Die Flucht (1949)

Aus Frühe Texte der Holocaust- und Lagerliteratur 1933 bis 1949
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Angaben zum Werk

Titel Die Flucht
Autor Kreuzberg, Willy (1909-1986)
Genre Erinnerungsbericht

Ausgaben des Werks

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Ausgabe von 1949, Potsdam / Berlin
Titel Die Flucht

Erscheinungsort Potsdam, Berlin
Erscheinungsjahr 1949
Auflage 1
Auflagen insgesamt 1

Verlegt von VVN-Verlag
Gedruckt von Thüringer Volksverlag
Publiziert von Kreuzberg, Willy (1909-1986)

Umfang 64 Seiten

Lizenz Lizenz-Nr. 497

Bibliotheksnachweise UBGI-icon.gif UB Gießen (Print-dnb-icon.gif gedruckte Ausgabe)
UBGI-icon.gif UB Gießen (Online-dnb-icon.gif elektronische Ausgabe)
DNB-icon.gif Deutsche Nationalbibliothek (Print-dnb-icon.gif gedruckte Ausgabe)

Zusammenfassung

Nach der Verlegung aus dem Konzentrationslager auf der Kanalinsel Alderney in das belgische Kortemark gelingt dem politischen Häftling Willy Kreuzberg im August 1944 die Flucht. In seinem Buch beschreibt er, wie er sich abenteuerlustig hinter die Kriegsfront nach Nordfrankreich durchschlägt und wie ihm sowohl die belgische als auch die französische Bevölkerung dabei auf vielfältige Weise hilft.

Kreuzberg beginnt seine chronologischen Schilderungen unmittelbar mit der Ankunft in Kortemark. Die Häftlinge müssen das Lager zunächst aufbauen, aber durch die Zwangsarbeit gelingt es Kreuzberg, die Menschen der umliegenden Dörfer kennenzulernen und alle „Fragen, die für eine Flucht wichtig sind“ (S. 7), zu klären. Bereits zu diesem Zeitpunkt bemerkt Kreuzberg die Sympathie, welche die Belgier ihm und seinen Mithäftlingen entgegenbringen. Bei einer passenden Gelegenheit entscheidet er sich schließlich kurzentschlossen für die Flucht: Er rennt alleine weg, zieht Zivilkleidung an, die er im Zug beim Transport nach Belgien gefunden hat, und versteckt sich in der Natur. Auf seiner Flucht auf Feldwegen und Nebenstraßen durch Belgien und Frankreich unterstützen ihn fast alle Menschen, auf die er zufällig trifft: Er erhält Lebensmittel, Geld, einheimische Kleidung, um nicht aufzufallen und Übernachtungsmöglichkeiten bei Bauern, Witwen oder Arbeitern. Dabei gibt er sich durch seine gestreifte KZ-Kleidung, die er unter der Zivilkleidung trägt, vorsichtig als Geflohener zu erkennen: „Sie [die KZ-Kleidung] wird oft, wenn die sprachliche Verständigung nicht klappt, der Mittler zwischen der Bevölkerung und mir sein müssen“ (S. 22). Eines Tages trifft er auf einen alten Bekannten, den als ‚Berufsverbrecher‘ inhaftierten Otto, der einige Zeit vor ihm geflohen ist und sich als Deserteur der deutschen Wehrmacht ausgibt; dieser hilft Kreuzberg allerdings nicht. Bei der armen Familie Morival findet er längerfristig Unterschlupf. Er freundet sich mit ihnen an, hilft bei der Feldarbeit und lernt langsam die französische Sprache. Um seine Identität zu verschleiern, wird er als tauber und geistig zurückgebliebener Verwandter vorgestellt, der nichts versteht. Als die amerikanischen Truppen das Dorf erobern, herrscht allumgreifende Erleichterung und Freude. Kreuzberg weint, weil er zum ersten Mal seit zehn Jahren frei ist: „Die ersten Amerikaner, auch meine Befreier. Ein Augenblick, auf den ich lange, lange gewartete habe“ (S. 53).

Kreuzberg meldet sich bei der provisorischen französischen Verwaltung, um seine Heimreise zu beschleunigen: Er beschreibt das organisatorische Durcheinander, in dem Weisungsberechtigte täglich wechseln und er an einem Tag hofiert und am nächsten wieder verhaftet wird. Eines Tages erhält er auf französischen Befehl Schuhe gefangener SS-Leute: „Bis jetzt sind die Stiefel für Hitlers Sieg marschiert. Nun sollen sie einen in die Heimat tragen, der lange genug von dem Nationalsozialismus verfolgt wurde“ (S. 58). Es glückt ihm letztlich, bis zu einem amerikanischen Offizier vorgelassen zu werden, der ihm verspricht, ihn mit neuen Papieren nach Deutschland mitzunehmen. Die Erinnerungen enden mit einem letzten gemeinsamen Abendessen bei der Familie Morival, bei dem Deutsche, Franzosen und Amerikaner vereint sind: „Der Deutsche, der hier Sicherheit und Schutz gefunden hatte, die Franzosen, die mir Freunde geworden sind, und der Amerikaner, der mich jetzt unter seine Fittiche nimmt. […] Ein Ahnen von kommenden Frieden und Völkerversöhnung. Jeder wird seinen Weg gehen, und doch werden wir alle dasselbe Ziel haben. Ausrottung des Faschismus“ (S. 63f.).

Wesentlich ist für Kreuzberg die vielfältige Hilfe von gleichgesinnten Arbeitern und vor allem Gegnern der Nationalsozialisten. Nur in Ausnahmefällen sind die Menschen misstrauisch und Kreuzberg muss sicherheitshalber fliehen. Die Selbstlosigkeit der anonym bleibenden Unterstützer ist ihm dabei besonders wichtig und er erwähnt bereits im Vorwort, dass die „Kameraden“ (o. S.) ihm mutig helfen, um ein Zeichen gegen den Faschismus zu setzen. Kreuzberg ist sich dabei immer seines Glücks bewusst: „Bis jetzt habe ich unverschämtes Glück gehabt. […] Immer ist es gut gegangen. Überall fand ich Unterstützung. Überall Hilfsbereitschaft“ (S. 37).

Kreuzberg unterstreicht – oft voller Pathos – die Bedeutung der ehemaligen KZ-Häftlinge beim Aufbau eines neuen Deutschlands. Daher will er sich mit seiner Rückkehr beeilen: „Nur nicht zu spät kommen. Gilt es doch für uns Antifaschisten nach der militärischen Niederlage in Deutschland ‚klar Schiff‘ zu machen. Wie viele der Kriegsverantwortlichen werden versuchen unterzutauchen. […] Sie werden sich als harmlose Biedermänner tarnen und ihre Posten und Ämter zu halten versuchen. Unsere Aufgabe muß es sein, einen strengen Maßstab anzulegen. Fort mit den Elementen, die, so oder so, beigetragen haben, Deutschland zu verelenden! Nie wieder darf die Möglichkeit bestehen, daß Deutschland einen Krieg vom Zaune brechen kann“ (S. 24f.). Die Toten der Konzentrationslager verpflichten zum Kampf gegen den Faschismus, so Kreuzberg. Der Kommunismus wird dabei als befreiende Ideologie dargestellt, der die Arbeiter aller Länder eint.

In seinem Bericht stilisiert sich Kreuzberg zu einem optimistischen Abenteurer. Er betont immer wieder die Gefahren, aber auch seine mutigen und geschickten Lösungen. Er kennt beispielsweise den Weg zur Front nicht, dennoch schreitet er unerschrocken voran: „Na, Willy, alter Junge. Hast mal wieder Glück gehabt. Nun aber los. Die Straße gekreuzt und querfeldein“ (S. 23). Er beschreibt jeden Tag ausführlich und gibt seine einzelnen Schritte und Gedanken wieder. Wie ein General plant er seine Flucht, durchdenkt Taktiken durch und bespricht sie mit anderen Häftlingen. Sprachlich passt Kreuzberg seinen Text ebenfalls einem Abenteuerroman an und beschreibt brenzlige Situationen atmosphärisch. Durch die Wahl des Präsens als Zeitform der Erzählung und die Tatsache, dass Kreuzberg nicht vorgreift und Gedankenstriche zur Darstellung von zeitlichen Raffungen nutzt, wird der Leser sehr nah an das Geschehen herangeführt. Kreuzberg bezieht ihn zudem regelrecht mit ein, wenn er etwa schreibt: „Hallo! Dort steht ein Gehöft. Versuchen wir unser Glück und klopfen wir an“ (S. 25). Er spricht auch Unsicherheiten offen an, die ihn in der jeweiligen Situation bewegen. So fragt er sich beispielsweise Momente nach der Flucht in „Gedankensplitter[n], die – kaum gedacht – schon wieder vergangen sind“ (S. 18): „Hinter mir ist alles ruhig. Ist meine Abwesenheit noch nicht entdeckt? Weiß der Posten nicht, in welcher Richtung er mich suchen soll?“ (ebd.) Stilistisch ist ebenfalls auffallend, dass Kreuzberg sich sprachlich an die Form von Comics annähert, so heißt es etwa: „Brr!, pfui Teufel, das ist kalt!“ (S. 23) oder „Wumm, bumm, bumm!“ (S. 38).


Biografie

Willy Kreuzberg (geb. 21.11.1909, gest. nach 1986) wurde – vermutlich für sein kommunistisches Engagement, wie in seinem Bericht angedeutet wird – bereits 1933 mehrmals durch die SS verhaftet und 1934 zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt. Vermutlich war er im Zuchthaus Luckau inhaftiert, bevor er in ein Konzentrationslager eingewiesen wurde. Überlieferte Dokumente belegen, dass er am 27. Februar 1940 in das Konzentrationslager Sachsenhausen überstellt wurde, wo er im Häftlingsblock 65 untergebracht war. Laut seinen Angaben muss er auch in einem Außenlager von Sachsenhausen in Duisburg gewesen sein. 1942 wurde er als Teil der „Ersten Baubrigade West“ unter der Häftlingsnummer 20413 – die Nummer 16874, die er im Buch nennt, wurde nicht an ihn vergeben – aus dem KZ Sachsenhausen auf die Kanalinsel Alderney gebracht, wo er für die Organisation Todt am Aufbau des Atlantikwalls mitarbeiten musste. Im Juli 1944 wurde das Lager wegen der Invasion der alliierten Truppen in der Normandie aufgelöst; Kreuzberg und 600 weitere Häftlinge wurden wochenlang über Frankreich und Belgien evakuiert, um an einem anderen Ort weiterzuarbeiten. Am 13. August 1944 gelang ihm im belgischen Kortemark die Flucht aus dem Arbeitslager und er schlug sich durch Belgien und Nordfrankreich durch. Er kehrte mit Hilfe der vorrückenden amerikanischen Militäreinheiten nach Deutschland zurück.

Quellen:

  • „Effektenkarte von Kreuzberg“, 1.1.5.3/6379374/ITS Digital Archive, Arolsen Archives.
  • „Empfangsbestätigung für Effekten“, 1.1.30.1/3411068/ITS Digital Archive, Arolsen Archives.
  • Kreuzberg, Willy: Schutzhäftlinge erleben die Invasion. Ein Tatsachenbericht von Willy Kreuzberg. Weimar 1946.
  • Kreuzberg, Willy: Die Flucht. Als KZ-Häftling durch fremdes Land. Berlin-Potsdam 1949.
  • „Nachtrag zur Veränderungsmeldung“, 1.1.5.1/5283578/ITS Digital Archive, Arolsen Archives.
  • „Schreiben“, 1.2.2.1/11900454/ITS Digital Archive, Arolsen Archives.
  • „Veränderungsmitteilung vom 27.02.1940“. In: FSB-Archiv Moskau, N-19092/Tom 96, Bl. 061 (Angaben über die Datenbank des Archivs der Gedenkstätte Sachsenhausen).


Werkgeschichte

Willy Kreuzberg veröffentlichte bereits 1946 die Erinnerungen an seine Verlegung vom Konzentrationslager auf der englischen Kanalinsel Alderney nach Belgien. Die Häftlinge wurden wegen der Invasion der Alliierten in der Normandie mit Schiffen und Zügen über Wochen hinweg nach Kortemark gebracht. Dort gelang Kreuzberg die Flucht hinter die Kriegslinie. Nach dem Krieg schrieb er die der Verlegung des Lagers folgenden Ereignisse nieder und veröffentlichte sie 1949 in der Reihe „Kleine VVN-Bücherei“. Kreuzberg schließt in seinem zweiten Buch an das erste nahtlos an und thematisiert die Zeit vor seiner Ankunft in Kortemark nicht. Der Leser wird jedoch nicht auf das erste Buch verwiesen, so dass er die Vorgeschichte bis zu Kreuzbergs Flucht von Kortemark nicht kennt.



Bearbeitet von: Christiane Weber