Ein Jude spricht für Deutschland (1949)

Aus Frühe Texte der Holocaust- und Lagerliteratur 1933 bis 1949
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Angaben zum Werk

Titel Ein Jude spricht für Deutschland
Autor Isenberg, Sally (1889-1961)
Genre Roman

Ausgaben des Werks

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Ausgabe von 1949, Frankfurt am Main
Titel Ein Jude spricht für Deutschland

Erscheinungsort Frankfurt am Main
Erscheinungsjahr 1949

Verlegt von K. Lüder
Gedruckt von Lembeck, Otto
Publiziert von Isenberg, Sally (1889-1961)
Umschlaggestaltung von Fried, Christian

Umfang 222 Seiten

Bibliotheksnachweise UBGI-icon.gif UB Gießen (Print-dnb-icon.gif gedruckte Ausgabe)
UBGI-icon.gif UB Gießen (Online-dnb-icon.gif elektronische Ausgabe)
DNB-icon.gif Deutsche Nationalbibliothek (Print-dnb-icon.gif gedruckte Ausgabe)

Zusammenfassung

In seinem Roman entwirft der Verfasser ein mehrstimmiges Plädoyer gegen die Zuweisung einer Kollektivschuld an die Deutschen wegen der Geschehnisse im Nationalsozialismus. Zunächst führt er das sich sehr eng verbundene Ehepaar Weber – die Harmonie und Zuneigung des Paares wird wiederholt und ausführlich explizit thematisiert und dargestellt – in die Geschichte ein. Karl Johannes Christian Weber ist Professor der Rechtswissenschaft an der Marburger Universität. Während des Nationalsozialismus war er aus Gründen, die nicht näher erläutert werden, bereits ab 1933 aus seinem Amt entlassen worden und ab 1939 für mehr als drei Jahre im Konzentrationslager inhaftiert, wo er gequält und misshandelt wurde. Der einzige Sohn, ein Fliegeroberleutnant, fiel – während sein Vater im KZ war – als Soldat an der Front.

Ausgelöst durch einen Zeitungsbericht im Jahr 1947, in dem der polnische Staatsanwalt Dr. Ignaz Kreuschke das gesamte deutsche Volk kollektiv für den Zweiten Weltkrieg und die nationalsozialistischen Verbrechen verantwortlich macht, richtet Weber fortan sein ganzes Bestreben darauf, die Unschuld des deutschen Volkes als Ganzes zu beweisen. Er erläutert zunächst seinen Studenten, dass es von allergrößter Bedeutung ist, die ganze Welt davon zu überzeugen, dass „zwischen den paar Millionen Nazis und der großen Masse der Reichsbevölkerung doch ein Unterschied bestand und besteht“ (S. 16). Eine Kollektivschuld könne schon deswegen nicht existieren, weil darunter auch Menschen wie er selbst fallen müssten und auch solche wie sein Sohn und „die Mehrzahl des deutschen Volkes“ (S. 36).

Als schließlich der Bruder eines früheren Dienstmädchens verhaftet und beschuldigt wird, während des Krieges einen amerikanischen Flieger umgebracht zu haben, übernimmt er unter großen Schwierigkeiten erfolgreich die Verteidigung des jungen Mannes. Er beweist dessen Unschuld und ‚Verführung‘ zum Nationalsozialismus 1942 durch das Komplott seiner angeblichen Verlobten und deren Geliebten, einem SS-Mann. Zu Hilfe kommt ihm dabei der Leiter des amerikanischen Hauptquartiers in Marburg, Hauptmann Norgan. Dieser stellt sich als Sohn von Webers ehemaligen besten Freund heraus, der aus Enttäuschung über das Verbot seiner Familie, eine von deutschen Christen adoptierte und getaufte Jüdin heiraten zu dürfen, 1912 in die USA ausgewandert war. Inzwischen ist er seit 1917 glücklich mit dieser verheiratet. Anhand der Problematik um die verbotene Heirat mit einer getauften Jüdin werden religiöse Aspekte und der Vorwand des religiösen Antisemitismus diskutiert.

Wie es der Zufall will, kommt Edgar Norgan seinen Sohn in Deutschland besuchen und die Freundschaft zwischen Norgan und Webers wird schnell wieder intensiv. Durch die Freundschaft seines Vaters sieht auch der junge Hauptmann Norgan die Deutschen mit einem Mal anders und ist bereit, sie differenzierter als bisher zu betrachten: „Er war außerordentlich tief ergriffen, ohne eigentlich zu wissen warum. Sah er heute zum ersten Mal Deutsche mit anderen Augen als bisher. Vielleicht dachte er an die Schlachten, die er mitgemacht hatte, in denen Deutsche und Amerikaner sich gegenseitig töteten ….. und nun: Sein eigener Vater in freundschaftlicher Umarmung mit einem Deutschen. Wer konnte es erklären? War dieser deutsche Professor wirklich ein Freund seines Vaters? Können Deutsche überhaupt Freunde sein? Sind Deutsche Tränen wert?“ (S. 49) Auch der alte Norgan hegte lange Zeit große Vorbehalte gegen Deutsche im Allgemeinen, lässt sich aber nun durch seinen Freund Weber umstimmen: „‚Karl, ich bin überzeugt, es gibt viele Millionen Deutsche, die so rechtschaffen und gütig sind wie Du …. Verallgemeinern, – wäre abwegig ….‘“ (S. 62).

Die Verzweiflung und Verbitterung, dass den Deutschen in der Welt pauschal und kollektiv Schuld zugesprochen wird, setzt Weber schließlich psychisch und physisch so schwer zu, dass er letztlich, – gegen den anfänglichen Widerstand seiner Frau, mit der er sonst immer einig ist – um seine Pensionierung bittet. Er will in die Politik gehen, um aktiv an einem Neuaufbau Deutschlands mitzuwirken. Er überzeugt sogar den Dekan seiner Fakultät von dieser Notwendigkeit. Gemeinsam reaktivieren sie den Regionalverband der Liga der Menschenrechte, die sie gemeinsam mit anderen vor dem Krieg führten. Nach einigen Mühen und Schwierigkeiten gelingt es ihnen, weitere Mitglieder ausfindig zu machen und eine Versammlung einzuberufen und ihr Anliegen durchzusetzen: „Unter dem Sammelwort ‚Kollektivschuld‘ rückt man uns auf den Leib. Jeder Deutsche ist somit als Verbrecher gebrandmarkt. Dagegen müssen wir uns zur Wehr setzen, wenn wir dem Begriff ‚Ehre‘ nicht untreu werden wollen …“ (S. 128).

Ihr Bestreben ist es, die Welt davon zu überzeugen, „daß die Majorität des deutschen Volkes nicht verantwortlich gemacht werden darf, für ‚Fehler‘, an denen ein größerer Teil der politischen Welt mehr Schuld trägt als die Mehrzahl der Reichsbevölkerung“ (S. 128). Schließlich werden weitere Zweigstellen der Liga in ganz Deutschland gegründet. Ein Gesuch über den Ligalandspräsidenten für Deutschland an den Hauptpräsidenten der Liga in London wird eingereicht, mit der Bitte um Beistand der Weltliga. Dem Antrag wird stattgegeben und eine Delegation nach Genf einbestellt, wo eine internationale Tagung über die Frage der Kollektivschuld der Deutschen entscheiden soll. Wie vor einem Schiedsgericht wird Anklage gegen das deutsche Volk erhoben, Ankläger wird der polnische Staatsanwalt Dr. Ignaz Kreuschke, stellvertretend für das deutsche Volk stehen die Vertreter der Marburger Liga, darunter Weber und der Dekan. Als Verteidiger des deutschen Volkes wird ausgerechnet der aus Deutschland emigrierte Jude Isaak Jehuda Loewenstein berufen. Nach einigem Zögern und Gewissensprüfungen stimmt dieser zu, die Verteidigung zu übernehmen.

Damit erklärt sich nun – nach mehr als zwei Dritteln des Textes – der Titel des Werks „Ein Jude spricht für Deutschland“. Loewenstein beginnt seine Abwägung mit einem Abriss der Verfolgungsgeschichte seiner Familie in Deutschland seit 1445 und macht somit deutlich, dass die Verfolgung von Juden kein neues Phänomen ist: „Also stelle ich fest, daß meine Familie seit mehr als fünfhundert Jahren ihres Glaubens wegen verfolgt wird“ (S. 153).  Dennoch, so resümiert er, wenn sich nun unter dem deutschen Volk auch einige Millionen Verbrecher befinden mögen, könne man dann das ganze Volk verantwortlich machen? „Dies hieße ja, nur das Rezept der teuflischen Antisemiten befolgen, die, wenn ein einziger Jude sich irgendetwas zuschulden kommen läßt, sofort alle Juden dafür haftbar machen“ (S. 155).

Unter großem öffentlichen und medialen Interesse beginnt die Verhandlung. Es werden zahlreiche Zeugen gehört, darunter viele Deutsche, die ihre Passivität, ihre Parteizugehörigkeit und ihre Beteiligung in der Wehrmacht oder SS größtenteils mit Angst vor Verfolgung und Strafe oder mit Befehlsnotstand begründen und rechtfertigen. Bekennende Nationalsozialisten finden sich darunter nur sehr vereinzelt. Ebenso werden Menschen aus deutschen Nachbarländern verhört. Herausgearbeitet wird, dass es im Wesentlichen die eigenen Kollaborateure in den jeweiligen Ländern waren, die nationalsozialistische Ziele und Grausamkeiten dort umsetzten. Nach dem Plädoyer der Anklage, das die Einzigartigkeit und Exklusivität der deutschen Schuld betont und die Verbrechen detailliert aufzählt, erscheint der Verteidiger Loewenstein im weißen Judenkleid: „Mit wohlüberlegter Absicht tat er das, denn ihm lag daran, in aller Öffentlichkeit kundzutun, daß er ein Jude sei und bleiben wollte“ (S. 190). Sein Plädoyer zielt darauf ab, dass nicht alle Bürger Deutschlands an den Naziverbrechen beteiligt waren, sondern größtenteils selbst unter Druck gesetzt und gefangen waren. Die Mehrheit der Deutschen habe weder Hitler noch den Krieg gewollt, führt er weiter aus, gewaltige Massen seien Hitler zwar gefolgt, es seien jedoch insgesamt nur etwa zwanzig Prozent gewesen. Viele seien lediglich Mitläufer gewesen und seien sicherlich auch jedem anderen Regime gefolgt. Vor allem, so sein Plädoyer, müsse man von Rache absehen, denn sie sei „eine schlechte Ratgeberin und eine nahe Verwandte der Dummheit“ (S.196). Ausführlich legt er die sozialpolitischen Gründe dar, die seiner Ansicht nach zum Entstehen des Nationalsozialismus beigetragen haben, um zum Fazit zu kommen: „So war die Partei der Reichszerstörer zum Leben gekommen: Die Linke spielte die Mutter, die Rechte den Vater und die Mitte versah Hebammendienste“ (S. 200). Der Verteidiger kommt zu dem Schluss: „Das Märchen von der Kollektivschuld des deutschen Volkes muss begraben werden. Es ist ein Lügengewebe – ein Hirngespinst!“ (S. 220)

Schließlich trifft der Schiedsgerichtspräsident seine Entscheidung. Er kommt zu dem Urteil, dass die gesamte politische Welt mitschuldig sei am Emporstieg Adolf Hitlers, dass also die Politiker, Künstler, Sportler, Diplomaten, Regierungen etc. seinen Aufstieg unterstützt und ermöglicht haben: „Wenn man aber, wie ich schon öfters sagte, Hitler als den größten Betrüger und Volksverführer bezeichnen darf, dem es gelang, fast alle ausländischen Regierungen zu überlisten, dann kann ich auf keinen Fall einsehen, warum der Durchschnittsbürger, wenn er ein Deutscher ist, gescheiter sein muß“ (S. 212f.). Er hebt die vielen Deutschen hervor, die gegen Hitler gekämpft und Verfolgten geholfen hätten, dass nicht alle so gehandelt hätten, sei „durch menschliche Schwäche, Angst, Erschrockenheit, Mutlosigkeit, Verwirrung, Verzweiflung und Gemütsschock“ (S. 215) bedingt gewesen. Schließlich spricht er das deutsche Volk von dem Verdacht der Kollektivschuld frei. Voll Pathos kommentiert der Erzähler: „Während des Choralgesanges – ‚Habe Dank, Du Meister der Geschicke‘ – hörte man deutliches Schluchzen weinender Männer und Frauen. In allen vier Zonen beteten die Gläubigen. So glücklich wie heute waren die Deutschen seit langer Zeit nicht mehr …“ (S. 222).

Nach der Verhandlung bittet Professor Weber Professor Loewenstein ergriffen, mit zurück in seine alte Heimat nach Deutschland gehen, aus der man ihn vertrieben habe. Löwenstein jedoch entscheidet sich zurück nach Palästina zu gehen, wo ebenfalls „eine Wiege von [ihm] stand“ (S. 222).

Während der Kern der Erzählung – die Verhandlung der Liga der Menschenrechte um die Kollektivschuld Deutschlands – relativ wenig Raum in der Erzählung einnimmt, bestimmen Alltagsdetails, Nebeninformationen und Schilderungen zwischenmenschlicher Begebenheiten den Großteil des Textes. Szenen des Zusammenlebens und der Routine des Paares Weber prägen vor allem den ersten Teil des Werks, er enthält zahlreiche, stellenweise von hohem Pathos getragene Reflexionen über die Ehe als Kollektiv und Gemeinschaft. Über weite Teile wird die Handlung zudem dialogisch getragen. Der Autor bemüht sich, durch eine wechselnde auktorial-personale Erzählhaltung ein persönliches Bild des Professors Weber entstehen zu lassen.

Generell wird bei der Beurteilung der Schuld der Deutschen scharf zwischen nationalsozialistischer Führung und SS auf der einen Seite sowie Wehrmacht und ‚normalem‘ Volk auf der anderen Seite unterschieden. Während die ersteren als Verführer und Verbrecher verurteilt werden, werden letztere allenfalls als Verführte und Unschuldige angesehen, die teilweise sogar selbst Opfer unglücklicher Umstände und dem Druck durch Familie und Öffentlichkeit waren. Der Tatsache, dass ausgerechnet ein Jude die Verteidigung der Deutschen übernimmt, kommt im Text eine Schlüsselfunktion zu und wird mehrfach betont und hervorgehoben. Auch das Cover des Werks verweist durch den Titel und einen Davidstern in der oberen rechten Bildhälfte auf die zentrale Bedeutung des jüdischen Verteidigers Loewenstein für den Text. Ebenso im Klappentext weist der Verlag – neben einigen Berichtigungen von Tipp- und Setzfehlern – bereits darauf hin, dass die eigentliche Verteidigung, um die es im Titel geht, auf Seite 190 des Werks beginnt.

Der Verfasser widmet den Text seiner „besten Kameradin“ (o. S.), seiner Frau. In einer Vorbemerkung, die aus New York im Sommer 1947 datiert, gibt er zudem an, dass das Buch die Absicht erfülle, „Frieden zu verankern und zu erhalten“ (o. S.). Für ewig verbannt sein sollte Rache und der Hass begraben, heißt es weiter.

Werkgeschichte

Offenbar war das Werk das erste belletristische Buch, das 1959 in die wissenschaftliche Spezialbibliothek der ‚Germanica Judaica‘ zur Geschichte des deutschsprachigen Judentums ab der Frühen Neuzeit eingearbeitet wurde.


Quelle:

  • Gelber, Mark H., Jakob Hessing und Robert Jütte (Hg.): Integration und Ausgrenzung: Studien zur deutsch-jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Tübingen 2009, S. 495.



Bearbeitet von: Charlotte Kitzinger