Aufzeichnungen aus einem Erdloch (1948)

Aus Frühe Texte der Holocaust- und Lagerliteratur 1933 bis 1949
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Angaben zum Werk

Titel Aufzeichnungen aus einem Erdloch
Autor Littner, Jakob (1883-1950)
Genre Erinnerungsbericht

Ausgaben des Werks

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Ausgabe von 1948, München
Titel Aufzeichnungen aus einem Erdloch

Erscheinungsort München
Erscheinungsjahr 1948

Auflagenhöhe Erstauflage 5000

Verlegt von Verlag Herbert Kluger
Gedruckt von Gregorius Verlag vormals Friedrich Pustet
Publiziert von Littner, Jakob (1883-1950)

Umfang 148 Seiten

Lizenz Military Government Information Control License No. US-E-163

Bibliotheksnachweise UBGI-icon.gif UB Gießen (Print-dnb-icon.gif gedruckte Ausgabe)
DNB-icon.gif Deutsche Nationalbibliothek (Print-dnb-icon.gif gedruckte Ausgabe)


Zusammenfassung

In metaphernreicher Sprache mit vielen Tempuswechseln zwischen Gegenwarts- und Vergangenheitsform berichtet Jakob Littner in tagebuchähnlichen Aufzeichnungen von seinem Weg ab September 1938 von München nach Ostgalizien und seinem Überleben im dortigen Getto von Zbaraz sowie später in einem Versteck in einem Erdloch. Dabei wechselt er bisweilen von der vorherrschenden Erzählperspektive in erster Person in die dritte Person. Der Verfasser, der gemeinsam mit einer Nichtjüdin ein philatelistisches Geschäft betreibt, erzählt episodenhaft und teilweise sehr gerafft die Stationen seiner Verfolgung und Flucht.

Nach der Reichspogromnacht erhält Littner die Aufforderung das Land zu verlassen. Am 1. März 1939 schließlich gelingt dies und er erreicht Prag: „Ich war frei – mit zehn Mark in der Tasche“ (S. 32). Die Freiheit jedoch währt nicht lange, da zwei Wochen später deutsche Truppen in die Tschechoslowakei einmarschieren. Littner flieht weiter nach Krakau, wo ihn wenige Monate später der Krieg einholt, so dass er gemeinsam mit seiner Krakauer Wirtin weiter in Richtung Osten in den sowjetisch besetzten Teil Polens nach Zbaraz flieht. „Sind wir nun frei oder gefangen?“ (S. 46), fragt er sich hier. Nach den zuvor nur kurzen Fluchtstationen stellt sich ihm die Frage, ob auch die Zuflucht in Zbaraz nur von kurzer Dauer sein wird: „Ich bin dem Sturmzentrum entrückt. Hitler ist mir diesmal nicht nachgeeilt. Darf ich Atem schöpfen? Darf ich Fuß fassen? Darf ich Wurzeln schlagen?“ (S. 50)

Nach einem jähen Zeitsprung setzt der Bericht beim deutschen Überfall auf die Sowjetunion gut eineinhalb Jahre später wieder ein. Littner schildert die nun nach dem deutschen Einmarsch sofort einsetzende Gewalt gegen Juden, die Erschießungen, Zwangsarbeit sowie die zahlreichen antijüdischen Verordnungen und betont dabei die Beteiligung ukrainischer Milizionäre. Auf Grund der immer wieder stattfindenden Deportationen steigern sich Angst und Ungewissheit: „Wir sind in unserem Hause noch dreiundzwanzig Juden, und täglich zittern wir vor einer neuen Aktion, die immer kommen kann. Jeder zermartert sich das Hirn nach einem Ausweg. Wie viele ergebnislose Gespräche werden geführt! Wir sind gefangene Tiere in der Falle, die wir nicht öffnen können“ (S. 82). Die Gruppe legt ein Versteck an, um sich vor weiteren Deportationen verbergen zu können.

Bald darauf müssen alle Juden in das neu eingerichtete Getto umziehen. Dort legen Littner und die anderen Bewohner erneut ein Versteck an. Hunger und Krankheiten schwächen auch sie zunehmend. Christa, der ehemaligen Geschäftspartnerin in München, gelingt es, ihn ausfindig zu machen und nach Zbaraz zu kommen. Sie kann über einen Bekannten in der deutschen Besatzungsverwaltung in Krakau Hilfe organisieren und auch in Zukunft nach ihrer Abreise über einen Mittelsmann Pakete schicken.

Unterdessen finden weitere Deportationen statt, die ein Bild der Verwüstung und Hoffnungslosigkeit hinterlassen: „Das Ghetto gleicht einer Totenstadt. Eine bedrückende Stille wirkt in den menschenleeren Straßen. Gespenstig sind die verlassenen Häuser; aus leeren Fensterhöhlen und offenen Türen blickt das Grauen. […] Keiner hat mehr eine Hoffnung, sich zu retten. Wir sind eine Stadt der Todgeweihten“ (S. 107).

Schließlich können Littner und seine Wirtin aus dem Getto fliehen und bei einem ukrainischen Bauern unterkommen. Dort verbringen sie die nächsten Monate in einem Erdloch unter dem Keller: „Ein zeitliches Grab. Aber es ist nicht der Tod, nicht der Graben, in dem die Erschossenen einen einzigen Haufen toten und zuckenden Fleisches bilden“ (S. 121). Während das Getto aufgelöst und die letzten Bewohner ermordet werden, verbringen die beiden endlos scheinende Tage in dem feuchten, stickigen, engen und dunklen Erdloch: „Wir sind von der Welt getrennt, aber die Sorgen der Welt sind mit uns in die Erde gestiegen. Wir zerbrechen uns den Kopf, wie wir unser Leben fristen und wie wir den Geldhunger unseres Wirtes befriedigen können“ (S. 125). Dies gelingt ihnen durch die Hilfe Christas, die sie weiterhin durch Pakete aus München unterstützt.

Nach Monaten erleben sie schließlich die Befreiung durch Soldaten der Roten Armee. Äußerlich frei, wirken die Verfolgung und die Monate im Versteck noch länger sowohl körperlich als auch psychisch nach: „In jeder Nacht quälen mich Verfolgungsträume“ (S. 136). „Wir Lebenden sind auserwählt“, schreibt er gegen Ende seines Berichts, „wir sind die Zeugen der Unmenschlichkeit und der Finsternis. Wir haben die Fratze des Menschen gesehen; werden wir uns je wieder an seinem Antlitz freuen dürfen und im Menschengesicht das Bild Gottes wiedererkennen?“ (S. 145)


Biografie

Jakob Littner (geb. 17.04.1883 in Budapest, gest. 06.05.1950 in New York) lebte in München, wo er ein Briefmarkengeschäft betrieb. Littner, der die polnische Staatsangehörigkeit besaß, konnte der Ausweisung polnischer Juden im Oktober 1938 knapp entgehen. Er reiste Anfang März 1939 nach Prag aus. Nach dem deutschen Einmarsch in Prag floh er nach Polen. Als die Wehrmacht dort einmarschierte, floh er gemeinsam mit Janina Korngold Richtung Osten und lebte im sowjetisch besetzten Teil Polens, zunächst in Zaleczyki, ab September 1940 in Zbaracz. Dort erlebte er die deutsche Besetzung im Juli 1941 und er und Janina mussten bald ins Getto umziehen. Nach der Auflösung des Gettos Anfang Juni 1943 lebten sie über neun Monate in einem unterirdischen Versteck. Im März 1944 schließlich wurde Zbaracz von der Roten Armee befreit. Im Jahr darauf heirateten die beiden im Juni in Krakau und zogen im August nach München, wo sie bis Juni 1947 lebten. Ende Juni 1947 emigrierten sie in die USA und lebten in New York.

Quelle:

  • Zachau, Reinhard: „Auf der Suche nach dem Urtext. Das Originalmanuskript zu Wolfgang Koeppens ‚Jakob Littners Aufzeichnungen aus einem Erdloch‘“. In: Littner, Jakob: Mein Weg durch die Nacht. Mit Anmerkungen zu Wolfgang Koeppens Textadaption. Hg. von Ulrich, Roland und Reinhard Zachau. Berlin 2002, S. 173-188.


Werkgeschichte

Die besonderen Entstehungszusammenhänge und die Autorschaft von Jakob Littners „Aufzeichnungen aus einem Erdloch“ sind erst Jahrzehnte nach seiner Erstpublikation aufgedeckt worden. In den 1990er Jahren wurde bekannt, dass das Buch von Wolfgang Koeppen geschrieben worden war. Koeppen verfügte über Littners Originalmanuskript und kürzte und bearbeitete dies stark.

Littner begann unmittelbar nach seiner Rückkehr nach München im August 1945 mit der Niederschrift des Berichts und schloss ihn innerhalb von zwei Monaten ab. Er gab ihm den Titel „Mein Weg durch die Nacht. Ein Dokument des Rassenhasses. Erlebnisbericht, aufgezeichnet von J. Littner“.

Littner bemühte sich anschließend um eine Publikation seines Texts, unter anderem schickte er ihn an den damaligen Münchener Oberbürgermeister Karl Scharnagl. Überdies konnte Littner über einen Rechtsanwalt den späteren Präsidenten des Bayerischen Schriftstellerverbands, Rudolf Schneider-Schelde, für sein Manuskript einnehmen. Dieser hatte gute Kontakte zum Kurt Desch Verlag. Die Angelegenheit zog sich in die Länge. Im Februar 1947 heißt es in einem Gutachten des Verlags über Littners Werk: „Ein sentimental-pathetisch-erbaulicher Erlebnisbericht, der als eigene Publikation ganz indiskutabel ist“ (zitiert nach Littner 2002, S. 194). Angeregt wurde hingegen die Veröffentlichung in mehreren Teilen in einer Münchener Wochenzeitung. Der Verlag Kurt Desch lehnte schließlich die Publikation von Littners Werk ab. Kurz darauf entschloss sich der neu gegründete Verlag Herbert Kluger zu dessen Veröffentlichung und ließ den Text von Wolfgang Koeppen bearbeiten.

1948 erschien Koeppens Bearbeitung des Littner-Manuskripts im Verlag Herbert Kluger unter Littners Namen. In den siebziger Jahren trug sich Koeppen mit dem Gedanken, das Buch unter seinem Namen zu veröffentlichen, eingebettet in eine Erweiterung, die die Entstehungsgeschichte und Publikation des ursprünglichen Werks und das Beziehungsdreieck von Autor, Bearbeiter und Verleger behandelt. 1985 erfolgte im Berliner Kupfergraben Verlag eine Neuauflage, jeweils ohne dass Koeppens Bearbeitung beziehungsweise Autorschaft offengelegt wurde.

Der Jüdische Verlag gab 1992 schließlich eine Neuauflage heraus, die erstmals Wolfgang Koeppen als Autor nennt. Erst jetzt gab es größere öffentliche Resonanz, darunter auch kritische Stimmen bis hin zu Plagiatsvorwürfen, nachdem die Originalvorlage aufgefunden worden war. Ruth Klüger zum Beispiel sah in Koeppens Textversion ein „weinerliches Versöhnungspathos“ am Werk, da er Fakten geschönt habe. 2002 wurde der Originaltext Littners, der Koeppens Bearbeitung zugrunde lag, erstmals auf Deutsch publiziert, nachdem er 2000 bereits in englischer Übersetzung veröffentlicht worden war.

Quelle:

  • Littner, Jakob: Mein Weg durch die Nacht. Mit Anmerkungen zu Wolfgang Koeppens Textadaption. Hg. von Ulrich, Roland und Reinhard Zachau. Berlin 2002.



Bearbeitet von: Markus Roth