Die Gattung Mensch (1949)

Aus Frühe Texte der Holocaust- und Lagerliteratur 1933 bis 1949
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Angaben zum Werk

Titel Die Gattung Mensch
Autor Antelme, Robert (1917-1990)
Genre Erinnerungsbericht

Ausgaben des Werks

Ausgabe von 1949, Berlin,Frankfurt am Main,München,Vermont
Titel Die Gattung Mensch

Erscheinungsort Berlin,Frankfurt am Main,München,Vermont
Erscheinungsjahr 1949
Auflage 1
Auflagen insgesamt 9

Verlegt von Aufbau-Verlag
Gedruckt von Berliner Druckhaus GmbH
Publiziert von Antelme, Robert (1917-1990)
Umschlaggestaltung von Karl Gossow

Umfang 351 Seiten

Lizenz Lizenznummer 438. 1003/48. 69/48
Preise 8.70 (DM)
Bibliotheksnachweise UBGI-icon.gif UB Gießen (Print-dnb-icon.gif gedruckte Ausgabe)


Zusammenfassung

In „Die Gattung Mensch“ beschreibt der Franzose Robert Antelme auf hohem literarischen Niveau seine Erfahrungen als politischer Häftling in den Konzentrationslagern Bad Gandersheim und Dachau. Er schildert in seinem Buch detailliert das Lagerleben in Gandersheim, die Deportation nach Dachau und die Befreiung des Lagers im April 1945. Hierbei greift der Autor auf seine eigenen Erfahrungen zurück, erzählt aber auch das Schicksal von Mithäftlingen und dokumentiert die Gewalt sowie Misshandlungen in den Lagern.

Im ersten Teil beschreibt Antelme eindringlich die Atmosphäre der Angst und Gewalt, die im Konzentrationslager Gandersheim herrscht: „Nur ein Tritt in den Hintern seitens des SS-Manns oder des Kapos kann uns zu ein paar raschen Schritten bewegen, aber das Laufen haben wir verlernt. Wenn wir gehen, blicken wir zu Boden“ (S. 49). An anderer Stelle heißt es: „Im Stroh bergen sich Schweigen und furchtbare Erwartung“ (S. 43). Antelme schildert die Erfahrungen und Emotionen aus Sicht der Häftlinge, wodurch sie im Text sehr präsent sind. Dies wird durch einen stark verschachtelten Satzbau noch verstärkt, wodurch Teile von Antelmes Schilderungen in einen Bewusstseinsstrom übergehen, der direkten Einblick in die Gefühls- und Gedankenwelt der Häftlinge erlaubt: „Nicht, daß man schon sehr geschwächt wäre; aber wir haben schon aufwachen müssen, antreten, wir haben schon hierher kommen müssen, [...] am Montag wieder von vorn anfangen, warten müssen, [...] [u]ns lähmt noch nicht die Kälte, noch die Ermüdung, noch auch die Vergangenheit, uns lähmt die Zeit“ (S. 46).

Sprachlich betont Antelme auf der einen Seite die Loyalität und Gemeinschaft der Häftlinge, wenn er etwa von „unsere[r] gemeinsame[n] Sprache“ (S. 188) schreibt, die „das letzte Gemeinsame zwischen uns [ist], über das wir verfügen“ (S. 54). Auch das Rezitieren von Gedichten verschafft den Häftlingen eine kurze Erleichterung: „Sonntag müssen wir ‚was unternehmen‘, so geht das nicht weiter. Wir müssen mal aus der Hungerei herauskommen. Wir müssen mal mit den anderen reden. [...] Eine Sprache kam hier auf, die nicht mehr als Schimpfwort oder Auswurf aus dem Magen kam [...]. In diesem tiefen Loch, in dem gekrümmten Körper, in dem entstellten Kopf, öffnete sich die Welt. [...] So waren aus Erinnerungsstücken ganze Gedichte entstanden, die gleichzeitig ein Nebeneinander von kleinen Kraftstücken bedeuteten“ (S. 234ff.).

Auf der anderen Seite jedoch unterstreichen sprachliche Differenzen zwischen Häftlingen und Wärtern zudem, wie Sprache auch isolieren kann: „‚Was hat er [=ein Wärter] gesagt?‘ fragen wir den Dentisten. Der weiß, was er gesagt hat, er hat es genau verstanden. Wie immer sind wir aus dem Spiel geblieben; wir haben fast nichts verstanden. Nur das Wort haben wir vernommen, aber welchen Sinn hatte es in dem Satz?“ (S. 65). Sprachlich findet Antelme zahlreiche Bilder, um die Gewalt und Misshandlung seitens der Wärter zu beschreiben, so nennt er sie „das Auge der SS“ (S. 12) und bezeichnet das Lager als „eine schlafende riesige Maschine“ (ebd.). Die Häftlinge beschreibt er als „ein Stück Holz mit lila flatternden Lumpen“ (S. 187) sowie als „eine Zahl, nichts als das“ (S. 23), was den Identitätsverlust im Konzentrationslager noch einmal hervorhebt.

Im zweiten und dritten Teil der Erzählung erhalten Beschreibungen der Gewalt und Hoffnungslosigkeit, aber auch solche des Zusammenhalts und der Loyalität der Häftlinge untereinander eine weitere Dimension. Während der sogenannten Todesmärsche werden die Häftlinge zunächst gezwungen, die Strecke von Gandersheim nach Bitterfeld zu Fuß zu bewältigen, um danach nach Dachau transportiert zu werden. Hier gestaltet sich die interne Erzählperspektive als besonders eindringlich, da nicht nur die körperliche und psychische Erschöpfung durch fragmentierte, syntaktisch unvollständige Sätze ausgedrückt wird, wie zum Beispiel: „[K]ann nicht mehr..., will hier bleiben...“ (S. 307). Es wird ebenfalls der Wille untermauert, sich gegenseitig zu unterstützen und zu helfen, indem Antelme nicht nur für sich selbst spricht, sondern das kollektive ‚wir‘ nutzt.

Antelme verbindet mit seinen Beschreibungen der Landschaft und der Räume an vielen Stellen die Schilderung der Gefühlswelt der Häftlinge: „Die Ebene muß schön sein, gelb und grün, dieser Morgen muß kühl und gesund sein, der Tau muß glänzen, es muß ein sehr schöner Morgen sein. Aber all dies, das Gelb, das Grün, der Tau gehen nicht mehr in unsere Augen ein. Es ist ein Raum ohne Farbe, ohne Profile“ (S. 307). Das Ausbleiben einer Reaktion der Kirche auf die Verfolgung thematisiert er ebenfalls, als die Häftlinge eine Nacht in einer Kirche verbringen müssen: „Er [ein Wärter] macht mit dem Knüppel hinter ihnen her. Der Altar, die Lampen, die frommen Bilder, die Statuen, die Kruzifixe regen sich nicht“ (S. 273).

Im letzten Teil des Buchs dokumentiert Antelme die Zustände in Dachau nach der Befreiung des Lagers durch alliierte Soldaten, die Gefühlswelt der Häftlinge und die Folgen der Haft für sie. Dabei wechselt er zwischen der Perspektive der amerikanischen Befreier, die erstmals ein Lager von innen sehen, und der inneren Sichtweise der Häftlinge. Die Soldaten sind befremdet über deren Verhalten: „Sie [die Soldaten] haben da den Deckel von einem höchst sonderbaren Topf aufgehoben. Das ist eine merkwürdige Stadt. Tote liegen unter Unrat auf dem Boden herum, und andere gehen um sie herum spazieren. Manche starren dumpf auf die Soldaten“ (S. 345). Die Häftlinge hingegen fürchten die Zukunft: „Man will gar nicht mehr wissen, ob man imstande ist, hinauszugehen oder nicht. Man wird keine Suppe kriegen. Auch gut. Man bleibt stumpfsinnig in der Nähe der Latrine stehen“ (S. 348). Auch bei der Befreiung empfinden sie sich als Kollektiv und verhalten sich loyal: „Ich beuge mich auch vornüber. Nichts existiert mehr als dieser Mensch, den ich nicht sehen kann. Ich habe ihm meine Hand auf die Schulter gelegt. Leise: ‚Wir sind frei... ‘ Er steht auf. [...] Er drückt mir die Hand: ‚Ja‘“ (S. 351).


Biografie

Robert Antelme (geb. 05.01.1917 in Sarténe/Korsika, gest. 26.10.1990 in Paris) studierte in Paris Jura und arbeitete als Buchverleger sowie als Redakteur im französischen Innenministerium in Paris. Während des Zweiten Weltkrieges schloss er sich der politischen Widerstandsgruppe MNPGD („Le Mouvement National des Prisonniers de Guerre et Déportés“) um Francois Mitterand an. Als politischer Widerstandskämpfer wurde Antelme am 1. Juni 1944 von der Gestapo verhaftet und am 21. August 1944 nach Buchenwald deportiert. Seine Schwester Marie-Louise wurde ebenfalls im gleichen Jahr deportiert und überlebte den Transport nicht.

Nach der Befreiung 1945 gelang es Antelme, nach Paris auszureisen, wo er 1946 der Kommunistischen Partei beitrat. Neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit war Antelme von 1951 bis 1960 als Redakteur im französischen Rundfunk und als Lektor für die „Encyclopedia of the Pléiade“ tätig. Er engagierte sich weiterhin politisch, unter anderem gegen den Algerienkrieg.

Quellen:

  • „Antelme, Robert.“ In: Datenbank der DNB Frankfurt. Online: gnd/118824910 (Stand: 10.09.2019).
  • Dobbels, Daniel: On Robert Antelme’s The Human Race. Essays and Commentary. Evanston 2003.
  • Hirte, Ronald: „Über Spiegel in Konzentrationslagern“. In: Gedenkstättenforum. Gedenkstättenrundbrief 125 (2005). S. 18-24. Online: http://www.gedenkstaettenforum.de/nc/gedenkstaetten-rundbrief/rundbrief/news/ueber_spiegel_in_konzentrationslagern/ (Stand: 10.09.2019).
  • Klein, Judith: „Erfahrung der Vernichtungslager und Literatur. Robert Antelmes ‚L’espèce humaine‘“. In: Sprache und Literatur 66 (1990), S. 37-46.


Werkgeschichte

Antelmes Erinnerungen erschienen 1948 unter dem Titel „L’espèce humaine“ in französischer Sprache im Aufbau Verlag in Berlin und wurden 1957 in einer zweiten Auflage in Paris herausgegeben. Die deutsche Übersetzung von Dr. Roland Schacht wurde 1949 unter dem Titel „Die Gattung Mensch“ ebenfalls im Aufbau Verlag in Berlin verlegt, weitere Auflagen folgten unter dem Titel „Das Menschengeschlecht“ 1987 und 1990 im Hanser Verlag, 1990 als ungekürzte Ausgabe im Deutschen Taschenbuchverlag sowie 2001 im Fischer Verlag. Eine Übersetzung ins Englische erschien unter dem Titel „The Human Race“ in zwei Auflagen, 1992 sowie 1998. Überdies wurde das Buch ins Tschechische und Italienische übersetzt.

Der Erinnerungsbericht wird als „eines der erschütterndsten Bücher, die es in der französischen Literatur gibt“ (Georges-Arthur Goldschmidt, zitiert in Klein, S. 37) beschrieben sowie als „literarisches Zeugnis“, das mit einer „diagnostizierende[n] Sprache“ (beide Zitate, ebd., S. 40) operiert. Diesem Tenor schließt sich Albert Kroh an, der Antelmes Bericht als „eine Anklage“ (Kroh, S. 1) begreift. Die weitreichende Rezeption des Romans in Frankreich trug nicht nur zu Robert Antelmes Popularität bei, sondern etablierte den Autor gleichsam als „central figure in the history of the European response to the Nazi concentration camps“ (Crowley, S. 120).

Quellen:

  • Antelme, Robert: The Human Race. Evanston 1998.
  • „Antelme, Robert“. In: Datenbank der Deutsche Nationalbibliothek Frankfurt. Online: gnd/118824910 (Stand: 10.09.2019).
  • Crowley, Martin: Robert Antelme. Humanity, Community, Testimony. Oxford 2003.
  • Goldschmidt, Georges-Artur: „Literatur als Gedächtnis der Geschichte. Marguerite Duras im Gespräch mit François Mitterand über Robert Antelme.“ Zitiert nach Klein, Judith: „Erfahrung der Vernichtungslager und Literatur. Robert Antelmes ‚L’espèce humaine‘“. In: Sprache und Literatur 66 (1990), S. 37-46.
  • Kroh, Albert (Hg.): Faschismus und Widerstand. Eine Literaturauswahl. Bernau 1963.



Bearbeitet von: Lisa Beckmann