In Deutschland zum Tode verurteilt (1945)

Aus Frühe Texte der Holocaust- und Lagerliteratur 1933 bis 1949
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Angaben zum Werk

Titel In Deutschland zum Tode verurteilt
Autor Stämpfli, Paul
Genre Erinnerungsbericht

Ausgaben des Werks

Ausgabe von 1945, New York,Zürich
Titel In Deutschland zum Tode verurteilt
Untertitel Tatsachenbericht eines Schweizers

Erscheinungsort New York,Zürich
Erscheinungsjahr 1945
Auflage 1

Verlegt von Europa Verlag
Gedruckt von Buchdruckerei Büchler & Co.
Publiziert von Stämpfli, Paul
Umschlaggestaltung von Bangerter, Rolf (1922-)

Umfang 151 Seiten plus Inhaltsverzeichnis
Abbildungen 8 Reproduktionen von offiziellen Originaldokumenten aus Stämpflis Haftzeit (u.a. Briefwechsel)

Bibliotheksnachweise UBGI-icon.gif UB Gießen (Print-dnb-icon.gif gedruckte Ausgabe)
DNB-icon.gif Deutsche Nationalbibliothek (Print-dnb-icon.gif gedruckte Ausgabe)
DNB-icon.gif Deutsche Nationalbibliothek (Online-dnb-icon.gif elektronische Ausgabe)


Zusammenfassung

Gut eineinhalb Jahre verbrachte der Schweizer Paul Stämpfli ab 1942 in mehreren Berliner Haftanstalten, in denen er täglich davon ausging, dass das über ihn verhängte Todesurteil vollstreckt werden könnte. In seinem Erinnerungsbericht schildert er nach seiner Entlassung nüchtern, fast protokollartig die einzelnen Stationen seiner Haftzeit und die Ungewissheit, in der er leben musste. Statt seiner eigenen Emotionen stellt er dabei seine Erlebnisse mit anderen ‚Todeskandidaten‘ und deren Geschichten in den Vordergrund. Immer wieder reflektiert er über den Verlust und das Leid der Mithäftlinge, „wenn sie die großen Lücken sahen, die durch die Henker an einem einzigen Tag in unsere Reihen gerissen wurden“ (S. 73).

Stämpfli geht in seinem Bericht streng chronologisch vor und schildert kleinschrittig seine Haftzeit: Die Festnahme in Berlin, seine Probleme mit dem deutschen Rechtsanwalt, den Prozess, bei dem das Urteil schon vorher feststeht, das Schwanken der Häftlinge zwischen Hoffen und Aufgeben, die Bombardierung des Gefängnisses Berlin-Plötzensee, der die Inhaftierten gefangen in ihren Zellen ausgeliefert sind, sowie seine Arbeit als Dolmetscher im Gefängnis. Er schließt mit seiner Heimkehr in die Schweiz per Zug und den befremdlichen Reaktionen der Deutschen: „Im Bahnhof bildeten sich größere Menschengruppen; die Leute zeigten mit Fingern auf uns“ (S. 137). Dabei beschreibt er in seinem Text genau die Zusammensetzung der Häftlingsgruppen, die Organisation der einzelnen Gefängnisse und der Tagesabläufe sowie die Haltung der verschiedenen Personen dazu.

Der Erinnerungsbericht ist in klarer Sprache verfasst, es gibt kaum literarische Figuren wie etwa Metaphern. Er nutzt allerdings häufig rhetorische Fragen sowie direkte Rede, um Gespräche wiederzugeben. Generell macht Stämpfli es dem Leser leicht, ihm zu folgen, da er chronologisch erzählt, prägnante Überschriften für die kurzen Kapitel wählt und den eigenen Schreibverlauf thematisiert (zum Beispiel „Nochmals muß ich hier auf die Brutalität des größten Teils der Wachtmannschaften zurückkommen“, S. 79). An einzelnen Stellen durchbricht er die Chronologie für Reflexionen über das Geschehen, die auf nachträglich erworbenem Wissen basieren: „Die Behandlung durch die Aufsichtspersonen fand ich damals brutal; doch meine späteren Erfahrungen lehrten mich, daß diese Beamten noch verhältnismäßig human und harmlos waren“ (S. 13). Auch die oft geäußerte Frage, wie viele seiner Mithäftlinge wohl noch leben (S. 29), und Formulierungen wie „Wie ich später erfuhr“ (S. 31) verdeutlichen, wie späteres Wissen in seinen Text mit einfließt.

Stämpfli beschreibt im Vorwort zu seinem Buch den von ihm gewählten Stil als „kur[z] und nüchter[n]“ (S. 5). Diesem Urteil schließt sich auch der Zensor an, der 1945 die Herausgabe in der Schweiz gestattete: „Der Verfasser erzählt sachlich seine Erlebnisse, er beschränkt sich auf das Schildern und enthält sich generalisierender Schlussfolgerungen. Die Dokumente in Photokopie belegen die Wahrheit seiner Aussagen über die wichtigsten Fakten seiner Gefangennahme“ (Schreiben an die Sektion Buchhandel der Abteilung Presse und Funkspruch, 15. Januar 1945, in: Schweizer Bundesarchiv, E4450/B.231 [Dossier Staempfli, Paul]). Die hier erwähnten Reproduktionen von acht Dokumenten wie beispielweise die Schreiben des Amtsgerichts Berlin (Zurückweisung des Haftentlassungsantrags) oder ein Schreiben von Stämpflis deutschem Rechtsanwalt, aus dem er auch im Text zitiert (S. 35), unterstreichen die Authentizität der Erlebnisse. Aus demselben Grund nennt Stämpfli sehr häufig genaue Daten, so zum Beispiel: „Am 28. März 1942, morgens 9 Uhr, fuhr unser Zug in den Potsdamer Bahnhof ein“ (S. 9). Es wird deutlich, wie wichtig es für den Autor ist, dass seine Leser ihm Glauben schenken, damit er ein Umdenken in ihnen bewirken kann: Die Aufklärung der Öffentlichkeit ist sein oberstes Ziel. An verschiedenen Stellen appelliert Stämpfli daher an seine Schweizer Leser, wobei er seinen sonst nüchternen Stil unterbricht: „Es ist mir oft unerklärlich, wie in meinem freien Heimatland heute noch so wenig Menschen Anteil an diesem entsetzlichen Geschehen rings um uns nehmen. Das Ausrotten tausender Menschen und ganzer Völkerschaften kann uns, darf uns als zivilisiertes Volk nicht gleichgültig lassen! Auch wir haben die Pflicht, dazu beizutragen, damit sich nie wieder in der Geschichte der Menschheit derartiges Menschenmorden wiederholen kann“ (S. 143). Seine Leser sollen verstehen, wie wichtig Freiheit für den Einzelnen und der Einsatz dafür ist; gerade die Schweiz lobt er als Land der Freiheit (S. 65).

Den genauen Angaben von Orten und Zeitpunkten steht das konträre Vorgehen bei der Beschreibung seiner Mithäftlinge gegenüber. Diese nennt er nicht beim Namen, sondern beschreibt sie durch ihre Herkunft oder ihren Beruf (zum Beispiel „ein älterer evangelischer Pfarrherr aus Berlin-Dahlem“ oder „ein uns Schweizern wohlbekannter deutscher Philosophie-Professor“, beide Zitate S. 16). Ein Großteil seiner Schilderungen ist ihnen und ihren Schicksalen gewidmet. Ohne Ausnahme beschreibt er seine Mithäftlinge – viele von ihnen tschechische Widerstandskämpfer oder ‚Fremdarbeiter‘ – als Kameraden im Leid, die heimatverbunden, mitfühlend, intelligent und moralisch überlegen seien; von der Gruppe spricht er kollektiv immer als „uns“ oder „wir alle“. In den deutschen Wachmännern sieht er Karrieristen, die durch Brutalität im NS-System aufsteigen wollen und sicher sind, niemals Rechenschaft für ihr Tun ablegen zu müssen. Das nationalsozialistische Weltbild wird ebenfalls deutlich, wenn er mitfühlend festhält, dass polnische oder jüdische Häftlinge sofort nach der Einlieferung hingerichtet wurden: „Diese armen Juden und Polen waren höchstens acht bis vierzehn Tage bei uns, bis sie unter das Fallbeil kamen“ (S. 72). Auch die ‚Schuldfrage‘ wird von Stämpfli mit deutlichen Worten beantwortet. Dass nicht nur Nationalsozialisten „an all diesen fürchterlichen Verbrechen schuld sind“ ist für ihn eindeutig: „Leider [hat] auch der Großteil der deutschen Nation diese Verbrechen gutgeheißen und unterstützt. Wäre das nicht der Fall gewesen, so hätten dies Verbrechen nicht in diesem Umfang geschehen können“ (beide Zitate S. 122) – so die einhellige Meinung der Inhaftierten. Keine Strafe wäre, so Stämpfli an anderer Stelle, groß genug, um die Verbrechen zu sühnen.

Stämpflis Haftzeit wird erschwert durch den besonderen psychologischen Druck, dass für ihn bereits ein Todesurteil unterschrieben war. Er lebt mit anderen zum Tode Verurteilten in der Haft zusammen, bis diese hingerichtet werden. Stämpfli wird Zeuge von bis zu 80 Hinrichtungen täglich, insgesamt seien in seiner 16-monatigen Haft 6.000 Mithäftlinge „an ihm vorbei den Weg zum Fallbeil gegangen“ (S. 150). Selbst diese Passagen schildert er zumeist sachlich gefasst und ohne emotionale Ausbrüche: Es wirkt „alles auf meinen seelischen Zustand niederdrückend“ (S. 17) oder auch „[d]as war nicht leicht, denn die Androhung der Todesstrafe hatte mir sehr zugesetzt“ (S. 51). Damit negiert er das Leid allerdings nicht, vielmehr beschreibt er oft, wie Menschen an den Haftbedingungen zerbrechen: „Aber noch mehr gab es völlig gebrochene und apathisch gewordene Menschen, von denen ich Abschied zu nehmen hatte. […] Für manche von ihnen war der Gang zum Schafott fast eine Erlösung von einer unendlich langen Qual und Bedrängnis“ (S. 89).


Biografie

Über den Schweizer Paul Stämpfli und sein Leben ist in der bisherigen Forschung nur wenig bekannt. Als Kaufmann reiste er 1942 nach Deutschland, wo er am 31. März in Berlin wegen angeblicher Spionage und Landesverrat verhaftet wurde. Nach Monaten der Untersuchungshaft im Alexander-Gefängnis, im Gefängnis Lehrter Straße und schließlich im Gefängnis Moabit wurde er im Zuchthaus Berlin-Plötzensee inhaftiert. Dort wartete er über ein Jahr auf die Vollstreckung des über ihn ausgesprochenen Todesurteils. Vermutlich rettete ihn die Intervention der Schweizer Botschaft in Berlin: Am 15. Oktober 1943 wurde er entlassen und mit einem Sammeltransport zurück in die Schweiz gebracht.


Werkgeschichte

Paul Stämpfli verfasste seine Erinnerungen im Laufe des Jahres 1944 auf Deutsch. Eventuell beruhen diese auf Notizen aus der Haftzeit, denn Stämpfli deutet in seinem Text an, dass es „Schriftstücke“ (S. 133) gab, die er im Gefängnis niedergeschrieben hat. Eine Übersetzung des Textes ins Französische durch André Chamot-Bolle wurde im selben Jahr vorgenommen; sie erschien 1945 unter dem Titel „Condamné à mort en Allemagne“. Über beide Fassungen wurden Gutachten für die Schweizer Sektion Buchhandel der Abteilung Presse und Funkspruch erstellt, die sich im Schweizerischen Bundesarchiv erhalten haben. Dr. Hans Zbinden, einer der Prüfer der französischen Ausgabe, der die Publikation in der Schweiz gestattete, schrieb in seinem „Zensurbefund“ am 15. Januar 1945: „Die Uebersetzung folgt in allen Teilen genau dem deutschen Text, und bringt in den Ausdrücken dessen Charakter getreu zur Geltung. Wenn auch das Werk für die deutsche Rechtsachtung ein vernichtendes Zeugnis ist und die Methoden in den Gefängnissen der Gestapo in ihrer Niedertracht vor Augen führen [sic!], besteht kein Anlass, das Werk zu verbieten.“ Besonders die vergleichbare ‚Harmlosigkeit‘ der Schilderungen erlaube die Publikation in der Schweiz: „Es wiederholt nur Dinge, die seit langem sattsam bekannt geworden sind und für die einwandfreie Zeugen in genügender Zahl vorhanden sind. […] Nachdem in unserer Presse die Brutalität deutscher Gestapo- und SS-Leute wiederholt und ausführlich geschildert worden sind […] erscheint die Publikation dieser relativ harmlosen Tatsachen zulässig.“ Alex Jullien, der zweite Prüfer, war in seinem Zensurbericht vom 11. Januar 1945 weniger positiv eingestellt: Der Text sei schlichtweg schlecht geschrieben und er bedauere die Drucklegung der deutschen Ausgabe. Da diese aber bereits autorisiert wurde, kann eine französische Ausgabe nicht mehr untersagt werden, lautet seine Entscheidung. So folgte schließlich auch die Drucklegung der Übersetzung in der Reihe „Collection Le beffroi“ (Lausanne); man konnte das Buch für 5,40 Franc erstehen. Stämpflis Erinnerungen wurden später nicht mehr aufgelegt – weder auf Deutsch noch auf Französisch.

Quellen:

  • Stämpfli, Paul: Condamné à mort en Allemagne. Lausanne 1945.
  • „Dossier Staempfli, Paul“. In: Schweizer Bundesarchiv BAR, Bestand: E4450, Aktenzeichen: B.231.



Bearbeitet von: Christiane Weber