Gefängnistagebuch (1946)

Aus Frühe Texte der Holocaust- und Lagerliteratur 1933 bis 1949
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Angaben zum Werk

Titel Gefängnistagebuch
Autor Rinser, Luise (1911-2002)
Genre Erinnerungsbericht

Ausgaben des Werks

Ausgabe von 1946, München
Titel Gefängnistagebuch

Erscheinungsort München
Erscheinungsjahr 1946

Verlegt von Zinnen-Verlag Kurt Desch
Gedruckt von R. Oldenbourg
Publiziert von Rinser, Luise (1911-2002)
Umschlaggestaltung von Wendt, Georg

Umfang 234 Seiten

Lizenz US-E-101

Bibliotheksnachweise UBGI-icon.gif UB Gießen (Print-dnb-icon.gif gedruckte Ausgabe)
DNB-icon.gif Deutsche Nationalbibliothek (Print-dnb-icon.gif gedruckte Ausgabe)


Zusammenfassung

Vom 22. Oktober bis zum 21. Dezember 1944 reichen die Tagebuchaufzeichnungen, die Luise Rinser im Geheimen in der Zelle eines nationalsozialistischen Frauengefängnisses macht, während in Berlin ein Prozess wegen Hochverrats gegen sie läuft. Ihre Intention ist es, zu beschreiben und festzuhalten, was sie beobachtet und selbst erlebt.

Am 12. Oktober 1944 wird die Autorin aufgrund einer Denunziation verhaftet, wie sie in ihrem Tagebuch während der Haft rekapituliert. Die Anklage lautet unter anderem, dass sie russischen Kriegsgefangenen Zigaretten geschenkt haben soll und Adolf Hitler für größenwahnsinnig halte. Des Weiteren ist sie auch des Defaitismus und Hochverrats angeklagt, da sie gegen den Krieg agitiert habe. Obwohl sie versucht ist, bei dem der Festnahme folgenden Verhör die Anklagepunkte zuzugeben und ihren Abscheu gegen die Nationalsozialisten hinauszuschreien, leugnet Rinser mit Blick auf das nahende Kriegsende die Anklagen: „In einigen Monaten ist der Krieg zu Ende. Es ist überflüssig, jetzt noch Märtyrer zu sein. Nein, ich will mich retten. Ich habe Besseres zu tun, als zu sterben. Ich will leben und arbeiten“ (S. 73).

Im Gefängnis versucht sich Rinser – abgestoßen von den schlechten hygienischen Bedingungen, dem ungenügenden und schlechten Essen und der kärglichen Ausstattung – „jeden Morgen von neuem an das Gefangensein“ (S. 11) zu gewöhnen. Besonders vermisst sie ihren Mann Klaus und die beiden Kinder, um deren Sicherheit sie auch immer wieder fürchtet. So äußert sie am 26. Oktober 1944 die Sorge, ihr ältester Sohn, der sich bei ihren Eltern in Rosenheim aufhält, könnte tot sein, nachdem sie von den Bombardierungen der Stadt erfahren hat. Hin und wieder wird sie jedoch auch von Wut gegen ihren Mann übermannt, der aus ihrer Sicht mehr tun könnte, um sie zu befreien. Über ihre nächtlichen Befreiungsphantasien lacht sie jedoch tagsüber selbst: „Er könnte beispielsweise ein Flugzeug mieten, tief über dem Hof kreisen, wenn wir Hofgang haben, ein Tau herablassen, an das ich mich blitzschnell klammern würde, und fort mit mir“ (S. 45). Rinser beschreibt auch die Ängste, bei einem Bombenangriff auf das Gefängnis verschüttet zu werden, und phantasiert darüber, wie ihr Mann sie zerfetzt findet und sie lediglich an ihrer Häftlingsnummer 150 identifizieren kann.

Im November 1944 muss die Autorin ihre Einzelzelle verlassen und mit vier anderen Frauen zusammenziehen. Die unterschiedlichen Bedürfnisse und Gewohnheiten der Frauen – offene oder geschlossene Fenster in der Nacht, abendliche Gespräche, nächtliche Gänge zum Toiletteneimer – sind für Rinser sehr belastend, zudem plagen sie zunehmend schwerer Husten und Nierenschmerzen. In dieser Situation tröstet es sie, dass sie ihre Gedanken und Erlebnisse – sollte sie überleben – als Roman oder Erzählung gestalten werde: „Aber das Geheimnis dieses Trostes liegt darin, daß es nicht nur mein dahinschwindendes Selbstbewußtsein stärkt, sondern auch mich schon jetzt, während des Erlebens, auf einen Punkt außerhalb dieses Erlebens stellt, so daß ich nicht mehr nur leide, sondern bereits, halbwegs über dem Leiden stehend, es gestalte“ (S. 81f.). Ihre Tagebuchaufzeichnungen sind daher von großer Bedeutung für sie. Immer wieder fürchtet Rinser, die Aufzeichnungen könnten entdeckt werden oder ihr könne endgültig das Papier ausgehen.

Sehr ausführlich widmet sich Rinser immer wieder ihren Mitgefangenen und berichtet über deren Lebensläufe, die sie aus Gesprächen erfährt. Ebenso fällt sie Urteile über den Charakter und die Eigenheiten der Frauen. So zollt sie der Tapferkeit und Glaubensstärke der inhaftierten Bibelforscherinnen Respekt, ist aber misstrauisch der Lehre gegenüber. Sehr empört sich die Autorin über zwei junge Frauen, die wegen Kindsmordes inhaftiert sind. Fragwürdig findet sie auch die Einstellung einer politischen Gefangenen, die eine Vorkämpferin des Nationalsozialismus in Österreich gewesen zu sein scheint, und deren Sohn Parteifunktionär in Norwegen sein soll. Die „Interessanteste“ (S. 55) unter den Mithäftlingen ist für Rinser die 33-jährige Lotte. Sie ist hysterisch und unberechenbar, was Rinser größtenteils auf die an ihr in einer psychiatrischen Klinik vorgenommenen Experimente zurückführt. Eine andere Frau hat fünf Jahre Konzentrationslagererfahrung, unter anderem in Auschwitz, hinter sich. Immer wieder berichtet sie von ihren Erlebnissen dort. Auf die Autorin wirkt sie nervös und fahrig, bisweilen geistesgestört: „Es wundert mich nicht im geringsten, daß jemand nach fünf Jahren im KZ. wahnsinnig ist“ (S. 96), konstatiert Rinser. Neben Französinnen und Polinnen findet sich auch eine SS-Frau unter den weiblichen Häftlingen. Diese bringt nach ihrer Entlassung im November 1944 den Häftlingen – verbotenerweise – Semmeln und Nüsse. Bei dieser Gelegenheit verhilft sie zwei jungen Schwestern durch ein Ablenkungsmanöver zur Flucht. Beide werden jedoch bereits nach kurzer Zeit wieder aufgegriffen.

Ab dem 13. November arbeitet Rinser im Außendienst in einer Brotfabrik. Am 14. November 1944 bekommt sie zum ersten Mal Besuch von ihrem Mann Klaus, der sie zunächst nicht erkennt, so sehr hat sie sich verändert. Der Besuch weckt große Verzweiflung: „Klaus war dagewesen. Und er war wieder fort. Ich wollte, er wäre nicht gekommen. Ich hatte schon begonnen, ihn zu vergessen, in die gnädige Narkose zu sinken. Nun ist alles wieder von neuem zu überwinden“ (S. 115). Doch die Bücher, die er ihr mitbringt, machen sie zumindest für wenige Minuten glücklich. Erst jetzt merkt sie, wie sehr sie das geistige Leben entbehrt.

Das Gefängnis verändert die einstmals bürgerlichen Einstellungen der Autorin, ebenso wie das Verständnis für die Handlungen von Menschen: „Wie leicht habe ich früher die Menschen abgeurteilt. Nun sehe ich jeden Menschen wie in einem Netz gefangen. Bei dem einen heißt das Netz Not, bei dem andern Affekt und Leidenschaft, bei dem andern Leichtsinn und Irrtum. Viele Delikte sind in einem Zustand begangen worden, der den Psychiater mehr angeht als den Richter. Viele Verbrechen wären sicherlich überhaupt nie begangen worden, wäre die Gesellschaftsordnung sozialer und wäre die Überschätzung von Besitz und Sicherheit aus der Welt geschafft“ (S. 65). Im Gefängnis werde man zum Gegenteil dessen, was man werden solle, man werde asozial. Besser wäre es daher, die Gefängnisse abzuschaffen. Die unverbesserlich asozialen Elemente müsse man mit der Todesstrafe aus der Welt schaffen, für die übrigen gelte, dass der Schaden wieder gutgemacht werden müsse durch Geld oder Arbeit. Denn man bessere den Menschen niemals durch Unterdrückung und Demütigung, sondern nur durch Erziehung und Hebung des Selbstbewusstseins und richtige Lenkung der Kräfte. Auch ihre eigene Person beurteilt sie neu: „Ich sehe mich mit meinen niederen Instinkten, mit den falschen, verlogenen, romantischen Ansichten von Ehre, Moral, Standesbewußtsein und all diesen schönen, angelernten, konventionellen Ideen. Zum Schluß bleibt nichts von einem als ein Tier, das fressen und schlafen will, sich vor Schlägen fürchtet und in die Freiheit ausbrechen will“ (S. 171).

Rinser stellt auch Überlegungen zum Unterschied zwischen der Inhaftierung eines Mannes und einer Frau an. Viele inhaftierte Frauen seien geschieden, stellt sie fest. Einige könnten durch die lange Trennung von einem Mann den Verlockungen von Kriegsgefangenen nicht widerstehen. Häufig sei jedoch auch, dass Männer sich scheiden ließen, wenn die Frau verhaftet würde: „Sie schämten sich der Frauen, die im Gefängnis saßen, oder sie fürchteten, ihre Karriere unmöglich zu machen, durch eine Frau, die Sträfling war“ (S. 84). Daher benutzen sie häufig die bequeme Gelegenheit, sich einer unliebsamen Ehefrau zu entledigen: „Die Frauen werden in diesem Fall schuldig geschieden, bekommen kein Geld, verlieren meist die Kinder und sind vollkommen wehrlos. Die Richter sind ja Männer“ (ebd.).

Am 22. November 1944 wird Rinser schließlich vor den Untersuchungsrichter geführt. Er hört sich geduldig ihre Erklärungen an und schenkt diesen offensichtlich Glauben. Er stellt fest, dass kein dringender Verdacht zur Wehrkraftzersetzung bestehe und vom Erlass eines Haftbefehls abgesehen werde. Rinser und ihr Anwalt hoffen nun auf baldige Entlassung, hegen jedoch auch Befürchtungen, da die Angelegenheit erst noch einmal zur Gestapo muss.

Kurz vor Weihnachten ist die Stimmung unter den Häftlingen schlecht. Eine Verletzung an Rinsers Hand heilt seit Wochen nicht und bricht immer wieder auf. Ihr Anwalt hat ein Gesuch auf zwölf Tage Haftunterbrechung zu Weihnachten gestellt, nun wartet sie jeden Tag auf ihre Entlassung. Am 21. Dezember 1944 – dem letzten Eintrag des Tagebuchs aus der Haft – ist große Resignation und Erschöpfung spürbar. Rinser hat sich damit abgefunden, dass die Familie ohne sie feiern muss. Von dem Paket, das sie von ihrer Familie bekommen hat, ist am Abend die Hälfte der Plätzchen und Äpfel gestohlen.

Der nächste Eintrag datiert vom Oktober 1945 – also etwa einem Jahr später. Rinser hat einen Brief der Frau bekommen, die sie denunziert hat, und gibt diesen im Wortlaut wieder. Diese geht davon aus, dass nun Rinser ihrerseits aus Rache für die Verhaftung ihres Mannes durch die alliierten Besatzungsmächte gesorgt habe. Sie möchte Abbitte leisten und entschuldigt sich damit, dass damals ihr Weltbild zerbrochen sei und sie habe aussagen müssen, bereue dies jedoch aufrichtig. In ihrer Antwort vom 12. Oktober 1945 wehrt sich Rinser gegen die Denunziationsvorwürfe, denn sie glaube nicht daran, „daß Blut durch Blut gelöscht werden kann“ (S. 232). Zudem seien die Leiden des Gefängnisses längst unwesentlich geworden und überwogen durch den geistigen Gewinn aus dieser Zeit. Sie spricht der Briefeschreiberin jedoch echte Reue ab und stellt fest, der Wandlung liege nicht „die Erkenntnis der Unwahrhaftigkeit, der Bosheit, Dummheit und Unmenschlichkeit“ (S. 233) zugrunde, sondern „lediglich die bittere Erfahrung seiner Unhaltbarkeit“ (ebd.). Daher nimmt sie die Entschuldigung nicht an, appelliert jedoch daran, „Schluß [zu] machen mit Haß, Blut und Tod“ (S. 234). Sie, die Überlebenden, wollten nun „Friede und Menschlichkeit“ (ebd.).

Dem Tagebuch ist ein Vorwort der Autorin vorangestellt. Darin schildert sie die Gründe für dessen Veröffentlichung. Nicht ihr persönliches Schicksal sei wichtig, sondern das Tagebuch zeige den Alltag eines deutschen Untersuchungsgefängnisses im Dritten Reich und stehe exemplarisch für viele Schicksale. Es gebe Menschen, die heute sagen, man solle „jene schrecklichen und traurigen Erlebnisse begraben und vergessen“ (o.S.). Es sei begreiflich, so bemerkt Rinser dazu, dass viele nichts mehr von dem hören wollten, was sie selbst erlebt hätten. Für diese Menschen sei das Buch nicht geschrieben. Es sei für jene, die nichts dergleichen gesehen und erlebt hätten, die kaum oder gar nicht gelitten hätten. Sie sei der Überzeugung, dass das Böse nur überwunden werden könne, wenn „wir wie unbestechliche Diagnostiker es von hundert Seiten her betrachten und durchdenken und rechtzeitig die richtige und gründliche Therapie anwenden“ (o.S.). Für sie sei der Aufenthalt im Gefängnis zur Wende ihres Lebens geworden.


Biografie

Luise Rinser (geb. 30.04.1911 in Pitzling am Lech, gest. 17.03.2002 in Unterhaching) verbrachte ihre Kindheit in Oberbayern. Ihre Eltern waren streng katholisch. Mit dreizehn Jahren kam sie in ein Lehrerinnenseminar in München, wo sie eine Ausbildung zur Volksschullehrerin begann. Sie studierte Pädagogik und Psychologie und war danach ab 1935 als Aushilfslehrerin in verschiedenen kleinen Orten tätig. Ab 1931 schrieb sie Artikel für die „Deutsche Junglehrzeitung“. Außerdem veröffentlichte sie ihre ersten kleinen Erzählungen in der Zeitschrift „Herdfeuer“, über eine dem Nationalsozialismus positiv gegenüberstehende junge Frau. 1934 verfasste sie unter dem Titel „Junge Generation“ ein Lobgedicht auf Adolf Hitler. Sie gehörte seit 1936 der NS-Frauenschaft und bis 1939 dem NS-Lehrerbund an. Sie engagierte sich auch stark im BDM, organisierte etwa Schulungslager für junge Lehrerinnen. Mitglied der NSDAP wurde sie jedoch auch dann nicht, als sie ihre erste feste Anstellung als Lehrerin erhielt. Weitere Dokumente bezeugen eine (teilweise) kritischere Haltung zum Nationalsozialismus in den späteren Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft.

1939 verließ sie freiwillig den Schuldienst. Im selben Jahr heiratete sie im Mai ihren Verlobten Horst-Günther Schnell, einen jungen Pianisten und Dirigenten, der eine Anstellung als Kapellmeister an der Oper Braunschweig erhielt, wo das Paar hinzog. Am 27. Februar 1940 wurde der erste Sohn Christoph geboren, ein Jahr später zog die Familie nach Rostock, wo im Oktober 1941 der zweite Sohn Stephan zur Welt kam – vermutlich aus einer außerehelichen Beziehung, wie der Biograph José Sánchez de Murillo von Luise Rinser persönlich erfahren haben soll. Im Mai 1941 erschien ihre Erzählung „Die gläsernen Ringe“, die die begeisterte Zustimmung Hermann Hesses fand, mit dem sie über viele Jahre in Kontakt stand. Auch mit Ernst Jünger entwickelte sich in diesen Jahren ein intensiver Briefwechsel. Für die UFA arbeitete sie 1942 an einem Drehbuch über den weiblichen Arbeitsdienst.

Im Juni 1942 wurde die Ehe mit Horst-Günther Schnell geschieden. Schnell begann bereits vor der Geburt von Rinsers zweitem Sohn eine Beziehung zur Schriftstellerin Hedwig Rohde. Noch im selben Jahr wurde er zur Wehrmacht einberufen und nach Russland abkommandiert, wo er 1943 fiel. Luise Rinser zog in das bayerische Dorf Kirchanschöring bei Freilassing, wo sie mit ihren beiden Kindern in ärmlichen Verhältnissen lebte. Zeitweise war der Sohn Stephan in einem Kinderheim untergebracht. 1943 schrieb sie für den NS-Propagandafilm-Regisseur Karl Ritter das Drehbuch für den geplanten Film „Schule der Mädchen“ über den Reichsarbeitsdienst. Der Film wurde jedoch nie realisiert.

Im Januar 1944 heiratete sie den Schriftsteller und Kommunisten Klaus Herrmann, die Ehe wurde 1952 geschieden. In ihrer Biografie „Den Wolf umarmen“ stellt Luise Rinser diese Ehe als humanitäre Scheinehe zwischen zwei Antifaschisten dar, die sie eingeht, um den politisch und zusätzlich als Homosexuellen gefährdeten Mann vor dem KZ zu retten.

Am 12. Oktober 1944 wurde sie nach einer Denunziation durch die ehemalige Mitschülerin Lisl Grünfelder wegen Wehrkraftzersetzung verhaftet und im Frauen-Untersuchungsgefängnis Traunstein inhaftiert. Grünfelder war verzweifelt, da ihr Mann an der Front in Ostpreußen stationiert war und sie um sein Leben fürchtete. Luise Rinser versuchte, ihr Mut zu machen und riet ihr, ihrem Mann eine Flucht vorzuschlagen, da der Krieg ohnehin bald vorbei sei. Diesen Rat beherzigte die Frau, der Mann jedoch zeigte Rinser umgehend an.

Nach der Verhaftung kam der ältere Sohn Christoph zu den Großeltern nach Rosenheim, Stephan blieb im Kinderheim. Ein Prozess scheint nicht stattgefunden zu haben. Am 21. Dezember 1944 erhielt Rinser Hafturlaub zu Weihnachten. Ob sie danach, wie sie in der 1981 veröffentlichten Autobiografie „Den Wolf umarmen“ schrieb, bis zum Einmarsch der Amerikaner im Gefängnis war, ist unklar. Dokumente, die dies nahelegen oder bezeugen, scheint es nicht zu geben, wie Michael Kleeberg feststellt.

Nach dem Krieg arbeitete Luise Rinser von 1945 bis 1953 als freie Mitarbeiterin bei der „Neuen Zeitung“, wo sie Bücher rezensierte und Artikel zu kulturellen Themen schrieb. Auch in der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) engagierte sie sich. 1946 erschien außerdem Rinsers „Gefängnistagebuch“ sowie 1947 eine Arbeit zu Johann Heinrich Pestalozzi mit dem Titel „Pestalozzi und wir“, danach 1948 der Roman „Erste Liebe“.

Als ‚politisch Verfolgte‘ des Hitler-Regimes bekam Rinser Anfang 1948 eine Wohnung in München zugeteilt, die sie ohne ihren Mann bezog. Sie setzte ihre schriftstellerische Tätigkeit fort und veröffentlichte 1949 unter anderem das Kinderbuch „Martins Reise“ und 1950 den Roman „Mitte des Lebens“, der große Anerkennung fand und in mehrere Sprachen übersetzt wurde. In den folgenden Jahren veröffentlichte sie viele weitere Romane sowie unzählige Rezensionen, Feuilletons und Essays. Auch als Rednerin trat sie auf, etwa zu Entnazifizierungs- oder gesellschaftspolitischen Themen. Sie verkehrte mit den führenden Kulturschaffenden der Zeit, wie etwa Erich Kästner, Wolfgang Koeppen, Fritz Arnold oder Ernst Petzold.

Von 1954 bis 1959 war Rinser mit dem Komponisten Carl Orff verheiratet. 1957 studierte sie im Spätsommer an der Ausländeruniversität Perugia und erhielt ein Stipendium der Villa Massimo in Rom. Hier entstand 1959 „Geh fort wenn du kannst“. Seit 1959 lebte sie bei und in Rom, hielt sich jedoch bis zu ihrem Lebensende auch oft in München auf. Drei Jahre schrieb sie regelmäßige Kolumnen für die Frauen-Zeitschrift „Für Sie“, die zwischen 1966 und 1968 in drei Bänden als Buch veröffentlicht wurden. Auch mit kirchlichen Fragen setzte sie sich immer wieder in ihren Schriften auseinander.

1981 veröffentlichte Rinser den ersten Teil ihrer inzwischen umstrittenen Autobiografie „Den Wolf umarmen“, die bis zum Jahre 1950 reicht und die häufig als Grundlage für Biografien über Luise Rinser herangezogen wurde. Wie de Murillo ausführt, besteht jedoch an vielen Stellen eine Diskrepanz zwischen den Berichten Rinsers und den historischen Fakten: „Das gängige Bild von Luise Rinser stellt also in entscheidenden Punkten, die sowohl ihr Leben als auch ihre Rolle in der Zeit des Nationalsozialismus betreffen, geradezu eine Fälschung dar“ (De Murillo 2011, S. 214.). 1994 folgte der zweiten Teil der Autobiografie unter dem Titel „Saturn auf der Sonne“. Im Herbst desselben Jahres reiste Rinser nach Dharamsla, wo sie mehrere Gespräche mit dem Dalai Lama führte, die 1995 unter dem Titel „Mitgefühl als Weg zum Frieden. Meine Gespräche mit dem Dalai Lama“ veröffentlicht wurden.

Luise Rinser mischte sich immer wieder aktiv in politische und gesellschaftliche Diskussionen in der Bundesrepublik Deutschland ein. Sie galt als „Linkskatholikin“ (Kleeberg 2011, S. 101) und wurde zu einer scharfen Kritikerin der katholischen Kirche, aus der sie jedoch nicht austrat. In den 1970er Jahren engagierte sie sich für die Abschaffung des Abtreibungsparagraphen §218 und kritisierte 1968 in einem offenen Brief das Urteil gegen die späteren RAF-Terroristen Andreas Baader und Gudrun Ensslin. 1972 unterstützte sie Willy Brandt im Wahlkampf.

In den Jahren ab 1972 unternahm sie zahlreiche Auslandsreisen, unter anderem nach Süd- und Nordkorea sowie in den Iran, wo sie den Revolutionsführer Ajatollah Chomeini als Vorbild für die Länder der Dritten Welt lobte. Rinser war eine Bewunderin des nordkoreanischen Diktators Kim Il-sung. Anfang der 1980er Jahre demonstrierte sie zusammen mit den Schriftstellern Heinrich Böll und Günter Grass gegen den NATO-Doppelbeschluss, und wurde 1984 von den Grünen als Kandidatin für das Amt des Bundespräsidenten vorgeschlagen.

Als Schriftstellerin war Rinser äußerst produktiv und erfolgreich. Sie veröffentlichte dreizehn Romane, neun Erzählbände, dreizehn autobiografische Bücher, dazu Jugendbücher und mehr als dreißig Reiseberichte, Gesprächs- und Essaysammlungen. Ihre Bücher wurden Schullektüre und verkauften sich millionenfach. Rinser erhielt auch zahlreiche Auszeichnungen und Ehrungen, so erhielt sie unter anderem 1977 das Große Verdienstkreuz des Verdienstordens der BRD und 1987 den Heinrich-Mann-Preis der Akademie der Künste der DDR. 1986 verlieh ihr die Universität Pjöngjang in Nordkorea die Ehrendoktorwürde. 1987 wurde sie Autor des Jahres in Palestrina in Italien.

Rinsers Positionierung im Dritten Reich ist umstritten und ambivalent. Ihr wird vorgeworfen, dass sie nach dem Krieg und insbesondere in ihrer Autobiografie ihre anfängliche Begeisterung für den Nationalsozialismus heruntergespielt und ihre Rolle im Widerstand übertrieben habe. Luise Rinser soll nicht nur ihre politischen Überzeugungen, sondern auch viele ihrer Lebensdaten für die Nachwelt gezielt verschleiert und verfälscht haben. Michael Kleeberg konstatierte beispielsweise: „Luise Rinser hat ihre Erfahrungen mit Diktaturen und Diktatoren gemacht und darüber auf unterschiedlichste Art und Weise geredet und geschwiegen“ (Kleeberg 2011, S. 101). Sie habe offenbar genau darauf geachtet, welche Version ihres Lebens an die Öffentlichkeit gekommen sei. Ihre Selbstdarstellung als Widerständlerin halte keiner Nachprüfung stand. An vielen Beispielen belegt er, wie Luise Rinsers Selbstzeugnisse oft durch andere Informationen widerlegt werden können.

Ausführlich widmet sich auch José Sánchez de Murillo den widersprüchlichen Selbstzeugnissen Rinsers in seiner Biografie, die im April 2011 in Deutschland unter dem Titel „ Luise Rinser – Ein Leben in Widersprüchen“ erschien, und an der auch Rinsers Sohn Christoph mitarbeitete. Darin nimmt dieser wesentliche Richtigstellungen an Rinsers eigener Lebensdarstellung in der Nazi-Zeit vor. So soll Rinser zum Beispiel ab Sommer 1933 als engagierte Nazi-Pädagogin gegolten und ihren jüdischen Schuldirektor Karl Würzburger beim Schulrat denunziert und damit ihre eigene Karriere befördert haben. De Murillo schreibt zu Rinsers Umdeutung ihrer Rolle im frühen Nationalsozialismus: „Die Umdeutung ist verständlich. Luise Rinser hat Generationen von deutschen und nichtdeutschen Frauen als weibliches Ideal gegolten. Der Gedanke, dass eines Tages die Wahrheit ans Licht treten könnte, versetzte sie in Panik“ (De Murillo 2011, S. 106). Zu Rinsers Biografie und Leben gehört diese Widersprüchlichkeit: Sie schrieb vom Nationalsozialismus begeisterte Gedichte und Texte, verfasste sogar ein Drehbuch für die UFA, war BDM-Führerin. „Dann aber saß sie als Feindin des Dritten Reichs im Gefängnis, hatte nach 1945 am geistigen Aufbau der Bundesrepublik maßgeblich mitgewirkt und war als führende Schriftstellerin im demokratischen Deutschland zum Vorbild für Generationen von Frauen und auch Männern geworden“ (ebd., S. 418).

Quellen:


Werkgeschichte

Die Entstehungsgeschichte des Gefängnistagebuchs von Luise Rinser ist widersprüchlich. Sie schrieb Tagebuch, sie habe in der Haft einige Bogen Papier und einen Bleistift unter einem lockeren Brett im Fußboden gefunden und darauf ihre Erfahrungen niedergeschrieben. In ihrer Autobiografie „Den Wolf umarmen“ behauptet sie dagegen, in Stichworten mit einem Bleistiftstummel, den sie in der Zelle fand, auf den unbedruckten Rand von altem Zeitungspapier, das als Klopapier ausgegeben wurde, geschrieben zu haben. In dem Maße, in dem Rinsers ‚Umdeutungen‘ ihrer Biografie bekannt wurden, sind auch die Schilderungen ihres „Gefängnistagebuchs“ von 1946 kritisch untersucht und überprüft worden. Zahlreiche Aspekte des Tagebuchs scheinen zumindest unklar. Michael Kleeberg schreibt etwa: „Da die ganze Mär der Widerständlerin Rinser und ihres ebenso widerständlerischen Mannes keiner Nachprüfung standhält, sah ich zum ersten Mal auch die von ihr immer wieder erzählte Geschichte ihrer Verfolgung, Denunziation, ihrer Haft, wie sie sie im Grundtext ihres Selbstbildes, dem ‚Gefängnistagebuch‘, schilderte, mit fragenden Augen an: War sie wirklich jene aktive Antifaschistin gewesen, die mutig die Folgen ihre Handlungen in Kauf nahm“? (Kleeberg 2011, S. 103)

So scheint sie entgegen ihren dortigen Schilderungen, die sie auch in „Den Wolf umarmen“ ausführt, weder wegen Hochverrats angeklagt, noch scheint ein Prozess am Volksgerichtshof Berlin gegen sie angestrebt worden zu sein. Stattdessen, so erläutert Kleeberg, habe er im Bundesarchiv Berlin eine Anklageschrift auf Wehrkraftzersetzung vom 28. März 1945 gefunden, als Rinser schon lange wieder auf freiem Fuß war. Ein Prozess hat nie stattgefunden. Die Anklageschrift bestätigt, dass Rinser vom 12. Oktober bis Ende 1944 in Polizeihaft gewesen sei. Auch die Umstände der Haftunterbrechung im Dezember 1944, nach der Rinser nicht wieder ins Gefängnis zurückkehren musste, sind unklar. Zu einem Prozess gegen sie vor dem Volksgerichtshof kam es nicht mehr. Ihre Gerichtsunterlagen gingen in den Wirren am Kriegsende verloren. In ihrer Biografie schrieb Rinser hingegen von einer Hochverratsanklage und einem vermutlich zu erwartenden Todesurteil, sowie von bereits länger andauernder Verfolgung durch die Gestapo, die nicht belegbar sei. Die Anklageschrift beschränkt sich auf die Inhalte der Denunziation. Rinser habe einer Freundin gegenüber „vom baldigen Ende des Kriegs gesprochen, die Russen als nicht so schlimm und ein Sich-Arrangieren mit ihnen als möglich bezeichnet, auch wenn das bedeute, seine Kinder aufgeben zu müssen, um die eigene Haut zu retten“ (Kleeberg 2011, S. 104).

Dies alles lässt Kleeberg zu dem Fazit kommen: „Was hat Luise Rinser also mit den Fakten rund um ihre Verfolgung und Verhaftung getan? Das, was ein Schriftsteller gemeinhin mit einem Stoff tut: Sie hat gerafft, zusammengezogen und dramatisiert. Nur dass der Stoff in diesem Fall kein Roman war, sondern ihr Leben, das sie auf gänzlich neue Füße stellt“ (Kleeberg 2011, S. 105).

Nach seinem Erscheinen 1946 wurde Luise Rinsers „Gefängnistagebuch“ überwiegend wohlwollend und positiv aufgenommen. So erschien etwa 1946 in „Welt und Wort“ eine Besprechung von Hugo Seeger, der selber Häftling eines bayerischen Gefängnisses war. In dieser lobt er „diese lebendige Schilderung des Lebens und Duldens weiblicher Häftlinge“ (Seeger 1946, S. 94). Hier würden – leidenschaftslos und schlicht von einer „jener ‚Politischen‘, die den Kampf gegen die Machthaber draußen im Volk führten“ (ebd.) – bei stetem Wechsel der handelnden Personen auf kleinstem Raum die Schicksale von Frauen geballt, „die gegen Gottes Gebote verstoßen hatten und nach dem Urteil menschlicher Richter von zweifelhafter Qualität nun für ihre Sünden büssen mußten“ (ebd.). Dennoch, so beendet Seeger die Besprechung, müssten „die seelischen Bedrängnisse, denen Luise Rinser und ihre Mitleidenden ausgesetzt gewesen sind, […] mehr oder weniger verblassen im Vergleich mit dem, was damals die männlichen Insassen der Todeszellen in Himmlers Zuchtanstalten auszuhalten hatten“ (ebd.).

Im „Aufbau“ begrüßte Roland Schacht 1946 die Veröffentlichung von Luise Rinsers Tagebuch „mit seinen mannigfachen Frauengestalten […]: Es kann wecken und mahnen und unser Gewissen wachhalten, wenn wir uns im Elend und der (selbstbereiteten) Schmach verhärten sollten“ (Schacht 1946, S. 1073).

In einer Sammelrezension in „Die Welt“ vom 13. September 1947 wurde Rinsers Tagebuch von Rudolf Küstermeier neben unter anderem Isa Vermehrens „Reise durch den letzten Akt“, Eugen Kogons „Der SS-Staat“ und Walter Pollers „Arztschreiber in Buchenwald“ in einem eigenen kurzen Abschnitt besprochen. Küstermeier lobt das Tagebuch für seine Phrasenlosigkeit und stellt fest: „Wie schwer in solcher Umgebung solche Schlichtheit zu erringen und wie schwer sie durchzuhalten ist, das merkt der Leser kaum. Eben darum aber bringt die Lektüre soviel Gewinn“ (Küstermeier 1947, S. 4).

Wolfgang Borchert bescheinigte dem Werk in der „Hamburger Freien Presse“ vom 18. Januar 1947 in einer Sammelrezension zur KZ-Literatur, dass es sich durch eine „erfreuliche Sachlichkeit“ (Borchert 2007, S. 499) auszeichne. Das Buch erschüttere nicht eigentlich, dazu seien die körperlichen Leiden im Verhältnis zu denen des Frontsoldaten oder Großstadtmenschen im Luftschutzbunker eher gering, „aber es zeigt mit eindrucksvoller, grauenhafter Deutlichkeit, daß die Lynchjustiz des Dritten Reiches vor nichts, vor gar nichts halt machte – nicht einmal vor der Frau, vor der Mutter und dem Mädchen“ (ebd.). Jedoch, so schließt er, sei das Buch, ebenso wie „Die Reise durch den letzten Akt“ von Isa Vermehren, „weitaus objektiver und wertvoller als die Aufzeichnungen der männlichen Autoren“ (S. 500) der von ihm rezensierten Werke.

Quellen:

  • Borchert, Wolfgang: „Kartoffelpuffer, Gott und Stacheldraht. KZ-Literatur“. In: Ders.: Das Gesamtwerk. Hg. von Michael Töteberg. Reinbek 2007, S. 497-504.
  • Kleeberg, Michael: „Luise Rinsers Vergesslichkeit“. In: Der Spiegel (2011), Nr. 2, S. 100-106. Online: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-76229390.html (Stand: 17.09.2019).
  • Küstermeier, Rudolf: „Blick in den Abgrund“. In: Die Welt vom 13.09.1947, S. 4.
  • o.A.: „[Rezension]“. In: Die Neue Zeitung vom 27.05.1946, o.S.
  • Rinser, Luise: Gefängnistagebuch. München 1946.
  • Rinser, Luise: Den Wolf umarmen. Frankfurt a.M. 1984.
  • Schacht, Roland: „Bücherschau“. In: Aufbau(1946), Nr. 2, S. 1073.
  • Seeger, Hugo: „Rinser, Luise: Gefängnistagebuch“. In: Welt und Wort (1946), Nr. 1, H. 3, S. 94.



Bearbeitet von: Charlotte Kitzinger