Der Ausflug der toten Mädchen (1946)

Aus Frühe Texte der Holocaust- und Lagerliteratur 1933 bis 1949
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Angaben zum Werk

Titel Der Ausflug der toten Mädchen
Autor Seghers, Anna (1900-1983)
Genre Erzählungen

Ausgaben des Werks

Ausgabe von 1946, New York
Titel Der Ausflug der toten Mädchen
Untertitel und andere Erzählungen

Erscheinungsort New York
Erscheinungsjahr 1946

Verlegt von Aurora Verlag

Publiziert von Seghers, Anna (1900-1983)

Umfang 127 Seiten

Bibliotheksnachweise UBGI-icon.gif UB Gießen (Print-dnb-icon.gif gedruckte Ausgabe)


Zusammenfassung

Der Band enthält drei Erzählungen „Der Ausflug der toten Mädchen“, „Post ins gelobte Land“ und „Das Ende“, die in Anna Seghers Exil in Mexiko entstanden.


„Der Ausflug der toten Mädchen“

Die fiktive, aber mit autobiografischen Elementen durchwobene Erzählung „Der Ausflug der toten Mädchen“ entstand 1943/44 in mexikanischem Exil, kurz nachdem Seghers von der Deportation ihrer Mutter in das polnische Konzentrationslager Piaski erfahren hatte und sich von einem Unfall erholte, der sie fast das Leben gekostet hat. Die Autorin selbst – im Text ‚Netty’ genannt, das ist Anna Seghers ursprünglicher Name – ist die Hauptfigur und Ich-Erzählerin des Textes.

Die Handlung spielt auf drei verschiedenen Zeitebenen: der Gegenwart in Mexiko 1943, bei einem Schulausflug an das Rheinufer bei Mainz vor dem Ersten Weltkrieg und im nationalsozialistischen Deutschland. Diese Zeitebenen werden ständig miteinander verwoben und einander gegenübergestellt. Dies geschieht über Darstellungen von Sinnesempfindungen und anhand von Motiven wie Müdigkeit, Dunst und Nebel. Im Gegensatz zu der Seghers vertrauten rheinländischen Heimat werden die mexikanische Landschaft und ihre Bewohner als surreal und fremd dargestellt. Die Zeit der Kindheit und Jugend wird zudem mit märchenhaften Attributen belegt: „Es klang, als schlürfe ein bärtiger Riese“ und „Während die teils gesitteten, teils strolchigen Buben, die um den ‚Greis‘ herumbummelten, den Kobolden aus der Sage glichen, war der Mädchenschwarm drunten im Garten piepsig und elfig“ (beide Zitate S. 24).

Die Erinnerungen an den Ausflug ihrer Mädchenklasse und die Schicksale der einzelnen Mädchen erstrecken sich über den Ersten Weltkrieg hinaus, bis hin zu ihrem Tod im Nationalsozialismus. Netty selbst ist die einzige dieser Klasse, die den Zweiten Weltkrieg mit ihrer Flucht ins Exil überlebt. Die Mädchen stehen exemplarisch für eine Bandbreite an Schicksalen und Verhaltensmöglichkeiten im Nationalsozialismus, repräsentieren also einen Querschnitt der Gesellschaft. Sie stehen stellvertretend für Mitläufertum und Bekenntnis zum Nationalsozialismus einerseits, Exilerfahrung, politisch und religiös motiviertem Widerstand sowie jüdischen Opfern des Holocaust andererseits.

Die zentrale Frage der Erzählung, wie es dazu kommen konnte, dass aus dieser fröhlichen Mädchenschar 25 Jahre später Täter auf der einen und Opfer auf der anderen Seite werden, wird vor allem anhand der Figuren Leni und Marianne erörtert. Sie sind in Kindheitstagen Nettys beste Schulfreundinnen, später wird jedoch Leni Kommunistin und Marianne überzeugte Nationalsozialistin, die ihre frühere Freundin im Stich lässt, als diese sie braucht. Auch Frau Sichel, der jüdischen Lehrerin, die die Mädchen auf dem Ausflug begleitet, kommt eine wichtige Rolle innerhalb der Erzählung zu. Sie stellt Netty die Aufgabe, „den Schulausflug sorgfältig zu beschreiben“ (S. 35). Diesen Auftrag erfüllt diese dann im mexikanischen Exil.

Mit der Erzählung erinnert Seghers an die jüdischen Opfer des Holocaust, zu denen auch ihre eigene Mutter zählt. Am Ende der Erzählung kommt Netty vom Schulausflug nach Hause und wird von ihrer Mutter am oberen Treppenabsatz bereits erwartet. Netty freut sich auf eine Umarmung der Mutter. In der Erinnerung trägt die jüngere, unbeschwerte Mutter volles, braunes Haar. Nettys eigenes Haar im Exil ist dagegen bereits grau. „Sie stand vergnügt und aufrecht da, bestimmt zu arbeitsreichem Familienleben, mit den gewöhnlichen Freuden und Lasten des Alltags, nicht zu einem qualvollen, grausamen Ende in einem abgelegenen Dorf, wohin sie von Hitler verbannt worden war“ (S. 33f.). Die Treppenstufen könnten Netty nach oben zu ihrer Mutter führen. Doch sie verbildlichen auch die Unmöglichkeit der Wiedervereinigung. Denn Nettys Schritte auf der Treppe werden immer schwerer und das Bild ihrer Mutter verschwimmt im Nebel. Langsam kehrt Netty wieder in die gegenwärtige mexikanische Landschaft der Rahmengeschichte zurück. Sie kommt nie bei ihrer Mutter an.


„Post ins gelobte Land"

Die fiktive Erzählung ist 1945 im mexikanischem Exil entstanden und beschreibt die Geschichte einer jüdischen Familie über vier Generationen hinweg. Seghers stellt anhand der Familie Grünbaum/Levi das Schicksal des jüdischen Volkes dar – Verfolgung, Vertreibung, Neubeginn in der Fremde, erneute Verfolgung und schließlich auch Vernichtung.

Die Handlung, die in der Vergangenheitsform geschildert wird und den Fokus immer wieder zwischen den einzelnen Figuren hin und her wandern lässt, beginnt in den 1890er Jahren in dem polnischen Stetl L., von wo die Familie durch antisemitische Pogrome vertrieben wird. Über Wien und Kattowitze gelangt das Ehepaar Grünbaum mit dem Schwiegersohn Nathan Levi und dem Enkel Jakob schließlich nach Paris zu Nathans reichem Bruder Salomon, wo sie sich für viele Jahre niederlassen. Jakob wird nach dem Ersten Weltkrieg ein berühmter Augenarzt. Dann trennen sich die Wege der einzelnen Familienmitglieder. Die Hauptfigur Nathan Levi geht nach Palästina, um dort seinen Lebensabend zu verbringen. Sein Sohn Jakob bleibt mit Frau und Kind in Paris, wo er einige Jahre später einer schweren Krankheit erliegt. Als die Nationalsozialisten in Paris einmarschieren, flieht Jakobs Frau mit ihrem Sohn nach Marseille, um von dort Europa mit dem Schiff zu verlassen. Weil das Kind verletzt und zu schwach ist, verzögert sich die Abfahrt immer mehr, bis beide von den Nationalsozialisten gefasst und nach Polen deportiert werden.

Thematisiert werden neben den verschiedenen Exilerfahrungen der einzelnen Familienmitglieder vor allem Tendenzen innerhalb des Judentums und die Auseinandersetzung mit der jüdischen Tradition. Beide Konzepte – Assimilierung und Zionismus – verhindern jedoch die Verfolgung und Vertreibung nicht. Orthodoxes Judentum und gelebte jüdische Traditionen werden durch die ersten Generationen der Familie repräsentiert, die fortschreitende Assimilierung der Juden beschreibt Seghers vor allem an der dritten und vierten Generation der Familie Levi. Nur eine Figur – Nathan Levi – trägt sowohl Vor- als auch Nachnamen, die übrigen werden lediglich durch Vornamen oder über ihre Verwandtschaftsbeziehung zueinander identifiziert.

Tiefe Liebe und Zuneigung verbinden die Familienmitglieder trotz aller räumlichen Entfernung und ideologischen Unterschiedlichkeit miteinander. Dies wird durch einige Motive symbolisiert, die ihren Ursprung in der jüdischen Tradition haben – das Motiv der ‚Post‘, das schon durch den Titel der Erzählung als Hauptmotiv gekennzeichnet ist, und das Motiv des ‚Kaddisch‘, des Totengebets, das sich ebenfalls durch die gesamte Erzählung zieht und die toten Familienmitglieder mit den Lebenden verbindet. Auch der Schein von Kerzen ist ein Leitmotiv und wird zum Symbol für Geborgenheit und Verbundenheit der Familienmitglieder. „Nur an den Festtagen war er [Levi] mit Leib und Seele daheim, als ob ihn das sanfte Kerzenlicht fester schmiede als alle Streite und Meinungen, aber auch fester als alle Rufer und Pfiffe“ (S. 47).

Die Briefe, die der Sohn Levi dem ins gelobte Land, nach Palästina, ausgewanderten Vater Nathan Levi schreibt, werden für diesen lebensbestimmend. Sie verbergen jedoch die wahren Tatsachen. Sie enthalten ausschließlich leichte und heitere Dinge, „die nichts auf der Welt veränderte“ (S. 57). Selbst seine tödliche Krankheit verschweigt der Sohn dem Vater und schreibt Briefe auf Vorrat, die dem Vater nach seinem Tod zugeschickt werden sollen. Nathan, der darauf konzentriert ist, in Ruhe zu sterben, nimmt die Briefe des Sohnes als unumstößlichen Lebensbeweis seines Sohnes an. In dessen Worte interpretiert er sogar seinen eigenen Willen und seine eigene Vorstellung hinein. Und auch umgekehrt nimmt sich Nathan vor, „von jetzt an seine Leiden und Schwächen zu verschweigen“ (S. 56). So werden die Briefe zu einem die Familienmitglieder vereinenden Wunsch, den unerträglichen und unaussprechlichen Ereignissen im Holocaust ein – zumindest in den Briefen – ‚normales‘ und undramatisches Leben entgegenzusetzen und den geliebten Menschen Schmerz zu ersparen.

Der letzte Brief trifft noch nach dem Tod der gesamten Familie – von französischen Freunden in Algier im Namen des Sohnes verfasst – bei Levi ein, als dieser ebenfalls schon beerdigt ist. Die ehemaligen Hausbewohner Nathan Levis, für die die Briefe ebenfalls längst ein Teil ihres Lebens geworden sind, empfangen ihn. „Sie waren bereits so stark an die Ankunft der Briefe gewöhnt, daß sie auch jetzt nach Levis Tod diesen Brief auf dem gewohnten Platz miteinander lasen“ (S. 68).


„Das Ende“

In dieser Erzählung stellt Anna Seghers einen intertextuellen Bezug zu ihrem Roman „Das siebte Kreuz“ her, indem sie das Leben des fiktiven SA-Mannes Zillich weiterführt. Auch andere Figuren aus dem Roman von 1942 erscheinen hier wieder. Thematisiert wird unter anderem die Frage nach dem Umgang mit den Tätern nach dem Untergang des Nationalsozialismus.

Der Hauptfokus liegt auf der Figur Zillich. In „Das siebte Kreuz“ zeichnet er sich im fiktiven Konzentrationslager Westhofen durch äußerste Brutalität aus. „Das Ende“ beschreibt nun seinen Versuch nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs einer Bestrafung zu entgehen. Wie auch schon im Roman schreibt Seghers in Vergangenheitsform. Die häufige Verwendung der direkten Rede stellt jedoch immer wieder auch eine Unmittelbarkeit des Geschehens her. Innere Monologe und erlebte Reden gewähren einen direkten Zugang in die Gedankenwelt der Figur Zillichs.

Seghers lässt eine Vielzahl von Figuren erscheinen, die stellvertretend für die Durchschnittsbevölkerung im Nachkriegsdeutschland stehen. Zu den verschiedenen Personengruppen gehören etwa der heimgekehrte Soldat, der überlebende Konzentrationslagerhäftling, das junge, am Krieg direkt nicht beteiligte Kind. Bereits so kurz nach dem Krieg, ist bei den meisten der Wunsch nach Verdrängen statt Aufarbeitung, nach Ruhe und Ordnung spürbar.

Nach und nach erfährt der Leser von Zillichs Vergangenheit. Seine Karriere im Nationalsozialismus hatte er nach seiner Tätigkeit im Konzentrationslager Westhofen schließlich im Durchgangetto Piaski beendet. Hier fand auch Seghers Mutter den Tod. Nun hat es er 1.000 Kilometer weit und durch drei Armeen durch in die amerikanische Besatzungszone in die heimatliche Gegend um Mainz herum zurück geschafft. Immer wieder begegnet ihm jedoch ein „Männlein“ (S. 82) in einer lang gestrickten Frauenjacke mit einer gelben Aster im Knopfloch, das Zillich zu erkennen scheint und ihn zu seiner Person ausfragt. Die Aster ist ein Symbol in der Traumdeutung und wird in der Deutung je nach Farbe unterschieden. Man versteht sie auch als Symbol der Würde. Der ehemalige Konzentrationslagerhäftling Volpert ist Zillich ebenfalls auf der Spur. Er ist durchaus ambivalent besetzt und symbolisiert die Trauer und den Wunsch nach Vergeltung. Ihm ist jedoch durchaus bewusst, dass die Rache an Zillich ihn von seiner Trauer nicht erlösen kann.

Zillich wandert immer weiter durch die zerstörte Landschaft seiner Heimat. Er nimmt unter falschem Namen immer neue Gelegenheitsarbeiten an verschiedenen Orten an, in der Hoffnung, nicht ein weiteres Mal erkannt zu werden. Reue spürt er keine. Äußerlich hat er sich an die Bedingungen der Nachkriegszeit angepasst, seine Werte sind jedoch unverändert. Er empfindet im Gegenteil Enttäuschung und Verbitterung über eine Volksgemeinschaft, die ihn nun fallen lässt. „Ein wahrer Dreck, diese Volksgemeinschaft. Die ließ es doch glatt geschehen, wenn einer vor ihren Augen geschnappt wurde. Da hatte man jahrelang mühsam alle Halunken aus ihr herausgepickt, die Hände sich wund an ihnen geschlagen. […] Der Dank? Man ließ die Ausländer schalten und walten“ (S. 98). Hilfe findet er nirgendwo mehr. Auch seine Familie wendet sich schließlich von ihm ab. Am Ende sieht Zillich nur noch einen Ausweg und erhängt sich.

Neben der düsteren und trauernden Grundhaltung der Erzählung wird eine gewisse verhaltene und ambivalente Zukunftshoffnung durch den Lehrer Degreif und den jungen Sohn Zillichs symbolisiert. Aber auch sie stehen für keinen gänzlich neuen Anfang. Der Sohn ist ebenso durch den Krieg geprägt wie der alte, schwer kranke Lehrer Degreif, der nun die Vaterrolle für ihn übernimmt. Als er dem Sohn die Nachricht vom Tode des Vaters überbringt, strahlt dessen ganzes Gesicht vor Freude. Diese Reaktion erzeugt bei Degreif Bestürzung und Widerwillen: „Von allen Schrecken der letzten Jahre erschien ihm der Freudenausbruch des Kindes der eisigste und der schneidendste“ (S. 127).

Auch der Überlebende Volpert ist zwar körperlich gesund, aber seelisch zerstört. Und so geht es in dieser Erzählung, wie schon der Titel suggeriert, zunächst einmal nur um „Das Ende“ von etwas, ob es auch ein Anfang sein kann, lässt die Erzählung offen.


Biografie

Anna Seghers (geb. 19.11.1900 in Mainz, gest. 01.06.1983 in Berlin), bürgerlicher Name Netty Radványi (geb. Reiling), wurde als einzige Tochter des jüdischen Kunst- und Antiquitätenhändlers Isidor Reiling und dessen Ehefrau Hedwig (geborene Fuld) in Mainz geboren. Ab 1920 studierte sie in Köln und Heidelberg Geschichte, Kunstgeschichte und Sinologie. 1924 promovierte sie an der Philosophischen Fakultät in Heidelberg zum Thema „Jude und Judentum im Werke Rembrandts“. 1925 heiratete Anna Seghers den ungarischen Schriftsteller und Soziologen László Radvanyi, mit dem sie in Berlin lebte und zwei Kinder bekam. Seghers trat 1928 der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) bei und war im Jahr darauf Gründungsmitglied des „Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller“. Wegen ihrer Parteizugehörigkeit und ihrer jüdischen Abstammung floh sie 1933 über die Schweiz nach Paris, sieben Jahre später in den noch unbesetzten Teil Frankreichs. 1935 war sie eine der Gründerinnen des „Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller“ in Paris. 1940 emigrierte sie nach Mexiko. Im Exil arbeitete sie an Zeitschriften deutscher Emigranten mit, unter anderem war sie Mitglied der Redaktion der „Neuen Deutschen Blätter“. 1947 kehrte Seghers nach Deutschland zurück und ließ sich in Ostberlin nieder. In der Exilliteratur spielte sie nicht nur als Organisatorin eine wichtige Rolle, sondern schrieb mit „Das siebte Kreuz“ und „Transit“ auch zwei der literarisch bedeutendsten Romane dieser Zeit. Anna Seghers hat für ihr schriftstellerisches Schaffen zahlreiche Preise und Auszeichnungen erhalten. Unter anderem ehrte die DDR sie 1951 mit dem Nationalpreis und von 1952 bis 1978 war sie Präsidentin des Schriftstellerverbands der DDR.

Quellen:

  • Anna Seghers. Online: http://anna-seghers.de (Stand: 17.09.2019).
  • Leis, Mario: Anna Seghers. „Das siebte Kreuz“. Stuttgart 2009.
  • Neugebauer, Heinz: Anna Seghers. Berlin 1980.
  • Vogt, Jochen: „Anna Seghers – ‚Das siebte Kreuz’“. In: Kindlers Literatur Lexikon. 3, völlig neu bearbeitete Auflage. Hg. von Ludwig Arnold. Stuttgart/Weimar 2009. Online: www.kll-online.de (Stand: 17.09.2019).


Werkgeschichte

Werkgeschichte zu „Der Ausflug der toten Mädchen“

Seghers flüchtete im Jahre 1941 ins Exil nach Mexiko und fing 1943 an, diese Erzählung zu verfassen, die sie 1944 abschloss. 1946 wurde sie in New York im Aurora-Verlag zusammen mit zwei weiteren Erzählungen „Artemis“ und „Das Obdach“ veröffentlicht. In einer der damals bedeutendsten Literaturzeitschriften „Die Fähre“ wurde 1946 die erste Buchkritik dazu veröffentlicht. „Das neue Buch der Kleist-Preisträgerin Anna Seghers, die auf ihrer Flucht vor dem Nationalsozialismus über Frankreich nach Mexiko kam, enthält drei Erzählungen, die gleichwertig an Gestaltungskraft und innerem Rang, das ungewöhnliche künstlerische Können der Dichterin neuerdings unter Beweis stellen. Die erste Erzählung, die auch dem Band den Titel gibt, ist die interessanteste. […] Gemeinsam ist allen drei Erzählungen, daß sie zugleich die Macht der Toten zeigen, die ihre lichten und dunklen Schatten auf unseren Weg werfen“ („Die Fähre“ 1946, zit. nach Hotz 1993, S. 57).

Am 24. Juni 1943 wurde Seghers in Mexiko in einen Autounfall verwickelt, von dem sie sich nur langsam erholte. Der Unfall – nach dem sie vier Tage bewusstlos war – hatte schwere Kopfverletzungen, verletzte Augennerven und eine Amnesie zur Folge. Kurz vor der Entstehung ihrer Erzählung erfuhr sie zudem vermutlich vom Tod ihres Vaters, der Deportation ihrer Mutter in das polnische Konzentrationslager Piaski und der weitgehenden Zerstörung ihrer Heimatstadt Mainz. Beide Ereignisse sind in die Erzählung eingegangen. Die Verletzung der Augennerven ist in kunstvoller Verschlüsselung als literarisches Motiv des Nebels und Dunst „mit denen die Verschränkung der Zeitebenen und der Durchbruch ins Surreale realisiert werden“ (Pohle, Fritz: Argonautenschiff 1992, S. 45., zit. nach Hotz 1993, S. 60) eingebettet. Er begleitet die Ich-Erzählerin Netty während des Ausflugs „mal sich verdichtend, mal sich lichtend. Seine Funktion ist der eines Objekts vergleichbar, das den Wechsel der Orte und Zeiten durch die Bewegungen zwischen Schärfe und Unschärfe und zwischen Totale und Detail erlaubt“ (ebd.).

„Der Ausflug der toten Mädchen“ wird daher oft als das einzige literarische Werk Seghers gesehen, dass eindeutig autobiographische Züge aufweist und als ein literarisches Mittel, die ersten nach dem Unfall zurückkehrenden Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend festzuhalten, aber auch als Versuch, sich mit dem Tod, dem sie - im Gegensatz zu ihren Schulkameradinnen, Lehrern und Eltern - so knapp entkommen war, auseinanderzusetzen. 

Anna Seghers selbst scheint die Erzählung auch besonders wichtig gewesen zu sein. So antwortete sie in einem Interview mit Christa Wolf 1965 dieser auf die Frage, ob dies sie einzige Erzählung Seghers mit biographischen Zügen sei: „Meine Freunde und auch ich selbst, wir haben diese Erzählung ‚Ausflug der toten Mädchen‘ gern. Ich muß sogar offen sagen , obwohl ich sonst kein sehr direktes Verhältnis habe zu dem, was ich schreibe, ich kann diese Geschichte gut leiden. Und wenn ich sage, meine Freunde haben diese Geschichte auch gern, dann meine ich Menschen aus beiden Deutschland und auch aus anderen Ländern. Menschen also aus dem Rheinland, meiner Heimat, die diese Geschichte sofort begriffen haben, und auch Menschen aus der Sowjetunion, die weit weg sind und was ganz anderes mitgemacht haben“ (Christa Wolf 1965, zit. nach Hotz 1993, S. 55).

Auch äußerte Sehghers dem Verlag gegenüber Vorstellungen, wie der Schutzumschlag gestaltet werden sollte: „Macht doch drei schöne Mädchen vor dem Ersten Weltkrieg mit Zöpfen usw., die man Lust hat, anzugucken. Sie können sein, wie sie wollen. Laßt sie über Trümmer hüpfen oder über zerbrochene Brücken, orthodox-realistisch brauchen sie ja nicht zu sein, dafür sind sie tot. Wenn Ihr wollt, schlage ich Euch einen bekannten von mir vor, der freut sich dann sehr“ (Anna Seghers, Brief vom 09.10.1947., zit. nach Hotz 1993, S. 54). Diese Idee hat der Verlag letztlich nicht realisiert. Im Neubau von 1948 wird den Erzählungen „die Patina eines abgründigen Leides“ bescheinigt: „Aus einem ihr angetanen offenbar unaufhebbaren und von ihr als unvergebbar empfundenen Leid schimmert zuweilen das verhaltene Licht starker Liebe zu allem Guten und menschlich Echtem und Schönem in weher Erinnerung an vergangene helle Jugendtage in der merkwürdigen Rahmenerzählung ‚Der Ausflug der toten Mädchen‘. Allein ebenso mächtig, wenn nicht ausschließlich bestimmend, waltet der Geist unerbittlicher Rache, wie er sich im Selbstgericht des gehetzten vielfachen Mörders Zillich in der Erzählung ‚Das Ende‘ oder im verbissenen Abwehrwillen der unter Lebenseinsatz hinter der Front arbeitenden ‚Saboteure‘ verwirklicht“ (Neubau 3/1948, S. 300).

„Das goldenen Tor. Die Monatsschrift für Literatur“ bedauerte 1947, dass die in New York erschienen drei Erzählungen - „zweifellos das Beste der modernen deutschen Dichtung! - immer noch nicht in Deutschland gelesen werden können“ (Das goldene Tor 1947, S. 580f.). Auch befreundete Schriftsteller lobten die Erzählung. So schrieb der befreundete Schriftstleer Konrad Farner 1960 an Seghers: „[E]rst 1946 hielten wir endlich ein neues Buch von Dir in den Händen; es war der Novellenband ‚Der Ausflug der toten Mädchen‘. Ich weiß nicht, wie oft ich diese Dichtungen damals meinen Freunden vorgelesen, ich weiß nur noch, daß sie uns tief berührten. Wiederum befanden wir uns im Banne Deiner Traum-Nüchternheit, wiederum vernahmen wir Deine Geschichts-Gleichnisse, horchten wir dem oft harten, mehr noch hartnäckigen Klang Deiner Sprache, dieser Sprache, die dunkel und hell, warm und kühl zu tönen vermag, die fraulich und männlich zugleich“ (Konrad Farner 1960, zit. nach Hotz 1993, S. 53).


Quellen:

  • Berendt, Joachim Ernst: „Neue Bücher“. In: Das goldene Tor. Monatsschrift für Literatur (1947), H. 6, S. 580f.
  • Hotz, Karl: Anna Seghers. Der Ausflug der toten Mädchen. Buchners Lesereihe Deutsch. Hg. von Krejci, Michael und Jakob Lehmann, H. 6, Bamberg 1993.
  • Neugebauer, Heinz: Anna Seghers. Berlin 1980.
  • Ölke, Martina. „Eine Unterrichtseinheit zu Anna Seghers ‚Der Ausflug der toten Mädchen‘ und ‚Das Ende‘ in der gymnasialen Oberstufe“. In: Argonautenschiff: Jahrbuch der Anna-Seghers-Gesellschaft Berlin und Mainz e.V. (2005), Nr. 14, S. 257-271.
  • Pottmeyer-Gerber, Christiane: „Die Bedeutung der Eltern und des Elternhauses in den Erinnerungen von Anna Seghers ‚Der Ausflug der toten Mädchen‘ und Rigoberta Menchús ‚Enkelin der Maya‘“. In: Argonautenschiff: Jahrbuch der Anna-Seghers-Gesellschaft Berlin und Mainz e.V. (2010), Nr. 19, S. 315-323.
  • Riedel, Otto: „Prosa“. In: Neubau (1948), Nr. 3, S. 300.



Bearbeitet von: Charlotte Kitzinger