Das verlorene Manuskript (1943)

Aus Frühe Texte der Holocaust- und Lagerliteratur 1933 bis 1949
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Angaben zum Werk

Titel Das verlorene Manuskript
Autor Balk, Theodor (1900-1974)
Genre Erinnerungsbericht

Ausgaben des Werks

Ausgabe von 1943, Mexiko
Titel Das verlorene Manuskript

Erscheinungsort Mexiko Stadt
Erscheinungsjahr 1943

Verlegt von El Libro Libre

Publiziert von Balk, Theodor (1900-1974)

Umfang 308 Seiten

Bibliotheksnachweise UBGI-icon.gif UB Gießen (Print-dnb-icon.gif gedruckte Ausgabe)
DNB-icon.gif Deutsche Nationalbibliothek (Online-dnb-icon.gif elektronische Ausgabe)


Zusammenfassung

Der in Deutschland lebende Jugoslawe Theodor Balk erzählt im Wesentlichen chronologisch in jedem Kapitel seiner autobiografischen Reportage einen Lebensabschnitt aus der Zeit des Nationalsozialismus von 1933 bis 1941. Zunächst schildert er sein Leben als Reporter, später als Arzt und Soldat und schließlich als Häftling.

In den Leuna-Werken untersucht Balk 1933 verdeckt die Stickstoffproduktion und wird für diese ‚Industriespionage‘ von der Gestapo gesucht. Er bereist danach die europäischen Nachbarländer Deutschlands und deckt auf, welche Menschen dem Nationalsozialismus dort den Boden bereiten. Er kämpft im Spanischen Bürgerkrieg und wird in Paris verhaftet. Schließlich gelingt ihm die Ausreise nach Mexiko. All diese Erlebnisse und Stationen hält er in verschiedenen Manuskripten fest, die – so kündigt bereits der Titel des Werks an – alle verloren gehen. Häufig bestehen zwischen den einzelnen Kapiteln keine fließenden Übergänge oder inhaltlichen Zusammenhänge. Der Erzählstil ist geprägt von Dialogen, Vorausgriffen und Ergänzungen, die er – auch in Fußnoten – macht.

Das Werk beginnt mit der Flucht Balks über das Riesengebirge aus Deutschland in die Tschechoslowakei kurz nach der Machtübernahme Hitlers. Die Flucht erscheint ihm nach einem Verhör und einer Nacht im Berliner Polizeipräsidium am Alexanderplatz wegen seiner Bekanntschaft mit einem politisch verdächtigen Herausgeber ratsam. Er versucht auch, das Manuskript über seine Recherchen in den Leuna-Werken, das er in Berlin gelassen hat, nachschicken zu lassen und so in Sicherheit zu bringen. Der Versuch, das Manuskript zu retten, schlägt jedoch fehl, sein Helfer wird verhaftet und das Manuskript der Staatsanwaltschaft übergeben. Gegen Balk wird ein Haftbefehl erlassen.

Im April 1935 wird er verhaftet und im Bezirksgefängnis von Brüx, im Norden der Tschechoslowakei, inhaftiert. Nach sieben Wochen Haft wird er entlassen und setzt seine Reise fort. Er spricht mit unzähligen Menschen und versucht ein vollständiges Bild des europäischen Phänomens Nationalsozialismus mit seinen wirtschaftlichen und industriellen Seiten zusammenzusetzten. Nicht überall ist er willkommen. In Frankreich zum Beispiel eröffnet der Generalsekretär ihm, dass sein Aufenthalt im Land unerwünscht sei: „Ihre journalistischen Plaene scheinen mir eher schaedlich als nuetzlich fuer Frankreich zu sein. Und gefaehrlich fuer den Frieden Europas. […] Sie wollen uns in einen Krieg gegen Hitler hetzten. Das sind, wie soll ich sagen, Emigrantenressentiments“ (S. 80).

Seine Beobachtungen und Analysen hält Balk schriftlich fest. Die gesammelten Dokumente umfassen Tagebücher, Flugblätter, Zeitungen, Plakate und Landkarten vom Verein der Auslandsdeutschen. Vor allem letztere zeigen deutlich die Vorstellungen eines neuen Grossdeutschland „von Verdun und Nantes bis Rostov und Reval, von Antwerpen und Kopenhagen bis Triest und Belgrad. Sie umfassen Westfrankreich, Belgien, Holland, Daenemark, die Baltischen Staaten, Polen, die Ukraine, die Tschechoslowakei, Ungarn, Rumaenien, Kroatien, Slowenien, Istrien“ (S. 112f).

Zwischen 1936 und 1939 kämpft Balk im Spanischen Bürgerkrieg als Militärarzt in der Internationalen Brigade. Hier erlebt er den Krieg mit allen seinen Schrecken, den Verwundeten und Toten sowie den Gefahren für das eigene Leben, die auch in inneren Monologen geschildert werden. Das Dasein ist auf das Überleben ausgerichtet, Gefühle und Empfindungen sind ausgeschaltet: „Spaeter, in ruhigen Naechten am Ebro, werde ich von Paniken traeumen, im Schlaf bruellen und meine Leute aufschrecken. Nacht fuer Nacht, viele Naechte lang. Traeumen werde ich von Gesichtern, aus denen jeder rationelle Gedanke gewichen war – einerlei, ob es ein falscher oder richtiger Gedanke gewesen sein moege. Ich werde von Augen traeumen, die irre flatterten“ (S. 124). Im Krankenhaus zu Tarragona, wo er nach einer leichten Verwundung liegt, tippt er sein Manuskript über die Kriegserlebnisse in drei Ausfertigungen. Zwei davon verschickt er an unterschiedliche Personen, beide gehen jedoch verloren.

1939 wird er einige Wochen später in Paris für zehn Tage in Frankreich im Lager Saint Cyprien interniert und das letzte seiner Manuskripte beschlagnahmt. Nach seiner Entlassung kehrt er nach Paris zurück, wo er erfährt, dass seit dem 28. September 1935 eine Ausreiseanordnung gegen ihn vorliegt. Ohne Pass, Visum für ein anderes Land und Geld bleibt ihm jedoch keine andere Möglichkeit, als vorerst illegal bei seinem Bekannten Thorwald Siegel in Paris zu leben. Hier erlebt er auch den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs.

In einer reichsdeutschen Zeitung erscheint unerwartet das erste Kapitel seiner „Reise durch die kuenftigen Kriegsschauplaetze“ – allerdings unter dem Namen von Helen, einer Bekannten aus Prag, die das Manuskript aus Balks Prager Wohnung geholt hatte. Der Text ist mit lauter neuen Zusätzen, Korrekturen und Streichungen versehen: „Uebertuencht und mit neuen Farben uebermalt, mit einem neuen Autor an der Spitze, erlebte es eine Wiederauferstehung, die aerger war, als sein Tod gewesen waere“ (S. 188).

Wie es zu seiner erneuten Verhaftung und Inhaftierung im französischen Internierungslager von Vernet kommt, bleibt unklar. Balk beschreibt den militärischen Drill und trostlosen Alltag der Häftlinge dort. Trotz des Versprechens des Lagerkommandanten, die Häftlinge nicht an die Deutschen auszuliefern, plant Balk die Flucht. Erneut muss er eines seiner neu entstandenen Manuskripte vernichten, da bei der Flucht keine Papiere mitgenommen werden können. Die Flucht nach Andorra wird jedoch nie realisiert. Ein halbes Jahr später gelangt Balk in den Besitz eines Visums für Mexiko und wird in das Ausreiselager von Les Milles gebracht. Viele Monate wartet er auf die notwendigen Papiere und die Möglichkeit auszureisen. Schließlich bekommt er Platz an Bord eines Schiffes, das von Marseille über Martinique nach New York fahren soll. Wehmütig ist ihm bei dem Gedanken, seine Freunde und Bekannte zurückzulassen, die in Marseille noch auf die Ausreise warten: „Freunde, Freunde! Das ist zu viel. Ich fahre in die Freiheit, in den Ueberfluss. Ihr verbleibt in Europa, im Europa der Lebensmittelkarten und des Hungers, im Europa der Bespitzelung und der Sondergerichte, im Europa der Konzentrationslager und der Erschiessungspelotons“ (S. 278).

Nach einigen Gerüchten und Unsicherheiten über das Ziel des Schiffes und das Schicksal der Reisenden sowie einem Aufenthalt in dem englischen Internierungslager Nelson Island will Balk von Port of Spain aus per Schiff die USA erreichen, „von wo es eine regelmaessige Schiffsverbindung mit Mexiko gibt“ (S. 305). Da die Barkasse, die Balk von Nelson Island nach Port of Spain bringt, ein Leck hat, wird auch Balks Koffer, auf dessen Boden sich ein neues Manuskript befindet, durchnässt, wie er an Bord der Acadia entdeckt: „Ich halte die Blaetter meiner Marseiller Aufzeichnungen in der Hand, einen teigigen Klumpen“ (S. 308). Darin, so schließt Balk seine Aufzeichnungen, liege eine Konsequenz: „Mit Leuna hat sie begonnen und hier mit Trinidad schließt sie ab, eine Zeit, die vielleicht die unheilvollste in der Geschichte der Menschheit gewesen ist. Eine Zeit, in der manche ihr Manuskript, viele ihr Leben verloren haben“ (ebd.).


Biografie

Theodor Balk, eigentlich Fodor Dragutin, auch T.K. Fodor, (geb. am 22.09.1900 in Semlin bei Belgrad, gest. am 25.03.1974 in Prag) wurde in eine deutsch-jüdische Familie geboren und studierte in Zagreb und Wien Medizin. Er promovierte 1925. Danach ließ er sich in Belgrad nieder, wo er auch Beiträge für die kommunistische Presse verfasste. 1929 wanderte er aus politischen Gründen nach Deutschland aus und wurde Mitglied der KPD. Er schrieb für „Die Linkskurve“ und „Die Rote Fahne“. 1933 emigrierte er über Prag nach Paris, wo er Mitarbeiter deutschsprachiger Exilperiodika wie „Internationale Literatur“, „Neue Deutsche Blätter“ und „Das Wort“ war. Hier lernte er auch seine zukünftige Frau Lenka Reinerová kennen, die er 1943 heiratete. Seit 1936 nahm Balk als Bataillonsarzt der Internationalen Brigade am Spanischen Bürgerkrieg teil. 1939 kehrte er nach Frankreich zurück, wo er interniert wurde. 1941 konnte er nach Mexiko emigrieren, wo er einer der führenden Mitarbeiter der Zeitschrift „Freies Deutschland“ wurde. Nach Kriegsende kehrte Balk 1945 nach Jugoslawien zurück, wo in Belgrad seine Tochter geboren wurde. Wegen einer schweren Erkrankung wurde Balk dort in eine Klinik eingeliefert. Bei dem anschließenden Kuraufenthalt in Karlsbad beschloss die Familie, nicht mehr nach Jugoslawien zurückzukehren. Ab 1948 lebte die Familie in Lenka Reinerovás Heimatstadt Prag.

Quellen:


Werkgeschichte

„Das verlorene Manuskript“ erschien erstmals 1943 in Mexiko. Eine weitere deutsche Ausgabe wurde 1949 im Berliner Dietz Verlag publiziert, die zudem zwei neue Kapitel enthielt. Ungekürzte Neudrucke auf der Grundlage der Ausgabe von 1943 erschienen 1979 im Hildesheimer Verlag Gerstenberg sowie 1983 im Frankfurter Fischer Taschenbuch Verlag. Dem Neudruck von 1979 wurde eine Rezension von Egon Erwin Kisch vorangestellt. Übersetzungen erschienen 1944 in Buenos Aires im Lautaro Verlag unter dem Titel „El manuscripto perdido“ sowie 1950 ins Schwedische im Stockholmer Arbetarkulturs Förlag unter dem Titel „Manuskriptet som kom bort“.



Bearbeitet von: Charlotte Kitzinger