Schutzhäftlinge erleben die Invasion (1946)

Aus Frühe Texte der Holocaust- und Lagerliteratur 1933 bis 1949
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Angaben zum Werk

Titel Schutzhäftlinge erleben die Invasion
Autor Kreuzberg, Willy (1909-1986)
Genre Erinnerungsbericht

Ausgaben des Werks

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Ausgabe von 1946, Weimar
Titel Schutzhäftlinge erleben die Invasion

Erscheinungsort Weimar
Erscheinungsjahr 1946

Auflagen insgesamt 1

Verlegt von Thüringer Volksverlag
Gedruckt von Paul Kaltenbach
Publiziert von Kreuzberg, Willy (1909-1986)

Umfang 30 Seiten

Bibliotheksnachweise UBGI-icon.gif UB Gießen (Print-dnb-icon.gif gedruckte Ausgabe)
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Zusammenfassung

Der politische Häftling Willy Kreuzberg wird im Juni 1944 gemeinsam mit 600 weiteren KZ-Häftlingen und Kriegsgefangenen per Schiff und Zug von der Kanalinsel Alderney evakuiert. Die Gruppe hatte im dortigen Konzentrationslager am Atlantikwall arbeiten müssen und wird mit der beginnenden Invasion der alliierten Truppen in der Normandie nach Belgien verlegt. Kreuzberg schildert in seinem Bericht diese Wochen voller Unsicherheit und Hunger, das Verhalten der SS-Wachen sowie vor allem die zahlreichen Fluchtversuche.

Im Vorwort thematisiert Kreuzberg zunächst vor der eigentlichen Schilderung der Geschehnisse die Situation der Häftlinge in den Lagern auf den Kanalinseln. Er betont, dass diese überall durch den NS-Staat als „billige Arbeitskräfte“ (S. 3) ausgenutzt werden. Dabei unterscheiden sich die Lebensbedingungen der Häftlinge am Atlantikwall, zu denen Kreuzberg gehört, „in keiner Weise von de[nen] in den Lägern [sic!] in Deutschland“ (ebd.).

Der Bericht beginnt schließlich unvermittelt nachts in einer Baracke auf der Kanalinsel Alderney. Die Insel wird im Zuge der Invasion der Normandie bombardiert und die Häftlinge hoffen auf eine baldige Befreiung. Daher beginnen sie, eine Taktik zu entwickeln: Die osteuropäischen Mithäftlinge sollen einen Aufruhr unter nichtdeutschen SS-Männern – die Häftlinge nennen sie die „Beutegermanen“ (S. 8) – schüren, um so eine Fluchtmöglichkeit herbeizuführen. Viele Gerüchte machen in den nächsten Tagen die Runde, aber auch die Gewissheit über die Erfolge der US-Truppen erreicht das Lager. Diese rufen eine allgemeine Unsicherheit – sowohl unter den Häftlingen als auch unter den Bewachern – hervor, bis endlich der Befehl zur Verlegung des Lagers nach Westen erfolgt. Die SS beginnt mit der Deportation per Schiff: „600 Menschen werden wie in einem [sic!] Laderaum verfrachtet. Ausgemergelte, hungrige Körper, kranke Menschen. Als Abort zwei Kübel, die Luke verdeckt bis auf eine kleine Einstiegöffnung, so pfercht man uns zusammen. Rollende See, kein Platz und seekranke Häftlinge“ (S. 11). Die Schiffe können nur nachts fahren und müssen mehrmals wegen Bombardierungen umkehren. Zudem muss die Gruppe notdürftig an Land untergebracht werden, wo sie kaum mit Lebensmitteln versorgt wird. Besonders die Fahrt auf offener See ist gefährlich, da auf den Schiffen teilweise Waffen transportiert werden: „Das Grauen läuft uns über den Rücken, als wir durch die Luke steigen. Torpedos liegen unten. Acht Stück. Einer hübsch neben dem anderen. Und wir dabei als lebende Fracht. Und der Golf voller Minen und Schnellboote. Und die Luft voller Flugzeuge“ (S. 13). Dass das Übersetzen letztlich ohne Beschuss glückt, erklären sich die Häftlinge damit, dass die Alliierten von ihrer Anwesenheit auf dem Schiff gewusst haben müssen. Der Transport wird auf dem französischen Festland per Zug fortgesetzt; bis zu 45 Männer werden in einem Waggon untergebracht. Die Fluchtpläne der internationalen Gruppe um Willy Kreuzberg werden konkreter: „Und wir denken doch nur an Flucht. Alle Gedankengänge enden bei diesem Punkt“ (S. 14). Immer wieder fliehen in den folgenden Tagen kleinere Gruppen, wobei auch einige Männer sterben, wie Kreuzberg nüchtern berichtet: „Wieder sind drei Mann geflüchtet. Die Posten beiseite gestoßen und aus dem fahrenden Zuge gesprungen. Einer wird von den Rädern zermalmt. Die Leiche bleibt liegen. Der Zug fährt weiter“ (S. 18). Kreuzberg und die anderen sprechen sich gegen diese Einzelaktionen aus, da „Hemmungen“ (ebd.) sie zunächst noch abhalten: „Die Sprache, das Land, die Verantwortung für die, die zurückbleiben“ (ebd.). Tatsächlich kommt es immer wieder zu Kollektivstrafen, das Essen wird gestrichen oder unschuldige Häftlinge werden erschossen. Daher hoffen sie auf die Unterstützung von französischen Partisanen. Die Zugfahrt dauert mehrere Tage und die Versorgung der Häftlinge ist nicht gesichert; zudem wird der Zug immer wieder bombardiert und die Gleise müssen nach dem Beschuss mehrmals durch Häftlinge repariert werden. In einer Nacht sind die Bombardierungen besonders heftig und während die SS in die Wälder flieht, bleiben die Gefangenen in dem Zug eingesperrt.

Die Situation verändert sich für Kreuzberg drastisch, als er wegen eines Missverständnisses mit einem Rottenführer durch Schläge und besondere Schikanen bestraft wird. Im Zuge der Bestrafung wird er auch zu einer lebensgefährlichen Bombenentschärfung gezwungen, die er sehr genau beschreibt. Obwohl er nicht das nötige Fachwissen oder die Ausrüstung hat, handelt Kreuzberg entschlossen und erarbeitet sich so den Respekt vieler Häftlinge. Es wird immer deutlicher für ihn, dass er „fort muß“ (S. 26) und die Fluchtpläne werden erneut forciert. Kreuzberg wird zum Anführer gewählt, doch er bläst die Flucht kurzfristig ab. Dies rettet die Häftlinge, denn eine andere Gruppe, die in derselben Nacht fliehen will, wird von den Wachen erschossen. Als der Zug Belgien erreicht, glauben die Häftlinge auf die Unterstützung der Einheimischen vertrauen zu können und fliehen, noch bevor sie zum nächsten Arbeitseinsatz gebracht werden können. Abrupt endet der Tatsachenbericht: „Vorbei ist die Fahrt, die fast vier Wochen dauerte! Das Ergebnis? Vierunddreißig Häftlinge und fünfundzwanzig amerikanische Kriegsgefangene sind geflüchtet! Glück auf den [sic!] Weg, Kameraden! Dreißig Häftlinge verwundet, teils schwerer Natur! Zweiundzwanzig Häftlinge feige ermordet! Wir werden Euch nie vergessen!“ (S. 30)

Um den Leser nah an das Geschehen zu führen, nutzt Kreuzberg neben zahlreichen Dialogen auch durchgehend das Präsens und einen rasanten Stil, so schreibt er zum Beispiel: „Bei all diesen Gesprächen donnern in der Luft pausenlos die Motoren. Stunde um Stunde! Welle auf Welle! Kein Nachlassen ist zu bemerken. In dieser Nacht schlafen wohl die wenigsten“ (S. 6). Grausame Szenen werden dabei knapp und reduziert geschildert, so heißt es etwa über die Ermordung von drei Häftlingen: „Unterwegs Waggon-Kontrolle. In einem findet man die Wand kreisrund eingeschnitten. Noch nicht durch. Noch war das Loch nicht vollendet. Keiner ist es gewesen. Drei Mann, die am nächsten sitzen, werden in einen leeren Waggon geführt. MP. knallt auf – erschossen! Die Leichen werden ausgezogen und auf den Bahnsteig gelegt. Eine alte Decke darüber. Aus!“ (S. 19) Durch die formalen Reduktionen der abgehackten Sätze wirken diese Passagen besonders eindringlich. Inhaltlich fokussiert Kreuzberg seinen Bericht auf die Zeit in der Normandie, seine vorherige KZ-Haft in verschiedenen Lagern thematisiert er ebenso wenig wie den Grund für seine Verhaftung. Auch geht er nicht auf die Zwangsarbeit beim Bau des Atlantikwalls ein; es gibt lediglich Hinweise darauf, wie die Häftlinge körperlich durch die Arbeit gequält wurden.

Ausführlich thematisiert Kreuzberg in seinem Bericht die Situation der SS-Männer, die sie bewachen. Sie seien selbst voller Angst über die Zukunft gewesen, manche seien dadurch umgänglicher geworden, andere wiederum kompensieren die Sorge über die Verluste an der Front durch gesteigerte Gewalttätigkeit. Vor allem diese Brutalität beschreibt Kreuzberg im Zusammenhang mit den Fluchtversuchen: „Schreie ertönen und dann beginnt die SS das Blutbad. Unsere Henker beginnen zu morden. Salven von Maschinenpistolen krachen. Nochmal und nochmal und immer wieder. […] Die SS badet in Blut. In der offenen Waggontür stehen sie und halten mit ihren Maschinenpistolen wahllos hinein. Mordgier leuchtet ihnen aus den Augen. Ihre tierischen Instinkte sind losgelassen. Das sind keine Menschen mehr!“ (S. 27) Gleichzeitig sei das Handeln der SS bei aufkommender Gefahr, wie zum Beispiel bei Bombardierungen, aber auch durch Feigheit geprägt. Als weitere Gruppe skizziert Kreuzberg die als ‚Bibelforscher‘ internierten Zeugen Jehovas. Kreuzberg beschreibt diese Gruppe im starken Kontrast zu den politischen Häftlingen. Er kritisiert sie heftig, da sie nicht nur eine Flucht verweigern, sondern sich auch von der SS ausnutzen lassen. So verteilt diese die Bibelforscher „aus taktischen Gründen auf alle Wagen“ (S. 16) und erlaubt nur ihnen die Waggons zum Wasserholen zu verlassen: „Bei jeder Gelegenheit sind es nur die Bibelforscher, die draußen zu sehen sind. Sie türmen nicht. Sie vertrauen auf Jehova!“ (S. 29)


Biografie

Willy Kreuzberg (geb. 21.11.1909, gest. nach 1986) wurde – vermutlich für sein kommunistisches Engagement, wie in seinem Bericht angedeutet wird – bereits 1933 mehrmals durch die SS verhaftet und 1934 zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt. Vermutlich war er im Zuchthaus Luckau inhaftiert, bevor er in ein Konzentrationslager eingewiesen wurde. Überlieferte Dokumente belegen, dass er am 27. Februar 1940 in das Konzentrationslager Sachsenhausen überstellt wurde, wo er im Häftlingsblock 65 untergebracht war. Laut seinen Angaben muss er auch in einem Außenlager von Sachsenhausen in Duisburg gewesen sein. 1942 wurde er als Teil der „Ersten Baubrigade West“ unter der Häftlingsnummer 20413 – die Nummer 16874, die er im Buch nennt, wurde nicht an ihn vergeben – aus dem KZ Sachsenhausen auf die Kanalinsel Alderney gebracht, wo er für die Organisation Todt am Aufbau des Atlantikwalls mitarbeiten musste. Im Juli 1944 wurde das Lager wegen der Invasion der alliierten Truppen in der Normandie aufgelöst; Kreuzberg und 600 weitere Häftlinge wurden wochenlang über Frankreich und Belgien evakuiert, um an einem anderen Ort weiterzuarbeiten. Am 13. August 1944 gelang ihm im belgischen Kortemark die Flucht aus dem Arbeitslager und er schlug sich durch Belgien und Nordfrankreich durch. Er kehrte mit Hilfe der vorrückenden amerikanischen Militäreinheiten nach Deutschland zurück.

Quellen:

  • „Effektenkarte von Kreuzberg“, 1.1.5.3/6379374/ITS Digital Archive, Arolsen Archives.
  • „Empfangsbestätigung für Effekten“, 1.1.30.1/3411068/ITS Digital Archive, Arolsen Archives.
  • Kreuzberg, Willy: Schutzhäftlinge erleben die Invasion. Ein Tatsachenbericht von Willy Kreuzberg. Weimar 1946.
  • Kreuzberg, Willy: Die Flucht. Als KZ-Häftling durch fremdes Land. Berlin-Potsdam 1949.
  • „Nachtrag zur Veränderungsmeldung“, 1.1.5.1/5283578/ITS Digital Archive, Arolsen Archives.
  • „Schreiben“, 1.2.2.1/11900454/ITS Digital Archive, Arolsen Archives.
  • „Veränderungsmitteilung vom 27.02.1940“. In: FSB-Archiv Moskau, N-19092/Tom 96, Bl. 061 (Angaben über die Datenbank des Archivs der Gedenkstätte Sachsenhausen).


Werkgeschichte

Eines der Hauptziele der Veröffentlichung von Willy Kreuzberg war es, nach dem Krieg wieder Kontakte zu seinen ehemaligen Mithäftlingen zu knüpfen. Da er über ihr weiteres Schicksal nach seiner Flucht nichts wisse, hoffte er auf ein Lebenszeichen von ihnen: „Haben Euch die Anglo-Amerikaner befreit? Oder ist die SS wieder mit Euch geflüchtet, weiter nach Holland? Oder seid Ihr selbst mit der SS zum Kampf gekommen? Vielleicht mit Unterstützung der belgischen Bevölkerung? Vielleicht hilft dieses Buch, daß ich mal von einem von Euch etwas erfahre“ (S. 4). 1949, also drei Jahre nach der Veröffentlichung seines Berichts über den Transport von Alderney nach Kortemark, publizierte Kreuzberg in der Reihe „Kleine VVN-Bücherei“ die Fortsetzung. In seinem Buch „Die Flucht. Als KZ-Häftling durch fremdes Land“ beschreibt er, wie es ihm gelingt zu fliehen und wie ihm in Belgien und Frankreich von vielen Seiten geholfen wird, bis er schließlich an die amerikanischen Militäreinheiten überstellt wird, die ihn nach Deutschland zurückbringen wollen.

Quellen:

  • Kreuzberg, Willy: „Vorwort“. In: ders.: Schutzhäftlinge erleben die Invasion. Ein Tatsachenbericht von Willy Kreuzberg. Weimar 1946, S. 3f.
  • Kreuzberg, Willy: Die Flucht. Als KZ-Häftling durch fremdes Land. Berlin-Potsdam 1949.



Bearbeitet von: Christiane Weber