Das Tausendjährige Reich (1946)

Aus Frühe Texte der Holocaust- und Lagerliteratur 1933 bis 1949
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Angaben zum Werk

Titel Das Tausendjährige Reich
Autor Lommer, Horst (1904-1969)
Genre Gedichtsammlung

Ausgaben des Werks

Ausgabe von 1946, Berlin
Titel Das Tausendjährige Reich

Erscheinungsort Berlin
Erscheinungsjahr 1946

Auflagenhöhe Erstauflage 1-20.000

Verlegt von Aufbau-Verlag
Gedruckt von Vorpahl
Publiziert von Lommer, Horst (1904-1969)

Illustriert von Kutz, Erwin

Umfang 93 Seiten

Bibliotheksnachweise UBGI-icon.gif UB Gießen (Print-dnb-icon.gif gedruckte Ausgabe)


Zusammenfassung

In 48 satirischen Gedichten und Liedern thematisiert Horst Lommer verschiedene Aspekte der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft von 1933 bis nach Kriegsende 1945. Sie sind – so geht aus einer kurzen Vorbemerkung hervor – in den Jahren 1934 bis 1945 in Deutschland geschrieben worden. Die Gedichte sind zeitlich chronologisch geordnet, beginnend mit dem Gedicht „Tag der Machtergreifung. 30. Januar 1933“ und endend mit „Dem neuen Deutschland. September 1945“. In der Abfolge der Gedichte wird so die Geschichte vom Aufstieg des Nationalsozialismus, über die anfängliche Kriegsbegeisterung beim deutschen Siegeszug der Wehrmacht durch Europa bis zum unaufhaltsamen und lang verschleierten Rückzug und zur Kapitulation der deutschen Wehrmacht erzählt. Die Gedichte tragen im Untertitel häufig zeitliche Zuordnungen. So wird in „Nordische Heerfahrt“ die Besetzung Dänemarks und Norwegens im April 1940 lyrisch thematisiert: „Dänemark, das wurde jetzt / unblutig besetzt. / Norwegen, wie unkulant, / schlug in reinem Unverstand / aus die Führerhand“ (S. 48). Ebenso widmet sich Lommer der Besetzung Frankreichs in „Gott in Frankreich“ im Sommer 1940 sowie dem „Polenfeldzug“ im September 1939 oder dem „Blitzkrieg gegen Russland“ im Juni 1941. Das Ende des deutschen Siegeszugs durch Europa ist unter anderem Gegenstand des Gedichts „Adolf mit der Wunderwaffe“ vom Sommer 1944 sowie im „Bericht zur Lage“ vom März 1945. Dort heißt es: „Die Heimat gibt mit frohem Sinn / sich dem Vergeltungstriebe hin. // Der Front geht es nicht ganz so gut, / sie braucht viel Material und Blut“. […] // Es wackelt der totalste Staat, / wenn die totale Pleite naht“ (S. 82f).

Dazwischen finden sich Gedichte, die unter anderem die Propagandaarbeit der Nationalsozialisten und die Gleichschaltung der Deutschen thematisieren. In dem langen Gedicht „Massenpsychose“ heißt es etwa: „Wir tragen alle ein Brett vor dem Kopf / über Nacht“ (S.17). Zur Bücherverbrennung und der Verfolgung von Künstlern und Intellektuellen dichtet Lommer in „Austreibung des Geistes“: „Seht den hellen Feuerbrand / seht den Scheiterhaufen. / Goebbels hebt die rechte Hand, / rings ergriffnes Schnaufen. // ‚Treu‘, so spricht der braune Zwerg, / ‚dem Parteiprogramme, / werf ich Heines Lebenswerk / in die braune Flamme“ (S. 25). Doch es werden, so macht das Gedicht deutlich, auch wieder andere Zeiten kommen: „Deutschland schläft jetzt fest, allein / wenn es ausgeschlafen, / werden wir zur Stelle sein, / um euch zu bestrafen. // Aug‘ um Auge, Zahn um Zahn / werden wir ihn rächen / und euch euren Größenwahn aus den Schädeln brechen“ (S. 26f.). Wie in einigen anderen Gedichten steht hier ein kollektives Wir aus Gegnern des Nationalsozialismus einem kollektiven Ihr der Anhänger des Nationalsozialismus gegenüber.

Die Gedichte variieren hinsichtlich ihrer Länge, ihres Reimschemas, des Aufbaus und der verwendeten rhetorischen Figuren. Neben Gedichten mit einem einfachen Paar- oder Endreim finden sich auch viele nichtreimende Verse. Gemeinsam ist vielen ein von Ironie über Sarkasmus bis hin zum Zynismus reichender Ton. In „Warnung vor Köpfchen“ bedient sich Lommer beispielsweise dem Stilmittel der Anapher. Jede Strophe beginnt mit der Wortgruppe „Der Intellektuelle“ (S. 28). Ergänzt wird dieser Versbeginn dann jeweils unter anderem durch die Verben „ist“, „denkt“, „hat“, „liest“ und „lernt“ (alle Zitate S. 28f.) und einer Erläuterung dazu in vier Verszeilen: „Der Intellektuelle lernt / nie, wie man Helden ehret. / Drum wird er ins KZ entfernt, / und dort wird er belehret. // Der Intellektuelle wird / so lange dort mißhandelt, / bis er erkennt, wie er sich geirrt, / und sich zum Teufel wandelt“ (S. 29). Auch werden häufig Gegenstände personifiziert. Ergänzt werden einige Gedichte durch thematisch dazugehörige Illustrationen.

Auch die Verfolgung und Vernichtung der Juden ist Thema einiger Gedichte. In „Schwarze Schweine“ mit dem Untertitel „SS-Song“ spricht die SS als lyrisches Wir: „Wir spielen mit Judenköpfen Golf / von Polen bis nach Flandern, / und werden wie der Fenriswolf / den Erdball rings umwandern. / Wir führ’n das Schwert der Tyrannei / von Flandern bis nach Polen / und trampeln die Kultur zu Brei / mit deutschen Dauersohlen“ (S. 69). Das Gedicht „Vergeltung“ richtet sich an Adolf Hitler persönlich: „Wenn die deutschen Städte heute brennen / und der Tod durch deutsche Straßen zieht, / denke dran, mein Führer Adolf Hitler, / dort geschah einst, was uns heut‘ geschieht“ (S. 84). Und in „PG.‘S Abschiedssong“ heißt es: „[W]ir fahren in den Abgrund sachte / und nicht mehr gegen Engeland“ (S. 85). Die letzten Gedichte thematisieren die Zeit unmittelbar nach Kriegsende in Deutschland. In „Der Spuk ist aus“ vom Mai 1945 wird den Deutschen zugerufen: „Heraus, heraus aus Bunkern und Kasernen! / Zerbrecht die Ketten, werft die Waffen fort! / Und laßt uns schwören bei den ew’gen Sternen: / Nie wieder Krieg! Nie wieder Massenmord!“ (S. 89)

Der Gedichtsammlung ist ein Zitat von Sophokles vorangestellt. Der Band ist dem Arzt und Freund Hans Oskar Schäfer gewidmet.


Biografie

Horst Lommer (geb. 19.11.1904 in Lichterfelde bei Berlin, gest. 17.10.1969 in Berlin) wurde als Sohn des Arztes Hermann Lommer geboren. Er besuchte ein humanistisches Gymnasium und studierte danach in Berlin Geschichte, Germanistik und Philosophie. Er besuchte die Staatliche Schauspielschule Berlin und hatte neben kleineren Rollen am Staatstheater Berlin unter der Intendanz Gustav Gründgens‘ auch Engagements in Gera, Königsberg, Düsseldorf und Köln. 1934 wurde er Mitglied der NSDAP. Im selben Jahr begann er jedoch ebenfalls seine satirischen Zeitgedichte zu schreiben, die er auswendig lernte und nach dem Krieg unter dem Titel „Das Tausendjährige Reich“ herausgab und auch öffentlich vortrug. Auch erste eigene Bühnenstücke, vor allem Lustspiele, entstanden. Nach der Schließung sämtlicher deutscher Theater im September 1944 erhielt er seinen Einberufungsbefehl, wie er selbst in einem kurzen undatierten Manuskript aus seinem Nachlass mit dem Titel „Über die Entstehung des Buches DAS TAUSENDJÄHRIGE REICH“ darlegt. Diesem folgte er jedoch nicht. Stattdessen tauchte Lommer unter: Sein Freund Peter Huchel versteckte ihn bis Kriegsende im Haus einer Freundin. Nach Kriegsende lebte Lommer als Schriftsteller in West- und Ost-Berlin. Er war Mitarbeiter der „Weltbühne“, der „Täglichen Rundschau“, des „Tagesspiegels“, des „Ulenspiegels“ sowie des Berliner Rundfunks. Als Vorstandsmitglied gehörte er dem „Schutzverband deutscher Autoren“ bis zu dessen Auflösung im Mai 1951 an. Er veröffentlichte neben dem „Tausendjährigen Reich“ in den ersten Nachkriegsjahren auch die Revue „Die Höllenparade“, sowie politische Rundfunksendungen, weitere Gedichte und Schauspiele.

Lommer verließ 1951 die DDR und zog nach Frankfurt am Main. Der „Tagesspiegel“ vom 29. März 1951 berichtete dazu: „Der bisher im Ostsektor tätige Schriftsteller und frühere Schauspieler Horst Lommer hat sich vor wenigen Tagen nach Westberlin begeben. Lommer, der Verfasser von ‚Das Tausendjährige Reich‘, ‚Höllenparade‘, ‚Arche Noah‘, ‚Das unterschlug Homer‘ u.a. war Theaterkritiker der ‚Täglichen Rundschau‘ bis vor wenigen Monaten ständiger Mitarbeiter der neuen ‚Weltbühne‘ und gehört zu den bekanntesten satirischen Autoren der östlichen Lager“ (Archiv der Akademie der Künste, Horst-Lommer-Archiv 32, o.S.).

In Westdeutschland widmete sich „Der Spiegel“ vom 11. April 1951 der Flucht Lommers. Diese habe der Schriftsteller in einem Schreiben an den „Kongreß für Kulturelle Freiheit“ mit dem „Todesurteil der Ostjustiz gegen den Schüler Joseph Flade“ (Der Spiegel vom 11.04.1951, S. 21) begründet. Dieses habe „mit einem Schlage alle Illusionen zum Einsturz [gebracht], die ich mir künstlich aufgebaut hatte“ (ebd.), zitiert „Der Spiegel“. Er wisse nun, „daß die Volkspolizei von ehemaligen Nazis gedrillt wird und daß die amusischen Funktionäre der SED gewillt sind, die deutsche Kultur restlos zu vernichten“ (ebd.). Er habe das Bedürfnis, alle Menschen der freien Welt, die er verhöhnt habe, um Verzeihung zu bitten und ihnen für die Verteidigung der Freiheit zu danken, deren Schutz ihm jetzt unverdientermaßen zuteil werde.

In Frankfurt arbeitete Lommer als Redakteur bei der Kulturzeitschrift „Die Aktion“ sowie später als Werbetexter. In der Bundesrepublik galt er als Kommunist, was seine Möglichkeiten, unter seinem eigenen Namen zu veröffentlichen oder als Schauspieler aufzutreten, einschränkte. Mitte der 1950er Jahre arbeitete er als Autor und Schauspieler des Düsseldorfer literarischen Kabaretts „Das Kommödchen“. Ende der fünfziger Jahre entstanden die ersten Fernsehspiele, zunächst noch für die Hörfunkabteilung des damaligen NWDR. Bis 1969 war er zudem als Autor von Fernsehspielen im NDR und Südwestfunk bekannt und in der Fernsehspielabteilung des NDR unter Egon Monk für das satirisch-komödiantische Element zuständig. Bei allen vom Norddeutschen Rundfunk produzierten Lommer-Stücken führte Peter Beauvais Regie.

Quellen:

  • Lommer, Horst: „Über die Entstehung des Buches DAS TAUSENDJÄHRIGE REICH“. [unveröffentlichtes, undatiertes Manuskript], 6 Seiten. In: Archiv der Akademie der Künste, Horst-Lommer-Archiv 236, o.S.
  • o.A.: „Der Tagesspiegel“ vom 29.03.1951, o.S. In: Archiv der Akademie der Künste, Horst-Lommer-Archiv 32.
  • o.A.: „Horst Lommer“. In: Der Spiegel (1951), Nr. 15, S. 21. Online: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-29193657.html (Stand: 17.09.2019).


Werkgeschichte

Horst Lommer schrieb die ersten Verse für das 1946 publizierte Buch „Das Tausendjährige Reich“ bereits 1934, wie er selbst in einem kurzen undatierten Manuskript mit dem Titel „Über die Entstehung des Buches DAS TAUSENDJÄHRIGE REICH“ darlegt. Mit einem satirischen Gedicht über den Röhm-Putsch sei er im Freundeskreis höchst erfolgreich gewesen und so sei nach und nach „aus der Aneinanderreihung der nazistischen Jubelfeste und Greueltaten eine zeitgeschichtliche Chronik“ (Lommer, Horst: „Über die Entstehung des Buches DAS TAUSENDJÄHRIGE REICH“, S. 1) entstanden. Er habe alles versucht, um angesichts des „funktionierenden Terror- und Spitzelsystems in Nazi-Deutschland“ (ebd.) seine Gedichte mündlich zu verbreiten, führt er weiter aus. Als Schauspieler sei er im Auswendiglernen geübt. Aber auch andere Menschen hätten sich an der Verbreitung beteiligt. Sein Ziel sei es gewesen, die Gedichte „möglichst sicher durch die Fährnisse der Zeit [zu] bringen, um sie später der Öffentlichkeit als unverfälschten Spiegel echten Naziotentums vorlegen zu können“ (ebd.). Dabei habe er selbst auch am Leben bleiben und Hitler überleben wollen. Das Originalmanuskript habe aus elf beidseitig betippten dünnen Durchschlagpapierseiten bestanden, das jahrelang in einer Prachtausgabe von Hitlers „Mein Kampf“ aufbewahrt worden sei. Hier habe Lommer es selbst bei einer Wohnungsdurchsuchung für sicher gehalten. Nach der Verschärfung des Luftkriegs habe er es dann im Luftschutzkoffer immer bei sich getragen: „Sorgsam praktizierte ich die elf dünnen Seiten in eine große Rolle Toilettenpapier und zog danach die unbeschädigte Außenhülle wieder darüber“ (ebd., S. 2). Nachdem er untergetaucht war, um seiner Einberufung an die Front zu entkommen, lernte er die Gedichte auswendig und vernichtete das Manuskript. Es erschien ihm nicht mehr ratsam, unter „diesen lebensgefährlichen Umständen […] meiner jetzt gänzlich ausweislosen und verdächtigen Persönlichkeit noch als zusätzlichen Ballast die fünfzig Gedichte gegen den Nazismus hinzuzufügen“ (ebd.). Schon zwei Tage nach der Befreiung durch die sowjetische Armee am 26. April 1945 habe er das „Tausendjährige Reich“ in die Maschine diktiert. Zusammen mit Paul Bildt und Walter Franck habe er dann im Juni 1945 das „Tausendjährige Reich“ als Kabarett-Veranstaltung im Volkshaus Wilmersdorf „aus der Taufe geholt“ (ebd.). Die Musik dafür sei von Paul Dessau komponiert worden. Nach dem Erfolg des ersten Abends seien die Verse dann in über vierzig Veranstaltungen in ganz Berlin vorgetragen worden und auch vom Berliner Rundfunk und anderen Rundfunkanstalten gesendet worden. Nach seinem Erscheinen im Frühjahr 1946 habe es das Buch in kurzer Zeit zu einer Auflage von 90.000 Exemplaren gebracht. Lommer führt weiter aus, dass er „Hunderte von zustimmenden Leser- und Hörerbriefen erhalten“ (ebd., S. 3) habe, ebenso wie „deftige Drohungen aus unbelehrbaren Nazikreisen“ (ebd.). Über diese habe er sich besonders gefreut, denn sie seien der Beweis dafür, dass „ich gut gezielt hatte, als ich meine Pfeile abschoß, während Herr Hitler noch drauf und dran war, sein Tausendjähriges Reich der Tyrannei und der Dummheit zu errichten. Und daß ich gut getroffen hatte“ (ebd.).

„Das Tausendjährige Reich“ wurde in der Nachkriegspresse viel beachtet und war ein Verkaufserfolg. So zählte „Die neue Zeitung“ am 12. August 1947 anlässlich des zweijährigen Bestehens des Berliner Aufbau Verlags das Werk mit 70.000 verkauften Exemplaren zu den Büchern mit der höchsten Auflage des Jahres. Lommer führte seine satirischen Gedichte außerdem in verschiedenen Städten auf und erfuhr auch hier großen Zuspruch durch das Publikum ebenso wie durch die Kritik. So erschien in der Passauer Zeitung vom 15. März 1946 eine Besprechung einer Aufführung in der es hieß: „Horst Lommer hat in einer satirischen Revue ‚Das Tausendjährige Reich‘ die Parolen und Schlagworte der vergangenen zwölf Jahre in Chansons zusammengefaßt, die beim Publikum einen Bombenerfolg hatten“ (Archiv der Akademie der Künste, Horst-Lommer-Archiv 32, o.S.). In der „Täglichen Rundschau“ vom 19. April 1946 erschien ein Artikel zu Horst Lommer von seinem Schriftstellerkollegen Friedrich Wolf: „Horst Lommer ist zweifellos eine der eigenartigsten Erscheinungen der jungen deutschen Dichtung. Nach 1933 – nach dem Anbruch der großen Naziidiotie – hat Horst Lommer, der damals 30jährige Berliner Schauspieler, mitten im Hakenkreuztaumel jede Phase des ‚Tausendjährigen Reiches‘ mit klarem Blick erkannt und in Versen aufgespießt und fixiert. Dazu gehörten im damaligen Deutschland ein gewiß nicht alltäglicher Verstand und Mut. Er hat weiter diese Verse in einem die ganze Periode umfassenden satirischen Zyklus zusammengeschmiedet, zu einem satirischen Kunstwerk, wie es seit Heines ‚Wintermärchen‘ nichts Aehnliches mehr in der deutschen Dichtung gibt. […] Wir haben hier den echten, urwüchsigen satirischen Dichter, der eine blitzende, schonungslose Klinge schlägt gegen den verlogenen, gefährlichen Nazipopanz“ (Archiv der Akademie der Künste, Horst-Lommer-Archiv 32, o.S.).

Auch Friedrich Luft schrieb in der Berliner Zeitung vom 27. Juli 1945 unter dem Titel „‚Lyrische Fanfare‘. Horst Lommers ‚Tausendjähriges Reich‘“: „Hier rechnet einer ab. Hier hat einer, den man bislang nur als zuverlässigen Schauspieler der Staatstheater gekannt hatte und als Verfasser munterer Komödie am Kurfürstendamm, in den letzten zwölf Jahren die Vorgänge der Politik zum Gegenstand von Versen gemacht, die sich in jeder Hinsicht gewaschen haben. Hier hat einer zugeschlagen. Hier hat sich einer seinen Reim gemacht, unerbittlich, überlegen, ironisch, sarkastisch, sanft pflaumend, böse aufscheinend, erbittert anklagend, zustoßend und immer vernichtend“ (Archiv der Akademie der Künste, Horst-Lommer-Archiv 32,o.S.). In den „Berliner Heften für geistiges Leben“ schreibt der Rezensent D.R., dass das Buch „zu den stärksten Dokumenten in der bisherigen Nachkriegsliteratur zählt“ (S. 79). Lommer lasse bekannte Lieder auftönen, um sie dann auf seine Weise abzuwandeln. Es sei ein „Buch des Hasses, das fast unerträglich wäre, wenn nicht ein überlegener Witz das Entsetzen milderte“ (ebd.). Jedoch hätte er, so der einzige Kritikpunkt des Rezensenten, gut auf die Illustrationen von Erwin Kutz verzichten können: „Das Verfahren, den Text über die Illustrationen zu setzen, wie es der französische Polyhistoriker der Kostümkunde Job ebenso geistreich wie launig vollendete, scheint uns Deutschen nicht zu liegen“ (Archiv der Akademie der Künste, Horst-Lommer-Archiv 32,o.S.).

Eine äußerst kritische Besprechung der satirischen Verse Lommers erschien im Tagesspiegel unter dem Titel „Satire ohne Herz“ von Walther Karsch. Darin heißt es: „Aber man wird nicht froh bei dieser Satire. Satire soll frech sein. Sie soll entlarven, sie soll auch nicht vor Sentiments haltmachen (erst recht nicht vor Ressentiments), aber sie sollte haltmachen vor echten Gefühlen. Und wo liegen heute unsere echten Gefühle? Nicht sehr tief unter unserer Haut. Wir sind nicht robust genug, um über eine Charakterisierung Himmlers als Hitlers ‚geliebtestes Kind‘ zu lachen, Worte, die nicht zusammen passen: Kind und Liebe auf der einen, Himmler und Hitler auf der anderen Seite. (Es entsteht keine Spannung aus diesem Gegensatzpaar, es wirkt nur peinlich.) […] Unser Geschmack aber revoltiert gegen einen schlechten Geschmack, der sich hier auf nahezu hundert Seiten mit unzulänglichen, billigen und dazu noch geborgten Mitteln austobt“ (Archiv der Akademie der Künste, Horst-Lommer-Archiv 32,o.S.).

Zu den Aufführungen der Gedichte im Weimarer Deutschen Nationaltheater schrieb S. Spiess einen bebilderten „Bericht über einen Regieversuch“. Darin heißt es: „Die Notwendigkeit, die kämpferische Gedichtfolge „Das Tausendjährige Reich“ von Horst Lommer auch von der Bühne herab wirksam werden zu lassen, stand für uns fest“ (Archiv der Akademie der Künste, Horst-Lommer-Archiv 32, o.S.). Die Inszenierung am Deutschen Nationaltheater habe daher nach einem „einfachen, klaren, sinndeutenden Weg, der den rechten Abstand von kathedermäßigem Vortrag auf der einen und zur Unsachlichkeit verlockenden Aufzäumung im ‚Dreigroschenoper-Stil‘ auf der anderen Seite hielt“ (ebd.) gesucht. Die Strophen seien, so heißt es weiter, drei Sprechern übertragen worden, „die in einfachen, schwarzen Talaren hinter einer Holzbarriere die Bühnenbreite frontal zum Zuschauer einnahmen“ (ebd.). Hinter ihnen habe sich vor einem gitterartigen Pavillon die kleine Jazzkapelle aufgebaut. Die Musik des Kapellmeisters Gregor Eichhorn sollte zu einem „belebenden, witzig-kontrastierenden, dramaturgisch-auflockernden Element der Darbietung“ (ebd.) werden, auch um die „bisweilen schonungslose Härte und Aggressivität der Lommerschen Verse“ (ebd.) nicht noch zu verstärken. Mit den am meisten aufrüttelnden und anklagenden Strophen sei ein vierter Sprecher in Zivil hinzugekommen und habe „Auge in Auge mit dem Publikum das Fazit der unerhörten Tatsachen“ (ebd.) gezogen. Diese Aufführung habe in Weimar mit zehn ausverkauften Vorstellungen auch den „gewünschte[n] Widerhall“ (ebd.) gehabt. Zudem sei sie durch zahlreiche Thüringer Städte gegangen und „führte endlich auf öffentlichem Markte in Weimar von einer Häuserruine herab einer dichtgedrängten Menge in einer starken Demonstration als sinnfälliges und unvergeßliches Menetekel die mahnenden Zeichen einer schaudervollen Vergangenheit vor“ (ebd.).

Quellen:

  • D.R.: „Das Tausendjährige Reich“. In: Berliner Hefte für geistiges Leben (1946), Nr. 6, H. 1, S. 79.
  • Karsch, Walther: „Satire ohne Herz“. In: Tagesspiegel, o.J., o.S. In: Archiv der Akademie der Künste, Horst-Lommer-Archiv 32, o.S.
  • Lommer, Horst: „Über die Entstehung des Buches DAS TAUSENDJÄHRIGE REICH“ [unveröffentlichtes, undatiertes Manuskript], 6 Seiten. In: Archiv der Akademie der Künste, Horst-Lommer-Archiv 236, o.S.
  • Luft, Friedrich: „‚Lyrische Fanfare‘. Horst Lommers ‚Tausendjähriges Reich‘“. In: Berliner Zeitung vom 27.07.1945, o.S. In: Archiv der Akademie der Künste, Horst-Lommer-Archiv 32, o.S.
  • o.A.: „[Rezension]“. In: Die Neue Zeitung vom 12.08.1947, o.S. In: Archiv der Akademie der Künste, Horst-Lommer-Archiv 263, o.S.
  • o.A.: „Im Rampenlicht“. In: Passauer Zeitung vom 15.03.1946, o.S. In: Archiv der Akademie der Künste, Horst-Lommer-Archiv 32, o.S.
  • o.A.: „[Rezension]“. In: Tägliche Rundschau vom 19.04.1946, Nr. 92 (289), o.S. In: Archiv der Akademie der Künste, Horst-Lommer-Archiv 32, o.S.
  • Spiess, S.: „Rezitation oder Theater? Bericht über einen Regieversuch“. o.J, o.S. In: Archiv der Akademie der Künste, Horst-Lommer-Archiv 32, o.S.



Bearbeitet von: Charlotte Kitzinger