Arztschreiber in Buchenwald (1946)

Aus Frühe Texte der Holocaust- und Lagerliteratur 1933 bis 1949
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Angaben zum Werk

Titel Arztschreiber in Buchenwald
Autor Poller, Walter (1900-1975)
Genre Erinnerungsbericht

Ausgaben des Werks

Digitalisat in DIGISAM öffnen
Ausgabe von 1946, Hamburg
Titel Arztschreiber in Buchenwald

Erscheinungsort Hamburg
Erscheinungsjahr 1946

Verlegt von Phönix-Verlag Christen & Co
Gedruckt von Hanseatische Druckanstalt GmbH
Publiziert von Poller, Walter (1900-1975)
Umschlaggestaltung von Christen, Bruno
Illustriert von Grune, Richard (1903-1983)

Umfang 230 Seiten
Abbildungen 4 Original-Lithograhien

Bibliotheksnachweise UBGI-icon.gif UB Gießen (Print-dnb-icon.gif gedruckte Ausgabe)
UBGI-icon.gif UB Gießen (Online-dnb-icon.gif elektronische Ausgabe)
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Ausgabe von 1947, Hamburg
Titel Arztschreiber in Buchenwald

Erscheinungsort Hamburg
Erscheinungsjahr 1947
Auflage 2. Aufl.

Verlegt von Phönix-Verlag Christen & Co

Publiziert von Poller, Walter (1900-1975)

Illustriert von Grune, Richard (1903-1983)

Umfang 234 Seiten
Abbildungen 4 Original-Lithographien von Richard Grune

Bibliotheksnachweise UBGI-icon.gif UB Gießen (Print-dnb-icon.gif gedruckte Ausgabe)
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Zusammenfassung

Als politischer Häftling Nr. 996 wird Walter Poller im Dezember 1938 im Konzentrationslager Buchenwald inhaftiert, wo er schon bald Arztschreiber wird. Seine Erinnerungen teilt er in zwei Teile, die jeweils in mehrere Kapitel untergliedert sind. Der erste Teil berichtet von Pollers Verhaftung und seiner Haftzeit ab Dezember 1938 im Arbeitskommando Steinbruch. Der zweite Teil, der etwa zwei Drittel des Textes umfasst, behandelt seine Zeit als Arztschreiber im Häftlingskrankenbau ab Frühjahr 1939 bis zu seiner Entlassung im Mai 1940.

Poller ist es ein wichtiges Anliegen, den Leser von seiner Aufrichtigkeit und Integrität zu überzeugen. Im Vorwort vom 24. April 1945 stellt er sich zunächst dem Leser als Person vor. Denn dieser habe das wohlbegründete Recht zu wissen, wer ihm Bericht erstatte und weshalb er in ein nationalsozialistisches Konzentrationslager eingeliefert worden sei. Immer wieder verbürgt er sich – sogar mit seinem eigenen Leben und bei allem, was er liebt und für lebenswert hält – für die Wahrhaftigkeit seines Berichts. Er könne nur episodische Blitzlichter wiedergeben, stellt er klar, die jedoch jedes einzelne ein allgemein typisches Vorkommnis wiedergeben und nicht etwa nur eine besonders krasse Ausnahme zum Gegenstand hätten. Auch Vorschläge, wie ein möglichst umfassendes und wahrhaftiges Bild von den Geschehnissen in den Konzentrationslagern übermittelt werden könne, unterbreitet Poller. Alle noch lebenden Konzentrationäre sollten unabhängig unter Eid zu Protokoll geben, „was sie persönlich sahen, erlebten, durchlitten. Und was dann deckungsgleich bekundet wird, das mag der Staat in einem einzigen Buch [...] dokumentarisch niederlegen“ (S. 174).

Als politischer Häftling, vor allem aber als Arztpfleger ist Poller in einer privilegierten Position im Lager, muss jedoch schnell lernen, dass die Patientenakten, Sektionsprotokolle sowie die politischen Akten und Führungsberichte größtenteils gefälscht und erfunden sind. Seine Aufgabe ist es, sich immer neue Krankengeschichten und (die Wahrheit verschleiernde) Todesursachen auszudenken, mit zum Beispiel immer neuen Variationen des Satzes „leider trotz sorgfältigster Pflege unvermeidbar gewordener[r] Exitus“ (S. 95). Dies ist unter anderem bei den ermordeten Häftlingen Pfarrer Paul Schneider und Julius Meier der Fall. Auch auf die Umstände der Ermordung des SPD-Politiker Ernst Heilmann geht er ein. Poller schildert außerdem eine am 9. November 1939 durch den SS-Führer Arnold Strippel angeordnete ‚Vergeltungsaktion‘ an jüdischen Häftlingen wegen des gescheiterten Attentats auf Adolf Hitler im Münchener Bürgerbräukeller. Auf Weisung des betrunkenen Strippel muss Poller auf der Totenmeldung von 21 im Steinbruch ermordeten Häftlingen vermerken „[a]uf der Flucht erschossen“ (S. 134). Ausführlich und mit einer gewissen Faszination widmet sich Poller dem Lagerarzt Dr. Ding. Dieser ist nach Pollers Angaben ein „hochintelligenter Mensch von besten Umgangsformen“ (S. 79). „Und doch, es ist alles nur Fassade. Der Nazismus hat dieses prächtige Gefäß, das von Natur dazu berufen gewesen wäre, wertvolle Arbeit für die leidende Menschheit zu leisten, ausgehöhlt und mit Pesthauch angefüllt“ (S. 80).

Wiederholt deutet Poller späteres Geschehen an. Er lässt den Leser teilhaben an dem sukzessiven Prozess des ‚Hereinwachsens‘ in den Lageralltag, des Begreifens der Zusammenhänge und dem sich Fügen und Einordnen in die Lagerordnung. Immer wieder wechseln sich daher Vergangenheitsform und Präsens ab. Er kontrastiert zudem an einigen Stellen die Zeit der Lagerhaft mit seiner Situation in Freiheit. Besonders bei der Darstellung seiner Gedanke und Gefühle stellt Poller die Unmittelbarkeit des Erlebten durch Bewußtseinsströme her. Scheinbar selbstverständlich übernimmt Poller an einigen Stellen rassische Wertungen der Nationalsozialisten, wenn er beispielsweise von dem „wertvollere[n] Menschenmaterial“ (S. 75) unter den politischen Häftlingen spricht. Ebenso empfindet er es als eine Zumutung als politischer Häftling mit „kriminellen Elementen“ (S. 148) in einem Topf geworfen zu werden.

Ausführlich widmet sich Poller seiner für ihn unerwarteten Entlassung. Aufgrund seiner Tätigkeit als Arztschreiber und dem damit verbundenen Wissen um die internen Vorgänge in der Verwaltung des Konzentrationslagers rechnet er sich keine großen Chancen aus, jemals wieder freizukommen. Die Entlassung am 10. Mai 1940 – begünstigt durch den Wohnortwechsel seiner Familie nach Hamburg und dem Entlassungsgesuch seines ältesten Sohns an das Reichssicherheitshauptamt in Berlin – ist daher für ihn umso überraschender.

Pollers Erinnerungen enthalten zahlreiche Zitate aus den Werken Johann Wolfgang von Goethes, ebenso Referenzen auf Friedrich Schiller und Gotthold Ephraim Lessing. Wiederholt zitiert er auch Dantes Apokalypsevisionen.

Der Text enthält außerdem Litographien von Richard Grune mit den Titeln „Weihnachten im KZ“, „Hunger“, „Im Draht“ und „Schlafraum“.


Biografie

Walter Poller (geb. 06.01.1900 in Kiel, gest. 17.10.1975 in Hagen) wurde als Sohn des Metallformers, Stadtrats der SPD und Polizeipräsidenten Wilhelm Poller geboren. Die Oberrealschule musste er nach dem sogenannten ‚Einjährigen-Zeugnis’ aus finanziellen Gründen verlassen. Bis zur Einberufung war er als Redaktionsvolontär bei der ‚Kieler Arbeiterzeitung‘ und danach bei der ‚Schleswig-Holsteinischen Volkszeitung‘ tätig. Ab Sommer 1918 nahm er als Soldat am Ersten Weltkrieg teil und gehörte im November 1918 dem Soldatenrat in Jüterborg an. Bereits während seiner Schulzeit engagierte er sich in der Arbeiterjugend und wurde schließlich leitender Funktionär der Sozialistischen Arbeiter-Jugend (SAJ). Nach Kriegsende trat Poller 1919 der SPD bei und wurde in Hamm Chefredakteur bei der sozialistischen Tageszeitung ‚Der Hammer‘. Er unternahm 1923 eine Auslandsreise nach Istanbul und schrieb seine Eindrücke später in dem Buch ‚Die Revolution einer Stadt. Besuch in Istanbul‘ nieder. Poller geriet im März 1933 (ab 1. März für acht Tage) sowie im Juni 1933 (ab 24. Juni für 14 Tage) jeweils für kurze Zeit in ‚Schutzhaft‘. Anschließend baute er eine Widerstandsgruppe aus Sozialdemokraten auf, die unter anderem Flugblätter verteilte und im Herbst 1934 durch die Gestapo ausgehoben wurde. In der Nacht vom 31. Oktober auf den 1. November 1934 wurde er wegen ‚Vorbereitung zum Hochverrat‘ verhaftet und unter Anklage gestellt. Er wurde in der Dortmunder Steinwache inhaftiert und am 28. Juli 1935 (Eigenangabe ist der 29. Juni 1935) vom 3. Senat des Volksgerichtshofes wegen Vorbereitung zum Hochverrat zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt. Seine Haftzeit verbüßte er in Münster, Neusustrum, Börgermoor, Plötzensee, Oslebshausen, Celle und dem Moorlager Lührsbockel in der Lüneburger Heide. Nach seiner Entlassung wurde Poller ohne Angaben von Gründen erneut in Dortmund und Celle inhaftiert. Nach dem Ende seiner Schutzhaftstrafe am 28. November 1938 wurde er in Polizeihaft genommen und in das Strafgefängnis Celle überführt. Am 22. Dezember 1938 wurde er als politischer Häftling in das Konzentrationslager Buchenwald überstellt, wo er die Häftlingsnummer 996 erhielt. Poller war zuerst beim Arbeitskommando Steinbruch und ab Frühjahr 1939 als Arztschreiber im Häftlingskrankenbau eingesetzt. Im Mai 1940 wurde Poller entlassen. Seine Entlassung aus dem KZ Buchenwald wurde durch den Wohnortwechsel seiner Familie nach Hamburg begünstigt, wo er schließlich im Betrieb eines Familienmitglieds beschäftigt war.

Nach Kriegsende amtierte Poller als politischer Sekretär der SPD beim Landesverband Hamburg. Danach war er als Chefredakteur bei sozialdemokratischen Zeitungen in Nordrhein-Westfalen tätig, unter anderem von 1946 bis 1961 bei der ‚Westfälischen Rundschau‘. Zudem betätigte er sich als Publizist unter den Pseudonymen Walter Raven, Walter Weissenburg und Walter Jeune. Aufgrund einer Erkrankung ging Poller 1961 in den Ruhestand und lebte danach in Hohenlimburg.

Quellen:

  • Peitsch, Helmut: Deutschlands Gedächtnis an seine dunkelste Zeit. Zur Funktion der Autobiographik in den Westzonen Deutschlands und den Westsektoren von Berlin 1945 bis 1949. Berlin: Edition Sigmar Bohn 1990, S. 469.
  • Poller, Walter: Arztschreiber in Buchenwald. Bericht des Häftlings 996 aus Block 39. Hamburg 1946.
  • Röll, Wolfgang: Sozialdemokraten im Konzentrationslager Buchenwald 1937–1945. Göttingen 2000.


Werkgeschichte

Poller begann seinen Bericht über seine Erlebnisse im Konzentrationslager Buchenwald am 24. April 1945 in Neuschönningstedt, wie er selbst im Vorspann zu seinem Bericht schreibt.

In einer Sammelrezension zu Texten aus den Konzentrationslagern und Gefängnissen in „Die Welt“ vom 13. September 1947 schreibt Rudolf Küstermeier, Poller habe den „sachlichsten und objektivsten Einzelbericht geschrieben“ (S. 4). Als Arztschreiber habe er Einblicke gewonnen, wie sie nur ganz wenigen möglich gewesen sein. Er berichte darüber „mit einer Nüchternheit, die erschütternder und erregender ist, als laute Klagen und Anklagen es jemals sein können“ (ebd.).

Eine weitere Auflage erschien 1947 im Phönix Verlag Christen & Co. Poller bemerkt dort in seinem Vorwort zur zweiten Auflage, das die erste Auflage des Buches fast vergriffen gewesen sei, noch bevor die letzten Exemplare in der Buchbinderei fertiggestellt worden seien. Nun bei der zweiten Auflage stelle sich ihm als Autor die Frage, ob er das Buch noch einmal überarbeiten solle: „Der Schriftsteller möchte die stilistischen Mängel ausmerzen, die der Wahrheitsfanatiker in den wenigen Wochen, in denen er das Manuskript mit heißem Atem in einem Zuge niederschrieb, als völlig bedeutungslos wertete. Der Chronist möchte die Fülle der Erlebnisse erweitern, denn er weiß selbst am besten, daß er in diesem Buch nur einen winzigen Ausschnitt aus der endlos langen Fülle der Geschichte schilderte, die vor ihm aufstehen, wenn er an ‚Buchenwald‘ denkt, und von denen ihm eins noch wichtiger, eindrucksvoller und typischer erscheint als das andere. Der Politiker möchte hundert Anmerkungen schreiben, damit auch der letzte Leser begreife, daß jedes Wort in diesem Buche geschrieben wurde, um Türen aufzustoßen, die manchem verriegelt sein mögen, die wir aber alle in uns und vor uns aufstoßen müssen, wenn wir zu einem neuen Menschentum und zu einer neuen Menschenordnung gelangen wollen. Der Gemeinschaftsmensch, der sich mit der Veröffentlichung jedem Leser verpflichtet fühlt, möchte die tausend Fragen beantworten, zu denen die Leser berechtigt sind, weil sie damit bekunden, daß das Buch für sie keine Lektüre war, die nur unterhielt“ (Vorwort, o.S.)

Er habe sich jedoch entschlossen, fährt er fort, die zweite Auflage völlig unverändert zu lassen – abgesehen von Druckfehlerberichtigungen, einer geringfügigen Klarstellung auf den Seiten 152 bis 153 sowie einem Anhang, der die medizinischen Fachausdrücke ‚verdeutsche‘. Sachlich habe er nichts zu berichtigen. Er schließt das Vorwort mit einem Appell an die Leser: „Lest das Buch! ‚Ich setze die Wahrheit aus, wenn Ihr mir diese Gunst verweigert‘“ (ebd.).

Quellen:

  • Küstermeier, Rudolf: „Blick in den Abgrund.“ In: Die Welt vom 13.09.1947, S. 4.
  • Poller, Walter: Arztschreiber in Buchenwald. Bericht des Häftlings 996 aus Block 39. Hamburg 1947.



Bearbeitet von: Charlotte Kitzinger