Insel im Vaterland (1938)

Aus Frühe Texte der Holocaust- und Lagerliteratur 1933 bis 1949
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Angaben zum Werk

Titel Insel im Vaterland
Autor Wendt, Stephan (1909-?)
Genre Roman

Ausgaben des Werks

Ausgabe von 1938, New York,Zürich
Titel Insel im Vaterland

Erscheinungsort New York,Zürich
Erscheinungsjahr 1938

Verlegt von Verlag Oprecht

Publiziert von Wendt, Stephan (1909-?)
Umschlaggestaltung von Guignard, Roland (1917-2004)

Umfang 341 Seiten

Bibliotheksnachweise UBGI-icon.gif UB Gießen (Print-dnb-icon.gif gedruckte Ausgabe)
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Zusammenfassung

Stefan Wendts Roman beschreibt die Veränderungen vor und nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten im Jahr 1933. Anhand von zahlreichen miteinander verbundenen Figuren verschiedener gesellschaftlicher und politischer Gruppierungen zeigt er die durch den aufkommenden Nationalsozialismus entstehenden Konfliktlinien. Während er im ersten Teil des Romans die Zeit bis zum Wahlsieg der NSDAP schildert, steht im Zentrum des zweiten Teils, der nach der Machtergreifung spielt, die Entscheidung über den Umgang mit dem stark durch die NS-Presse angefeindeten jüdischen Schwiegersohn innerhalb der Industriellenfamilie Bode.

Der Roman handelt von der Entwicklung der Figuren im Umfeld des Großindustriellen Christian Friedrich Bode, die immer stärker durch die nationalsozialistische Politik beeinflusst werden. Während beispielsweise das selbstbewusste Familienoberhaupt daran zerbricht, dass alte Regelungen und Kontrollinstanzen sowie sein gewohnter Einfluss nichts mehr bewirken können, steigt der ehrgeizige Schwiegersohn Arthur Schölle, der sich bereits vor seiner Hochzeit mit der Tochter Eva aus kleinen Verhältnissen im Betrieb hochgearbeitet hat, immer mehr auf und kooperiert schließlich mit den Nationalsozialisten. Der Enkel Thomas schließt sich aus einer jugendlichen Faszination für Uniformen und Abenteuer der NS-Jugendbewegung an. Es wird deutlich, dass er unwissend ist und von den Verantwortlichen verführt und instrumentalisiert wird. Seine geschiedene Mutter Johanna verheimlicht seine Mitgliedschaft zunächst, da sie einen Eklat mit ihrem Vater fürchtet, der die Politik der Nationalsozialisten vehement ablehnt. Dies funktioniert jedoch spätestens dann nicht mehr, als der Enkel indoktriniert durch die NS-Bewegung ablehnt, mit seinem jüdischen Onkel am selben Tisch zu speisen.

Doch Wendt beschreibt nicht nur die engste Familie, sondern auch Freunde der Familie Bode. So wird der Staatsanwalt Walter von Ultz, ein alter Bekannter der Familie, immer stärker in seiner Arbeit behindert, wenn er sich für Klienten einsetzt, die gegen die NS-Willkür vorgehen möchten. Nach mehrmaligen Ermahnungen entscheidet er sich, seine Stelle aufzugeben und begeht schließlich Selbstmord: Unter den neuen politischen Bedingungen möchte er weder arbeiten noch weiterleben. Sein Vater hingegen hat sich in die Einsamkeit seines Gutes – die titelgebende „Insel im Vaterland“ – zurückgezogen, die es ihm ermöglicht, nicht „mit einer sonst völlig veränderten Umwelt in Berührung zu treten“ (S. 9).

Die antijüdischen Verfolgungsmaßnahmen nehmen im Laufe der Romanhandlung immer mehr zu. Sie sollen – so der Erzähler – die Macht der Partei sichern und den Unmut des Volkes auf eine bestimmte Gruppe lenken. Innerhalb der Familie Bode ist der assimiliert lebende jüdische Schwiegersohn Paul Frank betroffen, der eine Liebesehe mit der jüngsten Tochter Helene führt. Frank arbeitet nicht nur in der Forschungsabteilung der familieneigenen Chemiefirma, sondern auch als Professor an der städtischen Universität. Dort wird er Zeuge als ein 'Mob' zunächst seine Vorlesung stört und dann den jüdischen Studenten Jakob Simon zwingt, aus dem Fenster zu springen. Frank wird schließlich aus dem Universitätsdient entlassen. Einige Tage später wirft eine aufgebrachte, von Parteistellen organisierte Meute die Fensterscheiben im Haus der Familie Bode ein, um der in einer Hetzkampagne der Presse geforderten ‚Arisierung des Betriebs‘ – das heißt der Entlassung Franks – Nachdruck zu verleihen. Helene hält in all der Zeit zu ihrem Ehemann, es wird aber offenbar, wie sehr die Gewalt und die Verleumdung die Ehe belasten; zudem schämt sie sich für den Umgang ihrer Mitmenschen mit Frank. Letztendlich beschließt sie, das Land zu verlassen, da ein Leben in Deutschland für sie nicht vorstellbar ist: „[I]ch bin nicht in meinem Land, es ist nicht mehr unser Land. Was ist noch hier, was einem wert gewesen ist? Wofür man gelebt hat und woran man vielleicht mitgeschaffen hat. Ist das nicht alles vernichtet? Und was vielleicht noch geblieben ist, ist es nicht eigentlich auch schon tot?“ (S. 271) Den Höhepunkt des Romans stellt die Absetzung Franks in der Firma dar: Christian Friedrich Bode wehrt sich vehement gegen die von der NS-Presse geforderte Entlassung Franks und lehnt dessen Rücktrittsangebot, das dieser eingereicht hat um der Firma nicht zu schaden, brüsk ab. Den Nationalsozialist Wilhelm Weber, der bei ihm vorstellig wird, um die Entlassung zu fordern, wirft er zunächst noch aus dem Haus. Doch die Macht der NS-Ideologie wird immer deutlicher: „Was war es für ein Feind, der ungekannt in die Lande drang und in die Städte, in ihre Häuser und ihre Gehirne, der durch die Ritzen kam wie ein tödlicher Sand und sich festsetzte und in die Familien kam, um sie zu zersprengen, sich zwischen die Menschen drängte, die einander gut gewollt, in ihre Arbeitsstätten eintrat, um sie daraus zu vertreiben, und in ihre Stuben schlich, um ihnen den Frieden zu nehmen“ (S. 216), fragt sich Bode. Bei einer Sitzung, in der sich zahlreiche Mitglieder der entfernteren Familie treffen, die Anteile an der Firma besitzen, ist er jedoch zunächst nicht anwesend und Arthur Schölle übernimmt die Leitung. Bode plant, die Firma vorübergehend zu schließen, um zu zeigen, welch wirtschaftlicher Schaden durch die NS-Politik und ihr Vorgehen gegen jüdische Mitarbeiter entstehen kann; dies soll nun von den Anteilshaltern beschlossen werden. Doch Schölle intrigiert und tatsächlich wenden sich fast alle aus Angst um ihre Dividende von der seit Jahrzehnten geschätzten Meinung des Firmengründers ab und stimmen aus Eigennutz für eine Entlassung des ungeliebten jüdischen Familienmitglieds. Offen betont Schölle die neue Ausrichtung der Firma und die Feststellung, dass „auch dieses Unternehmen mit eingetreten sei in den Kreis des neuen, gewaltigen Aufbaues des Vaterlandes“ (S. 263). Die Erkenntnis, dass der Nationalsozialismus nicht mehr nur eine Einstellung von gewalttätigen Außenseitern, sondern nun auch in die Familie eingedrungen ist, führt zu einem schweren Herzanfall bei Bode, der seine endgültige Entmachtung besiegelt. Der nun folgende wirtschaftliche Ausschluss Franks steht symptomatisch für den Umgang mit allen Juden in Deutschland und deren Verdrängung aus dem öffentlichen Leben: Frank soll alle Patente abtreten und offiziell entlassen werden, jedoch inoffiziell in der Firma weiterarbeiten, dabei aber alle seine Mitspracherechte aufgeben. Frank weigert sich, das 'Angebot' anzunehmen und klagt stattdessen vor Gericht dagegen; er möchte – auch für den geschwächten Bode – kämpfen.

Wie die Verfolgungsmaßnahmen orthodox lebende Juden immer mehr bedrohen, thematisiert Wendt am Beispiel der Familie des Studenten Jakob Simon, der gezwungen wird aus dem Fenster zu springen. Der tief religiöse Vater Wolf Simon kann die Veränderungen in dem Land, in dem seine Familie seit Generationen lebt und für das viele Juden im Ersten Weltkrieg gestorben sind, kaum glauben: „So waren sie: sie kamen und schlugen. Was wollten sie? Was hatte man ihnen getan?“ (S. 160) Schließlich verlassen die Simons die Stadt, welche mit einer Parade feiert, dass sie ‚judenfrei‘ ist.

Wilhelm Weber, der Bruder der Geliebten Richard Bodes, spielt ebenfalls eine prominente Rolle im Roman. Auch in seiner Familie führt die jeweilige Ablehnung oder Befürwortung des Nationalsozialismus zum Bruch zwischen den Familienmitgliedern. An seinem Beispiel wird beschrieben, wie sich ein körperlich unterlegener, arbeitsloser Arbeiter aus ärmlichen Verhältnissen aus Prestigegründen der NS-Bewegung anschließt und sogar auf Parteibefehl einen Mord an seinem Bekannten Hauke begeht. Zu stark ist das Gefühl der Gemeinschaft für den ansonsten sozial isoliert lebenden Wilhelm: „Vor ihm, hinter ihm, neben ihm stampfte der Tritt der Gleichgeformten, Gleichgekleideten. Er sah die Stulpstiefel vor sich, die gleichen, wie er sie trug. […] Wilhelm Weber da und dort und vor sich und hinter sich, tausend Wilhelm Weber. Immer wieder Wilhelm Weber“ (S. 138). Nur der Wahlsieg der Partei verhindert schließlich seine Verhaftung wegen Mordes. Als er, von Reuegefühlen überwältigt, seiner Mutter den Mord gesteht, geht diese gemeinsam mit der Mutter des Mordopfers zur Polizei und zeigt ihren Sohn an. Verschiedene NS-Stellen unterbinden eine juristische Verfolgung und sorgen sogar dafür, dass die beiden Mütter zur Begutachtung in eine Psychiatrische Klinik gebracht werden, obwohl sie geistig gesund sind.

Ebenso wie Weber nutzt auch der Journalist Hartleb, dem bisher Aufstieg und finanzieller Erfolg versagt geblieben sind, den politischen Wechsel. Er ist zwar nicht von der NS-Politik überzeugt, doch er erkennt die Zeichen der Zeit. Er verfasst viel beachtete antisemitische Zeitungsartikel – mit der Hetzkampagne gegen Frank als Höhepunkt –, um endlich aufzusteigen. Die Presse erkennt er dabei als „Waffe“ (S. 145) gegen jene, die ihn zuvor vermeintlich oder tatsächlich unterdrückt haben. Sein Einfluss wird immer größer und Menschen, über die er schreibt, werden verfolgt. Ausführlich wird so im Roman die Rolle und der Einfluss der Presse im Nationalsozialismus und bei den Verfolgungsmaßnahmen reflektiert.

Die Bedeutung des Zeitpunkts der Machtergreifung der Nationalsozialisten macht Wendt durch die Zweiteilung seines Romans deutlich. So beschreibt das „erste Buch“ (o. S.) den Aufruhr und die politische Unsicherheit bis zum Wahlsieg, also jene „groß[e] Zeit“, in der man „nicht kalt bleiben“ (beide Zitate S. 10) konnte. Dem idyllischen Familienabendessen am Anfang steht die Zersplitterung der Familie am Ende des ‚zweiten Buches‘ gegenüber: „Nun saß man bei Tisch. Es war das gleiche Zimmer, der gleiche Kreis von Menschen – und dennoch schien heute ein Anderes darin zu sein, ein Fremdes, ein Lastendes“ (S. 210). Der Zeitenwechsel, der das Alte durch etwas Neues ersetzt, wird auch von mehreren Figuren – sowohl bedauernd als auch freudig – thematisiert.

Der Erzählstil des Buches ist sehr ausführlich. Detailliert werden Kleinigkeiten beschrieben und Nebenstränge verfolgt, zudem gibt es zahlreiche Metaphern und andere literarische Bilder. Selbst Speisefolgen beim Familienabendessen im Hause Bode werden genannt und über mehrere Seiten hinweg wird das Kennenlernen von Frank und Helene zu Jugendzeiten geschildert. Die Figuren werden facettenreich dargestellt und erhalten eine genaue, auf mehreren Seiten beschriebene Biografie bis in kleinste Details samt psychologischer Einblicke in die von den Figuren getroffenen Entscheidungen. Fast naturalistisch wird ihre Aussprache – je nach Herkunft und sozialer Stellung – gekennzeichnet. Der Roman wird so auch zu einem Gesellschaftsroman, der die Lebensbedingungen verschiedener sozialer Schichten thematisiert. Damit liefert Wendt eine mögliche Erklärung für den Aufstieg des Nationalsozialismus und seiner Wirkweisen, indem er die Entscheidung für die NS-Bewegung anhand einzelner Figuren erklärt. Gerade Figuren aus kleinen Verhältnissen, wie Wilhelm Weber, Arthur Schölle oder Joachim Hartleb, lassen sich begeistern, weil sie sich eine finanzielle und gesellschaftliche Besserstellung erhoffen und die Masse ihren Entscheidungen Nachdruck verleiht: „Im einzelnen weniger wert als nichts, hatten sie es gelernt, daß viele Nullen gemeinsam eine Zahl ergeben konnten: mächtig und gefürchtet“ (S. 145). Auffällig ist auch, dass Wendt keine konkreten Handlungsorte nennt, so wird der Eindruck erweckt, dass die Handlung überall in Deutschland spielen könnte. Selbst der Bezug zu Hitler bleibt vage, vielmehr spricht er immer von der Partei.


Biografie

Der Österreicher Stephan Wendt (geb. 27.10.1909 als Stefan Wendt, später auch Stephen) studierte zunächst Medizin in Wien, bevor er ab 1928 zum Schauspiel wechselte. 1934 zog er nach Großbritannien, wo er auch nach dem Zweiten Weltkrieg lebte. Er war Autor von Romanen und Theaterstücken sowie als Übersetzer unter anderem einer Goebbels-Biografie tätig.

Quelle:

  • Malm, Mike: „Wendt, Stephen“. In: Achnitz, Wolfgang u.a. (Hg.): Deutsches Literatur-Lexikon. Biographisch-bibliographisches Handbuch, Bd. 30. Berlin/New York 2014, S. 584.


Werkgeschichte

Das Buch „Insel im Vaterland“ erschien zunächst 1938 auf Deutsch im Schweizer Oprecht-Verlag. Im August 1939 wurde die von Maurice Rémon vorgenommene französische Übersetzung unter dem Titel „Lʼ île dans la patrie“ im Verlag Edition Albin Michel in Paris publiziert. Derselbe Verlag gab auch Bücher anderer prominenter NS-Gegner heraus, wie Stefan Lorant oder Willi Bredel. Änderungen am Text wurden dabei nicht vorgenommen. Die englische Fassung wurde von Trevor und Phyllis Blewitt übersetzt und 1940 bei Heinemann in London unter dem Titel „Still stands my house“ dem Lesepublikum vorgelegt.

Quelle:

  • Deutsche Nationalbibliothek. Online: 1032646861 (Stand: 28.12.2021)



Bearbeitet von: Christiane Weber