Kontakte (1948)

Aus Frühe Texte der Holocaust- und Lagerliteratur 1933 bis 1949
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Angaben zum Werk

Titel Kontakte
Autor Mühr, Alfred (1903-1981)
Genre Erzählungen

Ausgaben des Werks

Digitalisat in DIGISAM öffnen
Ausgabe von 1948, München
Titel Kontakte

Erscheinungsort München
Erscheinungsjahr 1948
Auflage 1.-5. Tausend

Gedruckt von Schnell & Steiner
Publiziert von Mühr, Alfred (1903-1981)
Umschlaggestaltung von Erich Etzold

Umfang 154 Seiten

Lizenz Lizenz Nr. US-E-153 der Nachrichtenkontrolle der Militärregierung (Dr. Hugo Schnell / Dr. Johannes Steiner)

Bibliotheksnachweise UBGI-icon.gif UB Gießen (Print-dnb-icon.gif gedruckte Ausgabe)
UBGI-icon.gif UB Gießen (Online-dnb-icon.gif elektronische Ausgabe)
DNB-icon.gif Deutsche Nationalbibliothek (Print-dnb-icon.gif gedruckte Ausgabe)

Zusammenfassung

In der Erzählung „Kontakte“ schildert Alfred Mühr „gleichnishaft“ (o. S.), wie es im Anhang des Textes heißt, einen Ausschnitt aus der Geschichte des Pater Victor Dillard, dem die Erzählung auch gewidmet ist. Der Franzose Dillard habe sich 1940 als freiwilliger Arbeiter nach Deutschland gemeldet, um unter den französischen Zwangsarbeitern in Deutschland seelsorgerisch tätig sein zu können, heißt es weiter. Im Herbst 1943 wurde er als Elektriker den Reparaturwerkstätten einer großen Fabrik in Wuppertal zugewiesen und arbeitete dort fünf Monate lang unter falschem Namen unter den deportierten Franzosen und übrigen ausländischen Zwangsarbeitern. Hier beginnt auch die Erzählung; sie endet schließlich mit der Denunzierung und Verhaftung Dillards im April 1944. Sein weiteres Schicksal, die Deportation in das Konzentrationslager Dachau im November 1944, wo er schließlich im Januar 1945 starb, ist nicht mehr Teil der Erzählung.

Gleich zu Beginn der Erzählung, die auktorial und über weite Teile auch dialogisch vermittelt wird, wird der Protagonist als zunächst noch nicht namentlich benannter Elektriker und französischer Fremdarbeiter eingeführt, der bei der Arbeit Hilfe von seinen Kollegen benötigt, um nicht aufzufallen. Ort und Umstände der dort arbeitenden Menschen bleiben zunächst vage, angedeutet wird jedoch, dass die dort arbeitenden Fremdarbeiter – darunter auch jüdische Frauen und Mädchen, offenbar immer wieder verschwinden und ausgetauscht werden. Bewacht werden sie von Männern in schwarzen Uniformen. Erst nach und nach wird klar, dass die Handlung sich 1943 in Deutschland abspielt und der Protagonist, der sich seit November 1942 unter dem Namen Gaillard als Elektriker ausgibt, in Wahrheit ein 46-jähriger Pater aus Frankreich ist, der sich freiwillig zur Arbeit nach Deutschland gemeldet hat und unter seinen französischen Kameraden Seelsorge betreibt und sich sowie sich in anderen Belangen um sie kümmert. Daher wird er von den Kameraden schlicht „Doktor“ genannt. Wie schon mehrfach zuvor – so wird durch einige Andeutungen klar – wird er nun erneut zu einem Verhör in das „Hauptbüro der politischen Überwachung“ (S. 12) bestellt. Der Betriebsleiter warnt ihn davor, seine Landsleute gegen die Deutschen einzunehmen – denn „dann wehren wir uns. Das ist unser Recht, wo Sie Unrecht haben, Pater Victor“ (S. 18). In dem sich entwickelnden Gespräch zwischen Betriebsleiter und Pater fordert der Pater diesen schließlich auf, von seinem Posten zurückzutreten, um sich selbst zu helfen und „nicht tiefer mitschuldig zu werden“ (S. 25). Erstaunt über den Mut und die offene Rede des Paters fragt der Betriebsleiter, wo man denn hinkäme, wenn jeder eine solche Sprache riskieren würde. „Zur Vernunft“ (S. 27), antwortet der Pater, woraufhin der Betriebsleiter entgegnet: „Wann hat die Vernunft jemals die Welt regiert? Nun sagen sie mal selbst. Sie stellen sich ein romantisches Paradies vor mit Frieden, Wahrheit und Gerechtigkeit und all den anderen Begriffen für unverbesserliche Idealisten. Sie werden sich dabei noch um den Kopf reden“ (S. 27). Gaillard gibt im Gespräch ebenfalls zu erkennen, dass er um die Transporte weiß, um die Menschen, die Frauen und Kranken, Kinder und Halbwüchsigen, die verschleppt werden. Es gelingt ihm jedoch nicht, den Betriebsleiter vom Unrecht Deutschlands zu überzeugen.

Im weiteren Verlauf der Erzählung treten viele verschiedene Personen an den Pater heran, die seiner Hilfe bedürfen oder Rat von ihm erhoffen. Der Pater pflegt zahlreiche ‚Kontakte‘ zu den unterschiedlichsten Menschen, wie auch bereits der Titel ausdrückt. Auch wenn ihn zwischendurch die Kraft und Energie verlässt und es ihm schwerfällt, sich zu besinnen und Gedanken zu fassen, setzt er sich unermüdlich für diese Menschen ein.

Der Franzose Pierre etwa leidet körperlich und seelisch schwer. Der Pater organisiert für ihn einen Arztbesuch, in der Hoffnung, dass er für arbeitsuntauglich erklärt und nach Hause geschickt wird. Auch ein deutscher Abteilungsleiter sucht den Pater auf, der verzweifelt über die „Abholkommandos“ (S. 54) ist und darüber, dass sein jüdischer Freund, der „das Deutschtum [liebte], er liebte unsere Dichter“ (S. 54), mit seiner Frau und den Kindern deportiert wurde. Er will vom Pater wissen, was Gott dazu sage, wenn die Menschen schon schwiegen. Er verstehe und fühle Gott nicht mehr. Der Pater erwidert, man müsse sich im Labyrinth der Erde zurechtfinden und dem Ungewöhnlichen einen höheren Sinn abgewinnen. „Unsere Rätsel sind Gottes Weisheit, lernte ich in meiner Jugend“ (S. 56). Im Luftschutzraum, wo alle Nationen zusammentreffen, bricht eine junge polnische Frau zusammen. Der Pater, der sich um sie kümmert, erfährt, dass sie schwanger ist von einem Deutschen und völlig verzweifelt. Dem Pater gelingt es jedoch, sie davon zu überzeugen, dass das Kind kein Kind der Sünde, sondern der Liebe ist, auch wenn es vom Feind ist. Die Liebe, die sie zu dem Vater des Kindes fühle, sei die Hoffnung für alles, so der Pater. „Für dein Kind. Für dich. Für uns. Wir müssen unsere Feinde lieben, sonst bleiben sie die unerkannten Brüder“ (S. 82).

Während ihn viele Menschen als Seelentröster und moralische Instanz sehen, schlägt ihm andererseits auch Misstrauen entgegen, einige halten ihn sogar für einen Agenten. Wieder andere vermuten, dass er zu einer organisierten Widerstandsbewegung gehört. So etwa der jüdische Deutsche Hirsch, der den Pater inständig bittet, mitmachen zu dürfen und zunächst kaum glauben mag, dass der Pater „ganz allein“ (S. 93) ist, wie er bekennt. Das Leben in Deutschland sei härter als er angenommen habe, erklärt er Hirsch. Die Arbeiter sehnten sich nach Ruhe und viele hätten nicht einmal die Kraft, sich sonntags anzuziehen und auszugehen.

Erneut wird der Pater zum Verhör bestellt. Diesmal erwartet ihn jedoch nur die Chefsekretärin. Bald wird klar, dass sie ihm wohlgesonnen ist und ihn warnen möchte, da er bereits mehrfach anonym denunziert und verraten wurde – auch von seinen eigenen Landsleuten. Der Pater möchte jedoch weder die Briefe lesen, die die Chefsekretärin zurückgehalten hat, noch irgendetwas tun, um herauszufinden, wer ihn denunziert hat. „‘Ich kenne die Franzosen‘, sagte der Pater einfach. ‚Ich bin auch ihrer Mutter Kind, mit allem, was gut und was falsch ist. Ich liebe sie auch in der Verirrung, denn sie leiden‘“ (S. 108).

In der Nacht erscheint plötzlich ein unbekannter Pariser am Bett des Paters, der diesen mit zahlreichen Fragen etwa zu Krieg, Schuld, Kirche, Gott und Frieden, aber auch zu persönlichen Dingen konfrontiert. Der Pater bekennt sich klar zu Frieden, der Kirche und Gott. Auf die Frage, warum die Kirche während des Krieges schweige, antwortet er: „‚Sie schweigt nicht. Sie tröstet‘“ (S. 118). Auf die Frage, ob er als Priester oder als Arbeiter in Deutschland sei, antwortet er: „‚Beides‘“ (S. 120). Er wolle an der Seite der Arbeiterschaft stehen und das Leiden der französischen Arbeiter mildern. Wenn die Priester an der schweren Prüfung der Arbeiterklasse, deportiert zu werden, nicht teilhätten, würden ihnen die Arbeiter später vorwerfen, sie fallen gelassen zu haben und sie würden diese nicht mehr erreichen können.

Als die Chefsekretärin von der bevorstehenden Verhaftung des Paters erfährt, unternimmt sie einen mutigen und verzweifelten Versuch, ihn zu warnen und zu retten, indem sie sich selbst ins Lager begibt. Der Pater jedoch weigert sich zu fliehen. Er müsse seinen Weg gehen, erklärt er Hirsch. „Ich kann nicht vor mir selber fliehen“ (S. 138). Durch Gott werde er auch die Kraft haben, in die Haft zu gehen.

Die Erzählung endet nach der Verhaftung des Paters durch die SS in der Gefängniszelle. Noch einmal erhält der Pater Besuch von zwei seiner Vertrauten aus dem Lager – dem Franzosen Gascogner und Hirsch. Ihnen vertraut er an, dass er im Gefängnis schreibe – „über die Ehre, Arbeiter zu sein. Über das, was ich unter Euch erlebt und für Euch auszusagen habe“ (S. 149). Er steckt Gascogner unbemerkt einen Brief zu, den dieser später findet und zusammen mit Hirsch liest. Darin heißt es unter anderem: „In Wirklichkeit war dies mein Gedanke: derweil anderthalb Millionen unserer schönsten Jugend nach Deutschland verschleppt wurden, hatte ich nicht das Recht, ruhig am Kaminfeuer sitzen zu bleiben und Predigten für alte, fromme Frauen niederzuschreiben“ (S. 152). Das Ideal von Christus verlange von den allen Christen „wahren Edelmut, der bis zur Selbstaufopferung geht“ (S. 153).


Biografie

Alfred Fritz Max Mühr, geb. am 16. Januar 1903 in Berlin, gest. am 11. Dezember 1981 in Zusmarshausen, auch bekannt unter dem Pseudonym Friedrich Gontard, wurde als Sohn eines preußischen Amtmanns geboren. Die Mutter war Tochter eines Schlossers.

Mühr besuchte das Reform-Realgymnasium in Berlin, schaffte jedoch das Abitur nicht. Nach dem Volontariat wurde er 1924 Feuilletonredakteur bei der „Deutschen Zeitung“.

Als rechtsgerichteter Theater- und Kunstkritiker bemängelte er das Fehlen eines Theaters der Rechtsgeistigen und warf dem etablierten Bürgertum ‚Kulturbankrott‘ vor. In Bezug auf eine Inszenierung von Erwin Piscator prägte er den Begriff des ‚Kulturbolschewismus‘. Vom Nationalsozialismus, dem er nahestand, erhoffte er sich auch eine neue Kulturpolitik und kulturelle Blüte.

1934 wurde er mit nationalsozialistischer Unterstützung Schauspieldirektor und stellvertretender Generalintendant der preußischen Staatstheater. Er war zudem Dozent an der zugehörigen Schauspielschule, wo er auch enger Mitarbeiter und ‚rechte Hand‘ von Gustaf Gründgens war. Außerdem schrieb er Aufsätze und veröffentliche Bücher und Hörspiele. 1937 war er am Film „Zitadelle von Warschau“ beteiligt. Aufgrund seiner nationalsozialistischen Vergangenheit lebte er nach 1945 zurückgezogen in Bayern. Er betätigte sich weiter als Autor und schrieb Novellen, Romane, Jugend- und Sachbücher, darunter auch Monographien über Werner Krauß und Gustaf Gründgens. Unter Pseudonym schrieb er auch einige antikirchliche Schriften.

Quellen:


Werkgeschichte

Alfred Mühr verwies am 12. März 1951 in einem Brief an den Bundespräsidenten Theodor Heuss unter anderem auf seine Erzählung Kontakte. Bezugnehmend auf eine Aussage Heuss‘ zur „endlosen Verherrlichung von Nazigrößen“ (S. 160) in der Presse, schrieb Mühr, er habe „nach 1945 andere Schatten beschworen. Das Schicksal des französischen Arbeiterpaters Viktor Dillard. Das Schicksal eines deutschen Pastors im französischen Kriegsgefangenenlager. Schicksal und Anteil der deutschen Juden in unserm Kulturleben“ (S. 161). Weiter beklagt er sich jedoch darüber, dass die „Beschwörung dieser Schatten […] allerdings in der Öffentlichkeit keinen Wirbel“ (S. 161) verursacht habe. Die Verleger reagierten schwer und die große Presse nehme von den erschienenen Büchern wenig Notiz.

Quelle:

  • Werner, Wolfram (Hg.): Theodor Heuss. Hochverehrter Herr Bundespräsident! Der Briefwechsel mit der Bevölkerung 1949-1959. Berlin/New York 2010, S. 160-162.



Bearbeitet von: Charlotte Kitzinger