Junge Christen hinter Stacheldraht (1946)

Aus Frühe Texte der Holocaust- und Lagerliteratur 1933 bis 1949
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Angaben zum Werk

Titel Junge Christen hinter Stacheldraht.
Autor Schnetter, Oskar (1911-1998)
Genre Erinnerungsbericht

Ausgaben des Werks

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Ausgabe von 1946, Kassel
Titel Junge Christen hinter Stacheldraht. Erlebnisse im Gefangenenlager für Jugendliche.

Erscheinungsort Kassel
Erscheinungsjahr 1946

Publiziert von Schnetter, Oskar (1911-1998)

Umfang 27 Seiten

Bibliotheksnachweise UBGI-icon.gif UB Gießen (Print-dnb-icon.gif gedruckte Ausgabe)
UBGI-icon.gif UB Gießen (Online-dnb-icon.gif elektronische Ausgabe)
DNB-icon.gif Deutsche Nationalbibliothek (Print-dnb-icon.gif gedruckte Ausgabe)

Zusammenfassung

Im Erinnerungsbericht von Oskar Schnetter aus dem Gefangenenlager für Jugendliche werden in drei Kapiteln das Verhältnis zwischen den inhaftierten Jugendlichen und dem Seelsorger, deren Beziehung zu Gott sowie die religiösen Aktivitäten innerhalb des Lageralltags beschrieben.

Im ersten Kapitel, das den Titel „Das alte Bibelwort wird unter jungen Menschen neu gehört“ trägt und sich über sieben Seiten erstreckt, führt der Ich-Erzähler, der im gesamten Bericht namenslos bleibt, den Leser in die Situation im Lager ein. In Form einer Erzählung im Präsens beschreibt er die Regensituation im Lager, die zwar nicht selten vorkommt, jedoch immer wieder belastend und herausfordernd für die Lagerinsassen ist. Der homodiegetische Erzähler befindet sich in seinem „Zelt“ (S. 3), das „wie ein Kirchenraum“ wirkt und eine Vielzahl an „Bibeln, Gesangbücher und andere christliche Schriften“ enthält, denn der „Lesehunger der Jungen ist groß“ (ebd.). Im Laufe des Berichts, der sich durch die durchgängige Verwendung des Präsens auszeichnet, schildert der Erzähler eine Unterhaltung mit einem jungen Berliner Lagerinsassen, der ihn um eine Bibel bittet. Zu diesem Zeitpunkt lässt sich bereits erahnen, dass der Erzähler eine religiöse und verantwortungsvolle Funktion im Lager einnimmt. Die Unterhaltung wird in Form eines Dialoges in wörtlicher Rede wiedergegeben. Zu späterer Stunde sammeln sich über 100 Besucher für die tägliche „Abendandacht“ (S. 5) im Lager, um gemeinsam ein Abendlied, Psalme, den Dank und die Fürbitte zu teilen. Der Ich-Erzähler, der möglicherweise eine Pfarrerfunktion im Lager erfüllt, resümiert: „Diese Minuten am Abend gehören zu den schönsten des Tages“ (S. 6). Durch kleine Einträge in Form von Gedanken und Psalmen in den zu entleihenden Bücher erlangt der Erzähler einen tiefen Einblick in Gefühle und Gedanken der Lagerinsassen, was für ihn sehr wertvoll ist: „So sind mir diese Zettel zu Wertpapieren geworden“ (S. 7). Das erste Kapitel beschreibt außerdem den Lageralltag am nächsten Morgen, der mit der Morgenandacht der evangelischen Jugend beginnt, bevor diese sich Stunden intensiver „Bibelarbeit“ (S. 8) widmet, während die Katholiken den Altar für ihre Gebete und ihr Zusammensein nutzen.

Das zweite Kapitel mit dem Titel „Christus erobert junge Herzen“ umfasst 13 Seiten und rekonstruiert eine Vielzahl an Gesprächen, die der Ich-Erzähler im Laufe der Lagerzeit mit verschiedensten Gefangenen führt. Bereits zu Beginn des Kapitels zeigt sich der Erzähler als sorgsamer und hilfsbereiter Kamerad und Ansprechpartner, der gerne teilt und andere unterstützt: „So ist es mir immer eine Freude, wenn die ausgestreckten Hände gefüllt werden können. – Noch größer ist meine Freude über die Herzen, die sich noch mehr öffnen als die ausgestreckten Hände, die nach Erfüllung und Beantwortung schreien“ (S. 10). Auf formaler Ebene wird immer wieder zwischen indirekter Erzählweise durch die Erzählinstanz und wörtlicher Rede gewechselt, was neben der weiteren Verwendung des Präsens den Eindruck der Gegenwärtigkeit und Unmittelbarkeit verstärkt. Der Leser gewinnt so den Eindruck, der Bericht sei mehr als reine Erinnerungskonstruktion. Im weiteren Verlauf rekonstruiert der Mann, dem die Gefangenen offenbar stark vertrauen und ihre Herzen ausschütten, die Gespräche mit den Jugendlichen, in denen es um das Verhältnis zu Gott, zur Familie, um Zukunftsängste und Hoffnung geht. Immer wieder gibt der Erzähler und Vertraute den Insassen Ratschläge mit auf den Weg, so zum Beispiel, dass es wichtig ist, nicht auf (andere) Menschen, sondern auf Gott zu schauen, oder dass leeren Worten immer Taten folgen müssen. Neben religiösen Gesprächen führen sie auch andere, so zum Beispiel über Bildung und Berufe. An verschiedenen Stellen tritt der Erzähler aus der Erzählung heraus und wendet sich unmittelbar an einzelne Gefangene: „Ob Du inzwischen Deine Eltern getroffen und es ihnen bekannt hast?“ (S. 21) Diese Erzählweise macht die zeitliche Distanz zwischen der Handlung und dem Schreibzeitpunkt deutlich. Weiterhin kommt es an einigen Stellen zu einer erzählerischen Rahmung: „Unter den vielen anderen muß ich noch den einen Kameraden aus Oberschlesien herausgreifen“ (ebd.). Zum Ende des Kapitels wendet sich der Ich-Erzähler erneut an einen seiner damaligen Gesprächspartner und Vertrauten. „Wenn du diese Zeilen liest, dann hoffe ich Dich in solch einem Kreis. Ich warte auf Deinen ersten Kartengruß. Und wenn Du keinen Kreis gefunden hast, dann schreibe es mir. Wir wollen dann tiefes Gespräch fortsetzen, und ich will Dir gerne weiterhelfen, mit der Jugend der Bibel Deinen Weg zu gehen“ (S. 22). Dieses Spiel mit den Erzählebenen und unterschiedlichen Arten der Inhaltsdarstellung zeigt die Komplexität des Erinnerungsberichts.

Das letzte Kapitel mit dem Titel „Die Kirche – anders gesehen“ erstreckt sich über fünf Seiten und vermittelt dem Leser das Erleben des Ich-Erzählers aus seiner eigenen handelnden Perspektive sowie seine Ansichten über die Kirche. Zum ersten Mal in der Erzählung erfährt der Leser etwas mehr über den Ich-Erzähler, der Informationen zu seiner Person darlegt. „Die Binde am linken Arm – mit dem violetten Streifen, der Kirchenfarbe – verrät was ich bin: Camp-Seelsorger“ (S. 23). Diese Tatsache verleiht dem Mann eine Art „Zauberwirkung“ (ebd.), er wird überall durchgelassen und nicht angehalten und hat Zugang zu allen anderen Camps. Seine Tätigkeit umfasst das Führen langer, intensiver Gespräche, sei es mit den Gefangenen, die ihm seine Probleme anvertrauen, oder mit Lagerpolizisten. Der durchgängige im Präsens gehaltene Bericht wird gerahmt von Erzählerkommentaren, in denen die Distanz zwischen dem Erleben und dem Wiedergeben deutlich wird. Der Camp-Seelsorger erklärt, dass das äußere Bild, das die meisten Menschen von der Kirche haben, nicht mit dem inneren, wahren Bild und der Realität übereinstimme und dass es immer wichtig ist, sich sein eigenes Bild zu machen. Zum Ende des Berichtes rekonstruiert der Ich-Erzähler ein letztes Zusammentreffen mit einem Kameraden, der entlassen wird. „Von einem Jungen muss ich hier am Ende des Büchleins noch kurz erzählen“ (S. 26). Der Kamerad erklärt dem Seelsorger: „Trotzdem es jetzt in die Freiheit und in die Heimat geht, muß ich sagen, es ist schade, daß ich heute schon weg muß. Ich hatte mich doch so auf die Jugendstunde heute und morgen gefreut. Ich wäre gerne noch einige Tage geblieben“ (S. 27). Abschließend resümiert und kommentiert der Ich-Erzähler diese ihn prägende Situation mit den Worten „Und das gibt es bei uns hinter Stacheldraht.“ (ebd.)


Biografie

Oskar Schnetter war Kriegsgefangenenseelsorger.




Bearbeitet von: Julia Füg