Über Mangelerkrankungen auf Grund von Beobachtungen im Konzentrationslager Theresienstadt (1947)

Aus Frühe Texte der Holocaust- und Lagerliteratur 1933 bis 1949
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Angaben zum Werk

Titel Über Mangelerkrankungen auf Grund von Beobachtungen im Konzentrationslager Theresienstadt
Autor Wolff-Eisner, Prof. Dr. Alfred (1877-1948)
Genre Medizinische Abhandlung

Ausgaben des Werks

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Ausgabe von 1947, Würzburg
Titel Über Mangelerkrankungen auf Grund von Beobachtungen im Konzentrationslager Theresienstadt

Erscheinungsort Würzburg
Erscheinungsjahr 1947
Auflage 1

Verlegt von Lothar Sauer Morhard Verlag

Publiziert von Wolff-Eisner, Prof. Dr. Alfred (1877-1948)

Umfang 51 Seiten

Bibliotheksnachweise UBGI-icon.gif UB Gießen (Print-dnb-icon.gif gedruckte Ausgabe)
DNB-icon.gif Deutsche Nationalbibliothek (Print-dnb-icon.gif gedruckte Ausgabe)


Zusammenfassung

Alfred Wolff-Eisner, der selbst als Arzt in Theresienstadt praktiziert hat, berichtet aus erster Hand für ein medizinisches Fachpublikum von den, wie er es nennt, „theresianischen Krankheiten“ (Vorwort, o.S.). Im Vordergrund steht für ihn dabei, das erworbene Wissen über Krankheitsbilder und -verläufe bei Mangelernährung weiterzugeben. So sollen neue Erkenntnisse aus dem „ungeheuren Menschenexperiment“ (S. 1) der Nationalsozialisten gewonnen und Beobachtungen festgehalten werden. Für den nicht medizinisch versierten Leser werden, quasi zwischen den Zeilen, Aspekte deutlich, die das Leben im Getto beeinflussen und in anderen Erinnerungsberichten weniger differenziert zur Sprache kommen. So werden etwa Fragen der Hygiene und der Gesundheit aus der Lebenssituation heraus erklärt.

Die Sprache der Abhandlung ist eine medizinische, so werden Tabellen aufgestellt und Einzelfälle ausgewertet. Dennoch sehe man, so Wolff-Eisner, „in nackten Zahlen und objektiv das ganze Elend sich vor unseren Augen abrollen ohne jede propagandistische und sentimentale Begleitmusik“ (Vorwort, o.S.). Der Arzt beschreibt aus eigenen Erfahrungen heraus das Gesundheitswesen des Gettos und die Schwierigkeiten bei der Behandlung der Kranken in Theresienstadt; so verboten die Nationalsozialisten u.a. bakteriologische und serologische Untersuchungen und erzwangen Abtreibungen bis in den achten Monat hinein. An vielen Stellen kritisiert er die Arbeit der jüdischen Gesundheitsabteilung, zu zaghaft seien die Schritte gewesen und viele Vorschläge von ihm und seinen erfahrenen Kollegen, wie die grundsätzliche Desinfektion der Aborte, seien nur zögerlich oder gar nicht umgesetzt worden. Zudem seien die behandelten Ärzte und Mitarbeiter chronisch überlastet gewesen.

Wolff-Eisner erklärt das Aufkommen und den Verlauf von Krankheiten wie Typhus oder Sprue als vorherrschende Krankheitsbilder in Theresienstadt durch mehrere Faktoren: katastrophale Hygiene in allen Bereichen des Gettos – wobei er deutlich macht, dass diese nur mit größten Anstrengungen hätte verbessert werden können –, Ungezieferplagen, mangelnde und vor allem auch qualitativ schlechte Ernährung, grundlegender Vitaminmangel und ständiger Zu- und Abzug von neuen Häftlingen. Oft beobachtet er, wie gerade deutsche Juden, die im Gegensatz zu Juden anderer Nationalität kaum Lebensmittelpakete aus ihrer Heimat erhalten, in den Mülleimern nach Kartoffelschalen suchen. Zudem seien die Häftlinge bereits bei der Ankunft geschwächt und traumatisiert gewesen.

Wolff-Eisner erkennt nicht nur einen spezifischen Verlauf von Krankheiten – so dauern Heilungen überproportional lange oder erfolgen nur unvollständig –, sondern es treten auch Krankheiten in Theresienstadt auf, die sonst kaum verbreitet sind. Dass auch die Befreiung im Sommer 1945 keine sofortige Heilung bringt, betont Wolff-Eisner deutlich, vielmehr bleiben all diese Krankheiten „noch sehr lange nach dem Verlassen des Konzentrationslager bestehen“ (S. 16). Die medizinischen Erkenntnisse und Behandlungsmethoden seien laut Wolff-Eisner auch gerade bei der schlechten Ernährungslage im Nachkriegsdeutschland von großem Interesse für Medizinkollegen.

Oft vermeidet der Autor allerdings genauere Beschreibungen, etwa wenn er die Folgen des Durchfalls beschreibt: „Da die profusen Diarrhöen zu den häufigsten Erkrankungen gehörten und diese Kranken [= die Kranken in den oberen Stockbetten in den Sammelunterkünften] meist zu schwach waren zu turnerischen Kunststücken und zum Aufsuchen der oft weit entfernten Toiletten – sapienti sat [‚für den Klugen genug‘]“ (S. 5). Dennoch wird gerade durch die neutrale Beschreibung das Leben in den Sammelunterkünften deutlich: die geschwächten Menschen litten am typischen Dauerhusten, übertrugen durch Kratzen Krankheiten auf gesunde Körperbereiche und hatten unkontrollierbare Blähungen durch die schlechte Nahrungsqualität. Dazu schreibt Wolff-Eisner: „Die Flatus kamen serienweise, wie Trommelfeuer, und Serien von 16 bis 18 Flatus hintereinander waren keine Seltenheit. Man war gesellschaftlich unmöglich, und dieses Leiden war durchaus geeignet, den Aufenthalt in Theresienstadt unangenehm zu machen“ (S. 16). Sogar eine spezifische Gangart beobachten die Ärzte bei ihren Patienten, durch den diese öfters stürzten, wobei Brüche nur schwer heilten. Kurz: „Man sieht, daß es an Gründen für die Morbidität und Mortalität im Konzentrationslager Theresienstadt nicht gefehlt hat. Die Tötung in dieser weniger gewaltsamen Weise war so unbedingt sicher, daß das Dritte Reich nur kurze Zeit hätte länger bestehen müssen, um jeden Insassen der Konzentrationslager ohne Anwendung von brutaler Gewalt zu töten“ (S. 38).


Biografie

Alfred Wolff-Eisner (geb. 1877 in Berlin, gest. 1948 in München) war ein bekannter jüdischer Mediziner und lehrte von 1926 bis 1933 Innere Medizin an der Universität Berlin, wo er bereits seit 1923 Dozent war. Während des Ersten Weltkriegs hatte er als Arzt in einem Seuchenlazarett an der Front gedient. Der Serologe entwickelte unter anderem eine Nachweismethode für Tuberkulose und wurde zu einem Fachmann auf diesem Feld. 1943 wurde Wolff-Eisner nach Theresienstadt deportiert, wo er weiterhin als Arzt tätig war. Nach der Befreiung aus Theresienstadt kehrte er nach Deutschland zurück und wurde Chefarzt im Krankenhaus Schwabingen, welches in den ersten Nachkriegsjahren auf die Versorgung von Displaced Persons (DPs) ausgerichtet war. Die Erkenntnisse, die er in dieser Zeit sammelte, flossen auch in seine Analysen der Krankheiten in Theresienstadt ein. Wolff-Eisner dozierte neben seiner Anstellung als Arzt in Schwabingen auch als Professor für Innere Medizin an der Münchener Universität und leitete bis zu seinem Tod ein Laboratorium der Universitäts-Nervenklinik München.

Quellen:

  • Beddies, Thomas/Doetz, Susanne und Christoph Kopke( Hg.): Jüdische Ärztinnen und Ärzte im Nationalsozialismus. Entrechtung, Vertreibung, Ermordung. Berlin 2013.
  • Tetzlaff, Walter: 2000 Kurzbiographien bedeutender deutscher Juden des 20. Jahrhunderts. Lindhorst 1982, S. 362.
  • Wolff-Eisner, Alfred: Über Mangelerkrankungen auf Grund von Beobachtungen im Konzentrationslager Theresienstadt. Würzburg 1947.


Werkgeschichte

Zeit seines Lebens publizierte Alfred Wolff-Eisner als Arzt und Professor eine Vielzahl von medizinischen Abhandlungen, die teilweise auch ins Englische und Spanische übersetzt wurden. Die Untersuchung der Folgen der Mangelernährung in Theresienstadt, die auf eigenen Erfahrungen und Auswertungen seiner Zeit im Konzentrationslager beruht, war sein letztes Werk vor seinem Tod. Wolff-Eisner nutzte für die Abfassung Notizen und Unterlagen, die er in Theresienstadt aufgezeichnet hatte (S. 41). Gleichzeitig bedauerte er, dass andere Mitschriften verschollen oder „noch nicht aufgefunden worden“ (S. 42) seien. Daher könne er zum Beispiel kaum etwas über die Tuberkulosefälle in Theresienstadt schreiben, da genau diese Unterlagen noch nicht wieder aufgetaucht seien. Wolff-Eisner bedauert, dass generell viele Daten verloren gegangen seien: „[I]n den Sitzungen [der Ärzte in Theresienstadt] wurde Vieles und Interessantes mitgeteilt, aber nichts davon protokolliert, gesammelt oder in irgendeiner Weise veröffentlicht“ (S. 3). Die Arbeit an der Abhandlung wurde zudem dadurch erschwert, dass die meisten Ärzte, deren Namen er in seinem Bericht gehäuft nennt, nicht mehr am Leben seien und die Erinnerungsleistung von ehemaligen Häftlingen durch die Mangelernährung bis hin zum Gedächtnisschwund gemindert sei. Wolff-Eisner setzt sich durch seine Arbeit das Ziel, „zu retten was zu retten ist“, da er „einer der ganz wenigen übrig gebliebenen Ärzte“ sei (beide Zitate ebd.). Daher führt er immer auch Aufzeichnungen und Auswertungen seiner Kollegen als Legitimation der eigenen Aussagen an; so bringt er seine Analysen in den allgemeinen medizinischen Diskurs ein. Die eigentliche Niederschrift des Textes hatte er bereits 1945 vollendet, jedoch scheiterte die Drucklegung am in Deutschland herrschenden Papiermangel (S. 1). Erst zwei Jahre später konnte er daher seinen Text – um einen kurzen Nachtrag aus dem Jahr 1947 erweitert, der auf die aktuelle Gesundheitslage in Europa Bezug nimmt – publizieren.

Quelle:

  • Wolff-Eisner, Alfred: Über Mangelerkrankungen auf Grund von Beobachtungen im Konzentrationslager Theresienstadt. Würzburg 1947.



Bearbeitet von: Christiane Weber