Nacht über Österreich (1945)

Aus Frühe Texte der Holocaust- und Lagerliteratur 1933 bis 1949
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Angaben zum Werk

Titel Nacht über Österreich
Autor Kittel, Franz (1914-?)
Genre Erinnerungsbericht

Ausgaben des Werks

Ausgabe von 1945, Wien
Titel Nacht über Österreich

Erscheinungsort Wien
Erscheinungsjahr 1945

Verlegt von Titan Verlag
Gedruckt von Huber & Lerner
Publiziert von Kittel, Franz (1914-?)

Umfang 92 Seiten

Bibliotheksnachweise UBGI-icon.gif UB Gießen (Print-dnb-icon.gif gedruckte Ausgabe)
DNB-icon.gif Deutsche Nationalbibliothek (Print-dnb-icon.gif gedruckte Ausgabe)


Zusammenfassung

In seinen Aufzeichnungen widmet sich der Sozialist Franz Kittel weniger seinem persönlichen Schicksal als Verfolgter durch die Nationalsozialisten und politischer Häftling des Konzentrationslagers Dachau, als vielmehr den außen- und innenpolitischen Entwicklungen sowie gesellschaftlichen Bedingungen, die den Aufstieg Hitlers in Deutschland möglich machen und schließlich im Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich resultieren. Kittel sieht sich dabei als demokratischer Sozialist, österreichischer Patriot, überzeugter Christ und Kriegsgegner.

Ausführlich zitiert er sowohl prominente, als auch unbekannte Menschen der Zeitgeschichte, die in Österreich als „Warner vor der Katastrophe“ (S. 14) auftreten, wie etwa Dr. Alfred Missong oder Ernst Karl Winters, dessen „aufrechten und mutigen Worte“ (S. 15) wohl geeignet gewesen wären, „eine neue Richtung der gesamten österreichischen Politik zu geben und sie vor der Katastrophe zu bewahren“ (ebd.). Auch die Werke von Karl Marx haben für den Autor eine große Bedeutung und werden an vielen Stellen des Textes auszugsweise präsentiert.

Statt Österreichs Einheit zu wahren, sei durch österreichische Verräter „jene antiösterreichische und anschlußfreundliche Stimmung, die den nationalsozialistischen Führern den Weg in die Staatsverwaltung ebnete“ (S. 19), erzielt worden. So habe sich am Abend des 11. März 1938 die Nacht über dieses Land gesenkt, „in dem sieben Jahre hindurch nicht mehr die Sonne scheinen sollte“ (ebd.). Diese Nacht habe begonnen wie eine Faschingsnacht, in der Männer, Frauen, Greise und Kinder wie berauscht, „brüllend, singend, fahnenschwenkend in die grausame Nacht“ (S. 21) ziehen. Jedem wahren Österreicher, der der Massenstimmung nicht erlegen sei, habe es in der Kehle gewürgt und sich das Herz zusammengepresst angesichts der Verblendung des Volkes.

Zu diesen ‚wahren Österreichern‘ zählt sich auch Kittel. Sein politisches Engagement führt im Juni 1938 zur Inhaftierung zunächst im Wiener Gefängnis und schließlich im KZ Dachau. Seinen – verhältnismäßig kurzen – Bericht über seine KZ-Haft ergänzt er um allgemeine Beobachtungen zu den oft banalen und willkürlichen Gründen, die den „Weg ins KZ“ (S. 26) bedeuten können. Grund für seine eigene Verhaftung sei, dass er die Nationalsozialisten in einem Zeitungsartikel „die braunen Horden“ (S. 29) genannt habe. Ausführlich beschreibt Kittel den beengten Transport mit dem Zug nach Dachau, den bereits einige Menschen nicht überleben. Mit dem Eintritt in das Lager findet jede Menschenwürde ihr Ende. In wenigen Sätzen beschreibt Kittel die Schikanen und Foltermethoden der SS, die alle der Demütigung, Entmenschlichung und dem Brechen des Widerstandswillens der Häftlinge dienen. Kittel wird wegen schwerer Kurzsichtigkeit als Invalide beim Straßenreinigungskommando eingesetzt. Am 23. Dezember 1938 wird er mit diversen Auflagen wieder aus dem KZ entlassen, so dass das „Gefühl des ‚Ständig-verfolgt-seins‘“ (S. 44) für ihn auch danach weiterbesteht.

Ausführlich widmet sich Kittel dem Kriegsbeginn am 1. September 1939 und dem weiteren Kriegsverlauf bis zur Niederschlagung Deutschlands 1945 und der Zerstörung Wiens während der letzten Kampfhandlungen des Krieges. Er zählt unter anderem Namen der Unterstützer Hitlers sowie die zahlreichen landeseigenen Verbände und Organisationen in den verschiedenen europäischen Ländern auf, „die von der SS geschult und gedrillt, in ihrem Lande die gleichen Aufgaben erfüllten, wie die SS in Deutschland“ (S. 51). Dazu zählen etwa die Eiserne Garde in Rumänien oder die Ustascha in Kroatien. Kittel stellt aber auch theoretische Überlegungen zum Wesen des Krieges an, der „die Vernunft aus[schaltete], er schürte die dunkelsten Instinkte, machte buchstäblich die Untat zur Heldentat und den Widerstand gegen den Krieg zum Verbrechen“ (S. 57). In teilweise wortgewaltigen Metaphern und dramatischen Sprachbildern beschreibt er die Folgen des Krieges, der „ein Meer von zerfetzten Leibern“ (ebd.) hinterlässt und dazu führt, dass an den Ketten der Panzer die Überreste von Menschen kleben. Hier richtet er sich auch in vertrauter Anrede direkt an den Leser: „Jawohl, von deinem Bruder, deinem Vater, deinem Sohn“ (S. 5ff.).

Einzig und allein die Kirche sei „in diesen bitteren Zeiten zum Hort aller Bedrängten und Hilfesuchenden “ (S. 59) geworden, helfe Wunden schließen und gebe den Menschen Kraft. Kittel lobt die Kirche und die vielen österreichischen Geistlichen, die in Gefängnissen und Konzentrationslagern inhaftiert werden. Dies alles sei „einzig und allein die Schuld der deutschen Kriegsverbrecher“ (S. 61). Wer auch immer in irgendeiner Form diesen Krieg bejahe, mache sich mitschuldig an dem Tod ganzer Völkergenerationen: „Man rede sich nichts aus, der Krieg wäre schuld. Der Krieg wurde von Menschen gewollt, von Menschen vorbereitet und von Menschen geführt. Sie trifft die Schuld“ (ebd.).

An vielen Stellen des Textes arbeitet Kittel mit gegensätzlichen Begriffen von hell und dunkel. Dem Licht stellt er die Nacht entgegen. So kündigt sich etwa mit dem Einzug der sowjetischen Armee im April 1945 und dem Feuer auf dem Stephansplatz, dem Wahrzeichen Wiens, wenige Tage später, das Ende der Nacht über Österreich an. Die Flammen „sind die ersten Lichtzeichen der kommenden Befreiung und Wiedergeburt unseres Vaterlandes. Mit dem Abzug der Rauchschwaden ist auch die SS verschwunden und Licht wird es wieder über Österreich“ (S. 67). Mit Deutschlands Untergang sei Österreichs Wiedererstehen verbunden.

Das Ende seines Berichts widmet Kittel seinem politischen und religiösen Weltbild: „In meinen Lehrlingsjahren wurde ich überzeugter Sozialist, in den Jahren der Gefahr für unser Vaterland fanatischer Österreicher, in Gefängnis und Konzentrationslager gläubiger Christ und im Krieg leidenschaftlicher Pazifist“ (S. 72). Daher widmet er das Buch auch seinen sozialistischen Genossen, den österreichischen Kameraden und christlichen Brüdern. Ein Sozialismus ohne Demokratie, also eine „gewaltsame Begründung einer sozialistischen Ordnung mit den Mitteln der Diktatur“ (S. 78), könne nicht zum Erfolg führen, so Kittels Überzeugung. Auch wenn der Sozialismus international sei, zeige er doch in den verschiedenen Staaten unterschiedliche Erscheinungsformen. Österreich dürfe nie wieder von innen zerrissen werden, da es wieder das Herzland Europas und die Österreicher wieder die Kulturträger der Welt geworden seien. Eine sozialistische Ordnung bedürfe weiterhin eines umfassenden religiösen Glaubens, um von Dauer zu sein. Die Botschaft Jesu sei Frieden, wie auch die Bergpredigt zeige, die er zitiert. Es gelte den Krieg zu bekämpfen, jeden Militarismus abzulehnen und die Jugend mit einem Ekel vor dem Krieg zu erfüllen: „Wer dem Kinde Pfeil und Bogen gibt, darf sich nicht wundern, daß der Jugendliche zum Revolver greift und der Wehrfähige zum Gewehr“ (S. 91).


Biografie

Franz Kittel (geb. 11.05.1914 in Wien) lebte vor seiner Verhaftung als lediger Handlungsgehilfe in Wien. Seine Konfession war römisch-katholisch. Kittel wurde am 17. Juni 1938 als Schutzhäftling mit der Nummer 16351 in das Konzentrationslager Dachau aufgenommen. Er wurde am 23. Dezember 1938 aus der Haft entlassen.

Quelle:

  • Häftlingsdatenbank der KZ-Gedenkstätte Dachau.


Werkgeschichte

Im Vorwort vom Juni 1945 führt Kittel aus, dass das „Büchlein […] in den Stuben von Dachau, in den Luftschutzkellern des zweiten Weltkrieges und in der Freiheit des neuen Österreich“ (S. 7) entstanden sei.

Quelle:

  • Kittel, Franz: „Vorwort“. In: ders.: Nacht über Österreich. Wien 1945, S. 7.



Bearbeitet von: Charlotte Kitzinger