drei Kinder kommen durch die Welt“, 1948 ein weiteres Kinderbuch „Die Aufbaubande“. 1950 zog er nach Ost-Berlin, wo er zunächst als freischaffender Publizist tätig war und zwischen 1952 und 1970 das Friedrich-Wolf-Archiv der Akademie der Künste leitete. 1960 gab er die Werke Friedrich Wolfs sowie eine Biografie des Autors heraus.


Quellen:




Bearbeitet von: Charlotte Kitzinger