Der letzte Jude aus Polen (1945)

Aus Frühe Texte der Holocaust- und Lagerliteratur 1933 bis 1949
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Angaben zum Werk

Titel Der letzte Jude aus Polen
Autor Szende, Stefan (1901-1985)
Genre Erinnerungsbericht

Ausgaben des Werks

Ausgabe von 1945, New York,Zürich
Titel Der letzte Jude aus Polen

Erscheinungsort New York,Zürich
Erscheinungsjahr 1945
Auflage 1

Verlegt von Europa Verlag
Gedruckt von Manatschal Ebner & Cie AG
Publiziert von Szende, Stefan (1901-1985)
Umschlaggestaltung von Troyer, Johannes (1902-1969)

Umfang 310 Seiten

Bibliotheksnachweise UBGI-icon.gif UB Gießen (Print-dnb-icon.gif gedruckte Ausgabe)


Zusammenfassung

Stefan Szende erzählt den Lebensweg von Adolf Folkman in Lemberg – von 1939 bis 1941 zunächst unter sowjetischer Besatzung, anschließend bis Sommer 1943 unter nationalsozialistischer Herrschaft – bis zu dessen Flucht aus Polen im Sommer 1943. Die Erzählung basiert auf einem ausführlichen Bericht Folkmans, der zum Teil im Buch wiedergegeben wird. Auf dieser Grundlage schreibt Szende eine passagenweise an einen Abenteuerroman erinnernde Schilderung, die den Leser durch plastische Beschreibungen und viel wörtliche Rede nah an das Geschehen heranführt. In seinem Vorwort unterstreicht der Verfasser die Authentizität des Erzählten, habe er doch die Angaben Folkmans überprüft: „Deswegen glaube ich mit ruhigem Gewissen sagen zu dürfen, daß dieses Buch die Wahrheit und nichts anderes als die Wahrheit enthält“ (S. 6). Er habe lediglich stilistische und dramatische Bearbeitungen vorgenommen und Folkmans Zeugnis um politisch-historische Fakten und Kontexte ergänzt.

Der Anfang des Buches nimmt das Ende vorweg und setzt mit der Ankunft Folkmans und seines Schwiegervaters in Radomsko im Juli 1943 ein. Beide sind aus Lemberg mit falschen Papieren geflohen und wollen zu Folkmans Schwager gelangen, bei dem bereits Folkmans Frau untergekommen ist. Sie soll sich als Polin zur Arbeit nach Deutschland melden, Folkman selbst will sich den Partisanen in den Wäldern anschließen. Nach einigen Schwierigkeiten gelingt es Folkman schließlich, mit Hilfe eines Untergrundkämpfers der Heimatarmee (Armia Krajowa – AK) bei einer Firma eine Stelle zu bekommen, die für die Organisation Todt Arbeiter nach Norwegen schickt. Mitte August verlässt er Polen und gelangt über Berlin im Oktober 1943 nach Mo i Rana in Norwegen, wo die polnischen Arbeiter beim Barackenbau beschäftigt sind. Am 16. Oktober flieht Folkman mit neun anderen. Tagelang irren sie orientierungslos umher, bis sie auf eine andere Gruppe Flüchtlinge treffen, die einen ortskundigen norwegischen Führer bei sich haben. Am 20. Oktober 1943 schließlich ist die Flucht geglückt und die Gruppe kommt in Schweden an.

Im folgenden Bericht schildert Szende Folkmans Weg chronologisch vom Kriegsbeginn bis zum Sommer 1943. Zunächst erlebt Folkman die Besetzung Lembergs durch die Rote Armee. Nach kurzer Arbeitslosigkeit kann er wieder in einer Glasfabrik arbeiten. Die sowjetische Besatzung erlebt er – nach einer Phase des vorübergehenden Chaos – durchaus positiv, zumal er vom Terror im deutsch besetzten Teil Polens erfährt. Das Sich-Einrichten unter der keinesfalls gewünschten, aber doch erträglichen sowjetischen Herrschaft nimmt im Sommer 1941 mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion ein jähes Ende. Wenige Tage später marschieren deutsche Truppen in Lemberg ein und es kommt zu Pogromen gegen die jüdische Bevölkerung.

Mit dem Beginn der deutschen Besatzungsherrschaft - nachdem Szende allgemein über die Ermordung der Juden berichtet hat - wechselt die Erzählform: Szende erzählt nun nicht mehr in der dritten Person über Folkman, sondern dieser selbst tritt als Ich-Erzähler in Erscheinung. Er schildert den willkürlichen Terror gegen die Juden in der Anfangszeit: Sie werden aus der Wohnung geworfen, immer wieder kommt es zu Plünderungen, sie werden wahllos aufgegriffen und zu Zwangsarbeiten herangezogen. Dabei sind auch ukrainische nationalistische Gruppen und Milizen aktiv, die von den Deutschen instrumentalisiert werden. Folkman kommt mit seiner Familie in einer Wohnung im Haus eines ukrainischen Geistlichen unter, dessen Sohn eine hohe Position in der ukrainischen Miliz hat. Als Folkman eines Tages von Ukrainern auf der Straßen abgeführt wird, kommt ihm der Sohn des Priesters zu Hilfe und befreit ihn. Bald kann Folkman wieder in der Glasfabrik arbeiten, deren Leitung nun in ukrainischer Hand liegt. Er versucht, wie die anderen Juden auch, sich unter den neuen Bedingungen so gut es geht einzurichten. Mehrfach betont er, dass seinerzeit der spätere Massenmord an den Juden keinesfalls absehbar gewesen sei: „Keiner unter uns hatte auch nur entferntest den Gedanken, daß das eigentliche Ziel der Nazis die physische Vernichtung, die gänzliche Ausrottung aller Juden sei. Keiner von uns konnte so etwas denken, weil keiner von uns so etwas für möglich halten konnte. Es war doch für einen vernünftigen Menschen undenkbar, zu glauben, daß ein Staat den Massenmord an Millionen organisieren, durch seine amtlichen Behörden ins Werk setzen und systematisch durchführen konnte. Wir faßten die Pogromtage und die Hinrichtung vieler Juden als Auswüchse von Haß, als Terroraktionen gegen eine schutzlose Minderheit unter besonderen und kriegerischen Verhältnissen auf. Wir hofften und erwarteten, daß diese Terrorakte aufhören würden“ (S. 222).

In den Bericht über die Verfolgung der Juden in Lemberg, über die Einrichtung eines Gettos und die damit einhergehende Verschlechterung der Versorgung und Überlebenschancen fügt Szende ausführliche Schilderungen über die Entwicklung der nationalsozialistischen Judenpolitik von der Verfolgung zum Massenmord ein. Folkman erzählt von den lokalen Deportationen und davon, dass die Verschonten jedes Mal aufs Neue hofften, es sei nun die letzte. Folkman findet inzwischen in der Altstofferfassung Arbeit, die in Kooperation mit Ukrainern und Deutschen zu einem sehr einträglichen Geschäft für die Beteiligten wird und vor allem auch Schutz vor den Deportationen bietet. Mit Hilfe seiner Einnahmen und der hier gewonnenen Kontakte kann er zunächst seiner Frau falsche Papiere beschaffen, mit denen sie Mitte Mai aus dem Getto flieht und zu ihrem Bruder nach Radomsko geht. Nach weiteren Deportationen kommt Folkman selbst bei einer ukrainischen Frau unter, wo er wochenlang versteckt lebt, allerdings Opfer von Erpressungen durch Ukrainer wird. Schließlich flieht er gemeinsam mit seinem Schwiegervater mit gefälschten Papieren, da die Lage in Lemberg immer unsicherer wird und sie kaum noch über Geld verfügen.


Biografie

Stefan Szende (geb. 10.04.1901 in Szombathely/Ungarn, gest. 1985) wurde als István Szende in eine liberale, jüdische Familie geboren. Szende besuchte die Volksschule und ein katholisches Ordensgymnasium, das er 1919 mit dem Abitur abschloss. Schon 1919 engagierte er sich in der Kommunistischen Partei Ungarns und geriet in die Wirren um die kurzlebige ungarische Räterepublik. Daher schickte ihn seine Familie nach Wien, wo er ein Philosophiestudium aufnahm. 1921 wechselte er nach Budapest, wo er nun Rechts- und Staatswissenschaften studierte. Neben dem Studium war er weiterhin politisch aktiv und veröffentlichte Rezensionen und Essays. 1924 schloss er das Studium ab, 1925 folgte die Promotion. Im Jahr darauf wurde er wegen Äußerungen in seinen Artikeln und in einer Versammlung verhaftet. Als Szende im Sommer 1928 aus der Untersuchungshaft entlassen wurde, floh er aus Ungarn nach Österreich, um einer langjährigen Haftstrafe zu entgehen. Hier konnte er mit Unterstützung der Roten Hilfe Fuß fassen. Er nahm sein abgebrochenes Philosophiestudium wieder auf und wurde um 1930 zum Dr. phil. promoviert. Kurz zuvor war er im Zuge stalinistischer Säuberungen aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen worden. Szende verließ Österreich und zog nach Berlin, wo er 1931 Mitglied der Kommunistischen Partei-Opposition (KPO) wurde, einer Abspaltung von der KPD. Im Jahr darauf wechselte er mit vielen Anderen gemeinsam in die neu gegründete Sozialistische Arbeiterpartei (SAP), für die er nach Machtantritt Hitlers auch illegal arbeitete. Nach Verhaftungen durch die Gestapo hatte Szende ab August 1933 kurze Zeit die Leitung der SAP inne, bevor auch er am 22. November 1933 verhaftet wurde. Tagelang wurde er in einem Folterkeller der SA verhört und misshandelt. Am 1. Dezember 1933 schließlich kam er in das Konzentrationslager Columbiahaus; Verhöre und Misshandlungen waren auch hier an der Tagesordnung. Anfang 1934 wird Szende in das Konzentrationslager Oranienburg verlegt, wo er als Jude besonderen Drangsalierungen und Folterungen ausgesetzt war. Am 20. März 1934 wurde er in das Untersuchungsgefängnis Moabit überstellt. Vom 26. November bis zum 1. Dezember 1934 fand vor dem Volksgerichtshof der Prozess gegen Szende und andere SAP-Mitglieder statt, in dem er zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt wurde. Da ihm die bisherige Haftzeit anerkannt wurde, wurde er nach einem Jahr Haft im Zuchthaus Luckau am 6. Dezember 1935 entlassen, an die tschechische Grenze gebracht und abgeschoben. In Prag schloss sich Szende der Exil-SAP an, deren Prager Leitung er kurz darauf übernahm. In Tschechien lebte er mit seiner Frau und Tochter in prekären Verhältnissen, da er als Flüchtling keine Arbeit aufnehmen durfte. Im Oktober 1937 gelang es ihm schließlich, eine Einreiseerlaubnis für sich und seine Familie nach Schweden zu erhalten. Hier arbeitete er weiter politisch und konnte die Familie durch journalistische Arbeiten ernähren. In Schweden veröffentlichte er 1944 sein Buch „Der letzte Jude aus Polen“, dem weitere politische, vor allem außenpolitische Schriften folgten. Im Herbst 1944 trat Szende zusammen mit vielen anderen SAP-Mitgliedern, unter ihnen auch Willy Brandt, zur SPD über. Nach Kriegsende blieb er in Schweden, wo er als Journalist und Publizist arbeitete, unter anderem war er als skandinavischer Korrespondent des RIAS tätig. Szende erhielt 1972 das Bundesverdienstkreuz. 1975 veröffentlichte er seine Erinnerungen.

Quellen:


Werkgeschichte

Der Erinnerungsbericht erschien 1944 zunächst auf Schwedisch im Albert Bonnier’s Bokförlag, bevor es im Jahr darauf in deutscher Übersetzung im Europa Verlag in Zürich publiziert wurde. Laut Vorwort des Verfassers beruht er auf dem Augenzeugenbericht Adolf Folkmans, der im Sommer 1943 aus Polen entkommen und von Norwegen nach Schweden geflohen ist. Szende sprach mit diesem ausführlich über seine Erlebnisse, überprüfte seine Angaben und verfasste auf dieser Grundlage das Buch. Größeren Widerhall hat es nicht gefunden. Bevor der Europa Verlag das Werk auf Deutsch publizieren konnte, musste die Übersetzung die Schweizer Militärzensur durchlaufen. Diese beanstandete aus diplomatischer Rücksichtnahme noch Mitte April 1945 vier Stellen, in denen stark gegen die Nationalsozialisten Stellung bezogen wurde. Formulierungen wie „raubgierige Nazibonzen“ oder „machtlüsterne Nazipotentaten“ sollten abgemildert, ein Satz wie „Sie gehören auf die Liste der Kriegsverbrecher“ komplett gestrichen werden. A. Moser, der das Manuskript begutachtete regte ähnliche Milderungen im Text an, „um der Sache noch mehr Gewicht zu geben“ und urteilte zusammenfassend: „Mehr als Sensation, glaubhaft. [...] Der Zeuge Folkmann und Szende machen den Eindruck persönlicher Sauberkeit, was man nicht von jedem Emigrantenbericht sagen kann“ (A. Moser, Zensurbericht 307, 9.4.1945, Schweizerisches Bundesarchiv, Dossier: Szende, Stefan, Bestand E 4450).

Quellen:

  • „A. Moser, Zensurbericht 307, 9.4.1945“. In: Schweizerisches Bundesarchiv, Dossier: Szende, Stefan, Bestand E 4450.
  • „Schweizerische Armee, Abt. für Presse und Funkspruch, an den Europa Verlag, betr.: Stefan Szende: Der letzte Jude in Polen, 14.4.1945“. In: Zentralbibliothek Zürich, Ms Oprecht 13/34.



Bearbeitet von: Markus Roth