Der gesegnete Abgrund (1946)

Aus Frühe Texte der Holocaust- und Lagerliteratur 1933 bis 1949
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Angaben zum Werk

Titel Der gesegnete Abgrund
Autor Herbermann, Nanda (1903-1979)
Genre Erinnerungsbericht

Ausgaben des Werks

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Ausgabe von 1946, Bamberg,Nürnberg,Passau
Titel Der gesegnete Abgrund
Untertitel Schutzhäftling Nr. 6582 im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück

Erscheinungsort Bamberg,Nürnberg,Passau
Erscheinungsjahr 1946

Verlegt von Glock und Lutz Verlag
Gedruckt von Verlagsdruckerei Rothenburg o. Tbr.
Publiziert von Herbermann, Nanda (1903-1979)

Umfang 203 Seiten

Lizenz Published under authority of 6870 District Information Services Control Command license number US-E-113

Bibliotheksnachweise UBGI-icon.gif UB Gießen (Print-dnb-icon.gif gedruckte Ausgabe)
UBGI-icon.gif UB Gießen (Online-dnb-icon.gif elektronische Ausgabe)


Zusammenfassung

Fünf Monate Einzelhaft in Münster und eineinhalb Jahre ‚Schutzhaft‘ im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück vom Februar 1941 bis März 1943 sind Gegenstand des Erinnerungsberichts von Nanda Herbermann. In kurzen Kapiteln und überwiegend chronologisch schreibt sie unmittelbar nach Kriegsende mit dem Anspruch dieses „so objektiv und wahrheitsgetreu [zu tun], daß der Leser sich ein klares Bild dieses Höllenlebens machen kann“ (S. 201). Mehrfach äußert sie dabei die Befürchtung, dass der Leser ihre Erzählungen nicht glauben oder diese übertrieben finden könnte. Ihr Anliegen ist jedoch auch, deutlich zu machen, dass man die Deutschen als Volk nicht einfach mit „diesen Naziverbrechern“ (S. 202) gleichsetzen dürfe: „Diese Konzentrationslager sind ganz und gar eine Ausgeburt der verbrecherischen Machthaber des Dritten Reiches und gewiß nicht des deutschen Volkes“ (S. 74, Hervorhebung im Original). Denn die Lager seien undeutsch, unmenschlich und unwürdig. Wiederkehrendes Thema des Textes ist zudem das ständige Ringen darum, trotz der widrigen und lebensfeindlichen Bedingungen Gelassenheit und Lebensmut zu bewahren, Gottes Gegenwart zu spüren und im Glauben Trost zu finden. Der über weite Teile eher berichtende Charakter des Textes wird immer wieder durch sehr persönliche Beobachtungen und der Schilderung von Empfindungen und Gefühlszuständen durchbrochen.

Bereits 1934 gerät die tiefgläubige Katholikin erstmals als Sekretärin von Pater Friedrich Muckermann ins Visier der Gestapo. Als dieser nach Holland flieht, gibt sie unter schwierigen Bedingungen den von Pater Muckermann begründeten Zeitungsdienst „Der Gral“ weiter heraus. Mehrfach fährt sie zwischen 1934 und 1935 nach Holland, um Muckermann einige Gegenstände zu bringen. Dafür wird sie schließlich am 4. Februar 1941 verhaftet und in das Polizeigefängnis in Münster gebracht. Die wiederholten Verhöre der Gestapo, der Dreck, die Enge sowie die mangelnden Möglichkeiten zur Körperhygiene lassen sie verzweifeln und manchmal den Tod herbeisehnen. Bisweilen umfängt sie tiefstes Dunkel in den langen, oft schlaflosen Nächten. Allein der Glaube und das Vertrauen in Gott halten sie in dieser Zeit aufrecht. Es fällt ihr jedoch schwer zu begreifen, warum Gott so viel grenzenloses Leid, soviel sinnlosen und wahnsinnigen Schmerz geschaffen hat. Einzig der Sonntag ist ein Lichtblick, wenn sie zur Heiligen Messe darf. Im Juli 1941 muss sie während schwerer nächtlicher Luftangriffe auf Münster alleine in einer verriegelten Zelle sitzen.

Ende Juli 1941 folgt der Transport nach Ravensbrück. In Bochum wird sie auf einen Zug in einen Waggon voller „Dirnen“ (S. 57) geladen. In drastischen Worten beschreibt sie diese Frauen, die „[b]ehaftet mit körperlichen Krankheiten, […] entfesselt und großgezogen wurden in der Unterwelt der Menschheit, verkommen an Leib und Seele, alle Merkmale einer furchtbaren Seuche an sich“ (S. 61), bei ihr großen Ekel hervorrufen. Ihre ausgeprägte Abscheu vor Ungeziefer und Unsauberkeit wird auch im Gefängnis Berlin Alexanderplatz, wo der Transport eine kurze Zwischenstation macht, auf eine harte Probe gestellt. Hier lernt sie erstmals die Plagen durch Wanzen kennen: „Ausgerechnet in der Reichshauptstadt des ‚glorreichen Führers‘, im größten Gefängnis Deutschlands, war alles verdreckt, verwanzt und verlaust“ (S. 60). Am 1. August 1941 erreicht sie Ravensbrück. Sie bekommt einen roten Winkel und die Häftlingsnummer 6.582. Splitternackt und erniedrigt steht sie vor der SS. Einziger Lichtblick: Das Scheren des Kopfes bleibt ihr – auch später – erspart, da sie im Gegensatz zu vielen anderen Frauen keine Läuse hat, wie sie an mehreren Stellen im Text betont. Denn an die geschorenen Köpfe, die ‚grausig‘ anzusehen sind und die Frauen wie „Gnomen“ (ebd.) aussehen lassen, kann sie sich nicht gewöhnen. Selbst unter den widrigen Umständen und ohne die Möglichkeit, Kleidung und Bettwäsche regelmäßig zu wechseln, ist für Herbermann eine – zumindest notdürftige – Körperhygiene unverzichtbar. Besonders die ersten Wochen in Ravensbrück werden für die Autorin zur Hölle. Sie verliert kurzzeitig sogar ihre Sprache. Die Häftlinge seien verderbt, neidisch, missgünstig, lügnerisch und gemein. Sie machten das Leben zu einer „Extrahölle in der Hölle“ (S. 69). Mehrmals vergleicht sie ihre Erlebnisse mit den Schilderungen Dostojewskis in „Aufzeichnungen aus einem Totenhause“.

Bewundernd zeigt sie sich den inhaftierten Bibelforscherinnen gegenüber, in deren Barracke es keinen Zank, keinen Verrat und keinen Diebstahl gebe: „Ich persönlich habe die Bibelforscher, mit deren Anschauung im Übrigen ich mich bestimmt nicht einverstanden erklären konnte, sehr geachtet. Sie verstanden wahrhaft zu lieben und zu leiden“ (S. 126). Auch andere gläubige Häftling haben es leichter, so ihre Überzeugung. Die inhaftierten Nonnen beschreibt sie als hilfsbereit und vorbildlich. Alle Häftlingsgruppen versieht sie mit unterschiedlichen Zuschreibungen. So bekommen die Jüdinnen die Attribute leiderfüllt, abgehärmt und gehetzt, die ‚Zigeunerinnen‘ das Attribut gutherzig. Unter den politischen Häftlingen findet sie viele gebildete, geistreiche Frauen aller möglichen Nationen mit noch intakten Idealen.

Schon bald nach der Ankunft wird Herbermann als Stubenälteste in den Block II verlegt, den ‚Dirnenblock‘, den berüchtigsten im ganzen Lager. Nach einigen Monaten wird sie dort schließlich auch Blockälteste über 400 Frauen. An ihrem Amt trägt sie jedoch schwer. Das Leben mit den Prostituierten, die sie als „minderwertige Naturen“ (S. 84) bezeichnet, ist schwierig. Wiederholt betont sie, wie schlimm es für sie ist, unter Menschen leben zu müssen, die ohne jede Haltung und Kultur, ungeordnet, unbeherrscht, mürrisch, zänkisch und hasserfüllt sind: „Moralisch waren sie ganz zugrunde gerichtet, dabei schlau und listig und deshalb gefährlich“ (S. 95). Immer wieder werden die Frauen aus dem Block für das Bordell in Mauthausen rekrutiert, wo sie innerhalb kurzer Zeit zu Grunde gerichtet werden. Nach und nach gelingt es Herbermann dennoch, so etwas wie ein Zusammenleben zu organisieren. Ihr Mitgefühl und Verständnis für die Frauen wächst etwas, viele, so gesteht sie ihnen zu, hätten auch ein Herz, wenn auch ein verschüttetes. Aus der Masse der ‚Schutzbefohlenen‘ hebt sie einige hervor und individualisiert sie, indem sie sie dem Leser kurz vorstellt und in imaginären Ansprachen beim Vornamen nennt. Die Namen der Häftlinge, mit Ausnahme derer, über die sie nur Positives berichtet, sind jedoch geändert, wie die Autorin im Nachwort angibt. Lediglich die Namen der Kommandanten, Lagerleitung und Aufseherinnen werden beibehalten.

Im bitterkalten Winter 1941/42 lassen die Zustände die Autorin erneut traurig und trostlos werden. Acht Tage muss sie in den Dunkel-Arrest im Bunker, weil sie den Block verbotenerweise geheizt hat. Nun beginnt die bitterste Zeit ihres Lebens. Oft denkt sie: „Das ist mein Vaterland nicht mehr!“ (S. 100) Sie schämt sich vor den Nichtdeutschen im Lager dafür, dass deutsche Menschen sich für so etwas hergeben. Sie fragt sich, wie so etwas im zivilisierten Deutschland geschehen konnte und kommt zu dem Ergebnis: „Das war ja Satan, der hier am Werke war“ (S. 104). Fast unerträglich wird ihr diese Prüfung Gottes und erneut sehnt sie sich nach dem Tod: „Was Menschen hier litten, geht über jedes menschliche Vorstellungsvermögen hinaus“ (S. 102). Immer wieder fragt sie sich, warum Menschen so grausam sind und findet keine brauchbare Antwort: „Ach, es gibt keinen andern Schlüssel zu diesem unheimlichen Rätsel als den, der in den Tiefen von Gottes Allwissenheit verborgen ruht“ (S. 165). Dennoch nimmt sie durchaus auch einzelne Mitglieder der Wachmannschaften und Lagerkommandantur in Schutz, wie etwa den Politischen Leiter Borchard, da er „durch weiß Gott was für unselige Umstände in die SS und dann als Politischer Leiter in das Konzentrationslager gekommen war“ (S. 171).

Nachrichten von zu Hause bekommt sie vor allem über den großen Bruder, der sie sogar im Oktober 1942 besuchen kann und ihr neue Hoffnung auf baldige Entlassung macht. Im Spätherbst wird sie in den Block I, den sogenannten Eliteblock, verlegt, in dem nur politische Häftlinge sind. Deren gesittetere Art und Bildung empfindet sie als wohltuend. Auch hier hebt sie einige der Frauen hervor und richtet sich gedanklich direkt an diese. Am 1. Februar 1943 wird sie in die Politische Abteilung bestellt, wo man ihr Aussicht auf baldige Entlassung macht. Zunehmend machen sich gesundheitliche Probleme mit dem Magen und dem Rücken bemerkbar. Schließlich wird sie – nach 777 Nächten Haft – am 19. März 1943 entlassen, dem Feste des Heiligen Josef, zu dem sie während ihrer Haft täglich gebetet hat. Die Zahl 777 steht in der Numerologie für die göttliche Vollkommenheit und Gerechtigkeit.

In Berlin wohnt sie zunächst bei ihrem Bruder Heinz und fährt dann nach ein paar Tagen weiter nach Münster. Da ihre Wohnung inzwischen beschlagnahmt wurde, muss sie auch hier bei einem weiteren Bruder unterkommen. Am 22. März 1943 meldet sie sich befehlsmäßig bei der Gestapo in Münster. Einem dortigen SS-Hauptsturmführer, der sie als ‚Spitzel‘ innerhalb der katholischen Kirche rekrutieren möchte, erteilt sie eine entschlossene Absage und verkündet: „‚Ich bin katholisch ins Lager gegangen und bin noch katholischer herausgekommen‘“ (S. 197f.).

Der Text enthält zwei Skizzen einer jungen Polin mit dem Vornamen Marischa. Einigen Kapiteln sind zudem Gedichte vorangestellt.


Biografie

Nanda Herbermann (geb. 29.12.1903 in Münster, gest. 02.08.1979 in Beelen) war Buchhändlerin und Privatsekreträrin von Pater Muckermann. Ab 1934 wurde sie Schriftleiterin der Zeitschrift „Der Gral“. Aufgrund ihrer Arbeit für die Zeitschrift wurde sie am 4. Februar 1941 verhaftet. Nach Einzelhaft und Verhören wurde sie im August 1941 nach Ravensbrück überstellt, wo sie die Häftlingsnummer 6.582 erhielt. Wegen einer Bagatelle wurde sie mit Dunkelarrest bestraft. Sie wurde dann Blockälteste für 400 Prostituierte im Lager. Durch die Intervention ihrer fünf Brüder kam Nanda Herbermann im März 1943 frei. 1946 veröffentlichte sie ihren Erinnerungsbericht „Der gesegnete Abgrund“. Nach dem Krieg wurde sie Vorsitzende des Anerkennungsausschusses für politisch, rassische und religiös Verfolgte in Münster und erhielt als eine der ersten Frauen das Bundesverdienstkreuz. In Münster ist eine Straße nach ihr benannt.

Quellen:


Werkgeschichte

In einer Sammelrezension zu Texten aus den Konzentrationslagern und Gefängnissen in „Die Welt“ vom 13. September 1947 schreibt Rudolf Küstermeier, Nanda Herbermann habe durch die Tiefen des Leides und der Unmenschlichkeit gehen müssen, bringe es aber fertig, ihrem Bericht den Titel „Der gesegnete Abgrund“ zu geben. Bereits am 19. April 1947 druckte „Die Welt“ einen kurzen Auszug aus ihrem Werk. Im Vorspann heißt es: „[I]n zwei furchtbaren Jahren in Ravensbrück ist ihr nichts erspart geblieben. Ihre tiefe Gläubigkeit hat ihr geholfen, mit dem Schrecklichsten fertig zu werden, und ihr so einfach geschriebenes und doch so aufwühlendes Buch zeigt, wie gerade das Schwerste sie nur gütiger und reifer gemacht hat“ (Die Welt, 19.04.1947, S. 3).

Quellen:

  • Küstermeier, Rudolf: „Blick in den Abgrund“. In: Die Welt vom 13.09.1947, S. 4.
  • Herbermann, Nanda: „Im tiefsten Dunkel“. In: Die Welt vom 19.04.2013, S. 3-4.



Bearbeitet von: Charlotte Kitzinger