Gebändigte Dämonen (1946)

Aus Frühe Texte der Holocaust- und Lagerliteratur 1933 bis 1949
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Angaben zum Werk

Titel Gebändigte Dämonen
Autor Binder, Gerhart (1915-)
Genre Erinnerungsbericht

Ausgaben des Werks

Digitalisat in DIGISAM öffnen
Ausgabe von 1946, Stuttgart
Titel Gebändigte Dämonen

Erscheinungsort Stuttgart
Erscheinungsjahr 1946

Verlegt von Deutsche Verlags-Anstalt
Gedruckt von Druck der Deutschen Verlags-Anstalt
Publiziert von Binder, Gerhart (1915-)
Umschlaggestaltung von Kirbach, Hans Joachim

Umfang 44 Seiten

Bibliotheksnachweise UBGI-icon.gif UB Gießen (Print-dnb-icon.gif gedruckte Ausgabe)
UBGI-icon.gif UB Gießen (Online-dnb-icon.gif elektronische Ausgabe)

Zusammenfassung

Gerhart Binder geht es in seiner Darstellung der nationalsozialistischen Konzentrationslager vor allem – wie bereits der Untertitel ankündigt – darum, die Gewalt für immer zu überwinden. Er bezieht sich in seinen wenigen direkten Passagen über die Konzentrationslager dabei auf den Bericht eines anonym verbleibenden ausländischen Wissenschaftlers, Herrn van N., der zwischen 1942 und 1945 wegen eines kleinen Vergehens ein Vierteljahr im Konzentrationslager Dachau verbracht habe.

Binder beginnt seinen Text mit der atmosphärischen Schilderung eines durch ein Dorf im Allgäu ziehenden ‚Evakuierungsmarsches‘ von Konzentrationslagerhäftlingen: „Die Bauern tranken eben noch ihren Morgenkaffee; an einzelnen Häusern waren die Fenster noch dunkel. Da tappten, eingehüllt in eine Staubwolke, die das Dorf hindurch nicht wich, einander stützend, stumm, in zerlumpten Kleidern, Menschengestalten vorüber. Hunde umkreisten sie. SS-Leute hielten die Spitze und bildeten den Schluß; sie gingen mit schußbereiten Waffen“ (S. 5). Knapp außerhalb des Dorfes wird einer der Häftlinge erschossen als er vor Erschöpfung zusammenbricht. Die Dorfbewohner beerdigen den Mann: „Seit jenen Tagen stehen entlang dieser Straße die Kreuze“ (S. 6). Diese dienen als Mahnung für die Menschen, sich der „furchtbaren Wirklichkeit [zu] öffnen und in Gedanken den Leidensweg der unzähligen Deutschen und Angehörigen fremder Völker ab[zu]schreiten“ (ebd.). Die Menschen würden jedoch leicht vergessen und so würden auch die furchtbaren Begebenheiten schnell im Alltäglichen versinken, stellt Binder fest. Er stellt weiterhin Überlegungen zu den Voraussetzungen an, wie Gewalt überwunden und Willkür endgültig verbannt werden könne. Um das Gift des Nationalsozialismus für immer unwirksam zu machen, müsse man es „nicht nur äußerlich und in seinen Symptomen beseitigen“ (S. 8), sondern auch „aus unserem Inneren gerade dort ausschneiden, wo es im Geheimen weiterfressen könnte“ (ebd.). Zu diesem Zweck müsse man auch nach Kriegsende noch über die Willkürtaten des Nationalsozialismus reden. Dazu sei es notwendig, „einen unbefangenen Blick hinter die Stacheldrahtbezirke der Konzentrationslager zu werfen“ (ebd.), auch wenn es viele Deutschen leid seien, ein Wort über die Lager zu hören, da sie es schon so oft vernommen hätten.

In wenigen Sätzen stellt Binder in einem Rückblick das Wesen und die Funktion der Konzentrationslager innerhalb des NS-Regimes dar. Denn: „Vieles, was innerhalb ihrer Mauern sich zutrug, ist – gewiß in der äußeren Steigerung – bezeichnend für das Wesen dieses Regimes der Willkür“ (S. 11). Das Deutsche Reich selbst habe einem riesigen Konzentrationslager geglichen. In den KZ sei die Willkür zu einer Wissenschaft geworden und der Mensch so zu einer Nummer, „ein völlig berechenbarer Faktor“ (S. 14). In die generellen Überlegungen eingestreut sind immer wieder kurze Passagen zu den Erlebnissen von Herrn van N. in Dachau. So schildert Binder etwa, wie dieser ziemlich schnell nach dem erschöpfenden Transport feststellt, dass es der Wille der Unterdrücker ist, die Häftlinge stumpf und kraftlos zu machen. Davon ausgehend stellt er die Ideale der Nationalsozialisten dar, die ihre Weltanschauung zum Glauben erhoben haben: „Den neuen Glauben durfte kein Verstand und keine Kritik betasten. Sie glaubten an Adolf Hitler mit dem Fanatismus von Derwischen und hielten ihre Wahnüberzeugung für Religion, ja gerade für d i e deutsche Religion. Wer diesen Glauben bezweifelte, oder wer sich als lau erwies, sündigte gegen ihr Heiligstes“ (S. 20, Hervorhebung im Original). Binder stellt auch Überlegungen dazu an, wie die Konzentrationslager im Deutschland Goethes und Schillers Raum finden konnten und führt dabei die Ursachen zurück bis auf das Heilige Römische Reich, die Reichsgründung in Versailles 1871 und die Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg.

An anderer Stelle beschreibt Binder die Aufnahme von Herrn van N. als politischen Häftling im Lager und den „preußischen Kommißdrill“ (S. 25), der auch dort – in einer „häßliche[n] Verzerrung des Soldatischen“ (ebd.) – gegolten und sich etwa im Bettenbau gezeigt habe. In einer überfüllten Baracke wird van N. mit 300 Häftlingen zusammengepfercht und muss viele Arten von Peinigungen und Misshandlungen über sich ergehen lassen, die „den Körper ganz allmählich […] zerreiben und damit den Widerstand der Seele […] zermürben“ (S. 33).

An einer einzigen Stelle des Textes tritt der Autor persönlich in Erscheinung. Er berichtet von einem Erlebnis im Mai 1945, als er wenige Tage vor dem Zusammenbruch mit den letzten Fahrzeugen seiner Kompanie von Jugoslawien nach Kärnten fährt und sie kurz nach Überquerung des Loibl-Passes auf ein verlassenes KZ stoßen. Sie treffen auf zwei ehemalige langjährige Häftlinge in SS-Kleidung, die am Tag zuvor entlassen und in diese Uniformen gesteckt wurden. Die Kompanie nimmt die Häftlinge auf, gibt ihnen zu essen und trennt die SS-Zeichen von der Kleidung ab. „Ist eine schlimmere Verachtung alles Menschlichen denkbar als dieses Beispiel zeigt?“ (S. 43), fragt Kittel.

Die Konzentrationslager seien eine Probe, die nur bestanden werden könne, wenn der Glaube und die Bindung an Gott „Schild und Halt des Menschen“ (S. 38) seien. Der Mensch taumele von rechts nach links und könne nur im Göttlichen eine Lösung finden. Wann immer ein Regime an die Stelle des Menschenwerts einen Ersatz stelle, sei die Gefahr der Tyrannei nahe. Je ausschließlicher die Macht sei, desto weiter sei dem Dämonischen oder dem Teufel das Tor geöffnet: „Wir haben kein Recht, zu lächeln, wenn jemand vom ‚Teufel‘ spricht, ‚der sich aufmacht, die Welt zu verschlingen‘. Die Konzentrationslager haben es gezeigt, er ist auch heute eine Realität!“ (S. 36). Wie Herr van N. haben viele Geistliche im KZ Kraft und Trost aus heimlichen Gottesdiensten gezogen. „Wahrheit, Ehrfurcht und Liebe“ (S. 44) allein könnten die Dämonen überwinden, schließt Binder seine Ausführungen.



Bearbeitet von: Charlotte Kitzinger