Geschichte der evangelischen Gemeinde Theresienstadt 1942-1945 (1948)

Aus Frühe Texte der Holocaust- und Lagerliteratur 1933 bis 1949
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Angaben zum Werk

Titel Geschichte der evangelischen Gemeinde Theresienstadt 1942-1945
Autor Goldschmidt, Arthur (1873-1947)
Genre Erinnerungsbericht

Ausgaben des Werks

Digitalisat in DIGISAM öffnen
Ausgabe von 1948, Tübingen
Titel Geschichte der evangelischen Gemeinde Theresienstadt 1942-1945

Erscheinungsort Tübingen
Erscheinungsjahr 1948

Verlegt von Furche-Verlag
Gedruckt von Buchdruckerei Eugen Göbel
Publiziert von Goldschmidt, Arthur (1873-1947)

Umfang 36 Seiten

Lizenz G.M.Z.F.O. Visa No. 3667/Rp de la Direction de l’Education Publique Autorisation No. 3589 de la Direction de l’Information
Preise 1,50 Mark
Bibliotheksnachweise UBGI-icon.gif UB Gießen (Print-dnb-icon.gif gedruckte Ausgabe)
UBGI-icon.gif UB Gießen (Online-dnb-icon.gif elektronische Ausgabe)

Zusammenfassung

In seinem Bericht schildert Arthur Goldschmidt den Aufbau und die Strukturen der evangelischen Gemeinde, die sich im Getto Theresienstadt zusammengefunden hat. Goldschmidt selbst war der Vorsitzende und zeitweise der einzige Prediger der christlichen Glaubensgruppe im jüdischen Getto. Er beschreibt daher aus erster Hand die Liturgie der Gottesdienste, die Themen der Bibelstunden und die praktischen Probleme bei der Bildung der Gemeinde.

Nach seiner Ankunft im Getto setzt sich Goldschmidt sofort für die Gründung einer evangelischen Gemeinde ein. Einige Hundert durch die Nürnberger Rassegesetze als Juden definierte Bewohner des Gettos bezeichnen sich selbst als gläubige Christen; auch sind viele nichtjüdische Partner aus sogenannten Mischehen freiwillig mit in das Getto gekommen, die nun auch dort ihren christlichen Glauben ausüben wollen. Goldschmidt hält hierzu fest: „Es bedarf kaum einer Ausführung, daß die überzeugten Christen an dieser geistigen Bindung an das Judentum, von dem sie – innerlich und äußerlich – immer schon gelöst waren oder sich selbst gelöst hatten, nicht teilhatten“ (S. 9). Bestrebungen zur Gründung einer evangelischen Gemeinde sind die Folge. Goldschmidt sammelt bereits am ersten Sonntag nach seiner Ankunft in Theresienstadt eine kleine Gruppe von Gläubigen um sich. Die kleine Gemeinde im Getto, das Goldschmidt auf den ersten Seiten genau beschreibt, muss in der Folge einige Hindernisse überwinden. Zwar erlauben der Judenrat und die SS – bis auf ein kurzzeitiges Verbot – die Gottesdienste, Bibelstunden und Gemeindeabende, jedoch sind praktische Probleme zu lösen: Im überfüllten Getto müssen passende Räumlichkeiten für die stetig wachsende Gemeinde – 150 bis 200 Gläubige kommen schließlich wöchentlich zusammen – gefunden werden, denn bald reichen die dunklen Dachböden nicht mehr aus; Kruzifixe und Gesangbücher müssen ebenso beschafft werden wie Kerzen, die im Getto Mangelware sind. Goldschmidt weist ausführlich darauf hin, dass die Gemeinde kirchen- und staatsrechtlich keine Grundlage hat und von den entscheidenden jüdischen und deutschen Stellen nur "'geduldet'" (S. 14) sei. Die jüdische Gettoverwaltung unter dem Judenältesten Benjamin Murmelstein unterstützt sie dennoch. Es wird ihnen zum Beispiel eine Tanne für Weihnachten erlaubt und teilweise dürfen sie sogar die Arbeitsplätze für den Gottesdienstbesuch verlassen. Da ihnen kein ordinierter Pfarrer vorsteht, werden die Predigten von Goldschmidt selbst gehalten. Evangelische Taufen oder Hochzeiten werden ebenfalls nicht vollzogen. Allerdings werden christliche Beerdigungen, Seelsorgebesuche in den Krankenhäusern und das Abendmahl praktiziert, soweit dies möglich ist. Im Mai 1943 gibt man dem Drängen nach und die christlichen Toten werden in einer Halle separat aufgebahrt und das Vaterunser darf gebetet werden. Für das Abendmahl erhält die Gemeinde süßes Brot von der Gettoverwaltung, Tee mit Zucker ersetzt den Wein, der von der SS verboten wurde.

Die Gemeinde ist überaus heterogen, sie setzt sich aus Mitgliedern zusammen, die sich erst in den 1930er Jahren hatten taufen lassen, als man hoffte, dass dies die eigene Situation verbessern könnte, aber auch aus Menschen, deren Familien seit Generationen tief im christlichen Glauben verwurzelt sind. Zudem finden sich alle evangelischen Bekenntnisse im Lager, „von der Orthodoxie über alle Schattierungen des Liberalismus hinweg bis zu einem rationalistischen, mehr oder minder verschwommenen, Deismus“ (S. 30). Daher unterscheiden sich auch die Bedürfnisse und das Wissen über den Glauben erheblich. Goldschmidt wird daher zum zentralen Punkt der Gemeinde, entwickelt Strukturen und benennt Diakone. Einen Streit, bei dem ein neu im Getto Angekommener, der sich der Bekennenden Kirche zuordnet und als „Notgeistlicher“ (S. 20) ordiniert ist, auch predigen möchte, gewinnt Goldschmidt mit dem Hinweis, dass dies die Einheit der Gemeinde zerstören würde. Diesen Streit und auch die Bemühungen um neue Räumlichkeiten beim Judenrat belegt er in seiner Broschüre mit Briefen und Protokollen aus dem Jahr 1943.

Goldschmidt hält fest, dass vermutlich kein Mitglied der katholischen Gemeinde in Theresienstadt das Kriegsenede überlebt habe, weshalb er ebenfalls kurz auf deren Strukturen und Akteure eingeht. Er selbst ist zeitweise von der katholischen Gemeinde bevollmächtigt worden, für sie vor dem Judenrat zu sprechen und kennt sie auch von den teilweise gemeinsam abgehaltenen Gemeindeabenden, auf denen jeweils – neben kulturellen oder historischen Vorträgen – über katholische und evangelische Themen gesprochen wurde. Die Gemeinde, die nach Ende des Krieges von zwei Wiener Katholiken gegründet wurde, hat mehr Mitglieder als die evangelische. Da kein geweihter Priester für die Sakramente vor Ort ist, werden lediglich Andachten abgehalten, die sich sonntagmorgens den evangelischen Gottesdiensten in denselben Räumlichkeiten anschließen. Im Gegensatz zu der evangelischen Gemeinde steht die katholische allerdings in Kontakt mit anderen Gläubigen außerhalb des Gettos und erhält Lebensmittelpakete aus dem Erzbistum Wien. In der katholischen Gemeinde gibt es keine zentrale Figur wie Goldschmidt, da durch Deportationen und Krankheiten die führenden Personen immer wieder wechseln.

Über allen religiösen Bemühungen schwebt aber immer die Angst vor Deportationen und mehrfach berichtet Goldschmidt von engagierten Personen, die an Krankheiten im Getto sterben. Dennoch sieht er im Glauben eine Stütze für die Menschen und die Predigten seien auf das Aufrechterhalten der Hoffnung ausgerichtet gewesen, statt auf religiöse Belehrung. So schreibt er auch an den Judenältesten, dass die Gottesdienste „für den Mut und das Durchhalten einer großen Zahl von einzelnen Menschen von vitaler Bedeutung“ (S. 19) seien. Gerade die Predigt gebe „der Gemeinde einen gewissen Halt gegen das äußere Leiden“ (S. 21). Dabei nimmt Goldschmidt durchaus auch Gerüchte über den Kriegsverlauf und die nahende Kapitulation der Deutschen in seine Predigten auf, um den Menschen eine Zukunft aufzuzeigen.

Der Text in Ich-Form entspricht einer fast wissenschaftlichen Abhandlung, ist klar strukturiert und schildert die Ereignisse umfassend und zumeist neutral. Auffallend ist allerdings, dass sich Goldschmidt und die evangelische Gemeinde von der Mehrheit der Juden im Getto distanziert, da er, wenn er von Juden spricht, dieses Wort in Anführungszeichen setzt. Auch thematisiert er das Problem der Ost- und Westjuden, wenn er von „einer großen Anzahl von noch völlig ‚östlich‘ anmutenden Personen“ (S. 8) spricht. Es scheint durchaus zu Problemen zwischen den christlichen und gläubigen jüdischen Menschen im Getto gekommen zu sein: Die Juden lehnen die Christen, vor allem jene, die sich erst kurz vor dem Krieg haben taufen lassen, offen ab und beschimpfen sie als „Abtrünnige“ (S. 12). Gleichzeitig konstatiert Goldschmidt auch eine Überheblichkeit der Christen gegenüber den Juden, ein Verhalten, dem er in seinen Predigten laut eigener Aussage durch Aufklärung über die Geschichte des Judentums entgegenzuwirken versucht.


Biografie

Dr. Arthur Goldschmidt (geb. 30.04.1873 in Berlin, gest. 09.02.1947 in Reinbek) entstammte einer gebildeten, gutbürgerlichen Familie und wuchs als eines von fünf Geschwistern in Berlin und Hamburg auf. In Hamburg besuchte er ein humanistisches Gymnasium und vertrat eine starke deutsch-patriotische Haltung. So meldete er sich 1914 als Freiwilliger zum Kriegseinsatz, wurde jedoch aus gesundheitlichen Gründen nicht einberufen. Seine Eltern waren bereits vor Goldschmidts Geburt vom Judentum zum Protestantismus übergetreten und lebten assimiliert. Er galt nur auf Grund der Nürnberger Gesetze als Jude, weil seine Großeltern ‚mosaischen Glaubens‘ waren. Er selbst, seine Eltern und seine Schwiegereltern lebten hingegen als Christen; seine drei Kinder und die Enkelkinder wurden sofort nach der Geburt evangelisch getauft und später konfirmiert. Sein Enkel Detlev Landgrebe fasst den Zwiespalt folgendermaßen zusammen: „Er sah sich nicht als Jude, wurde allerdings von den nichtjüdischen Deutschen immer wieder mit seiner jüdischen Herkunft konfrontiert“ (Landgrebe 2009, S. 40).

Der promovierte Jurist arbeitete von 1917 bis 1933 als Oberlandesgerichtsrat in Hamburg und betätigte sich nebenbei als Maler. Politisch vertrat er die konservative Deutsche Volkspartei auf Gemeindeebene und war in zahlreichen Vereinen und Clubs aktiv. Seine Familie war in Reinbek anerkannt und das Einkommen Goldschmidts erlaubte der Familie ein gehobenes gutbürgerliches Leben. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten veränderte das Leben der Familie schließlich abrupt: Arthur Goldschmidt durfte ab April 1933 seinen Beruf nicht mehr ausüben, die finanzielle Lage verschlechterte sich wegen reduzierter Rentenzahlungen, die Familie musste das Haus untervermieten und Hypotheken aufnehmen, um den Alltag finanziell zu meistern. Goldschmidt musste auch die beiden spät geborenen Söhne 1939 nach Italien und später nach Frankreich schicken und das Ehepaar erlebte in Reinbek die Ausgrenzung aus der evangelischen Heimatgemeinde und der Gesellschaft. Am 20. Juli 1942 wurde Goldschmidt nach Theresienstadt deportiert; das Angebot, sich bei einem Freund auf dem Land zu verstecken, hatte er abgelehnt. Seine Frau Kitty, die ebenfalls als Jüdin zum Christentum übergetreten war, war im Juni 1942 nach langer psychischer Krankheit verstorben. In Theresienstadt engagierte sich der damals 70-Jährige umgehend beim Aufbau einer evangelischen Gemeinde, deren Vorsitzender und Prediger er wurde. In dieser Funktion verhandelte er mit dem Judenrat und trat so auch als Sprecher der dortigen katholischen Gemeinde auf. Nach der Befreiung, die er im Getto Theresienstadt erlebte, kehrte er im September 1945 nach Hamburg zurück, wo er energisch versuchte, eine Normalität als geachteter Bürger aufzubauen: Er „richtete sein Leben so ein, als wolle er an die Zeit vor 1933 anknüpfen“ (Landgrebe 2009, S. 176). Goldschmidt engagierte sich bis zu seinem Tod beim Aufbau eines neuen Deutschlands: Er schloss sich der CDU an, wurde zweiter Bürgermeister von Reinbek, erteilte Nachhilfeunterricht, hielt Lesezirkel für junge Leute ab und initiierte die Gründung der Reinbeker Volkshochschule.

Quellen:

  • Goldschmidt, Arthur: Geschichte der evangelischen Gemeinde Theresienstadt 1942-1945. Tübingen 1948.
  • Landgrebe, Detlev: Kückallee 37. Eine Kindheit am Rande des Holocaust. Hg. von Thomas Hübner. Rheinbach 2009.
  • Landgrebe, Detlev: „Eine Kindheit am Rande des Holocaust“. In: Präsident des Schleswig-Holsteinischen Landtages (Hg.): Kirche, Christen, Juden in Nordelbien 1933-1945. Die Ausstellung im Landtag 2005 (=Schriftenreihe des Schleswig-Holsteinischen Landestages 7). o.O. 2006, S. 17-23.
  • Theresienstadt Lexikon. Online: http://www.ghetto-theresienstadt.de/pages/g/goldschmidta.htm (Stand: 17.06.2019).


Werkgeschichte

Arthur Goldschmidt schrieb den Bericht nach seiner Rückkehr nach Hamburg im Arbeitszimmer seiner zurückerlangten Wohnung nieder. Man kann davon ausgehen, dass er nach dem 18. Oktober 1945 begann und spätestens am 6. November 1946 endete. Die Schilderungen über die evangelische Gemeinde im Getto Theresienstadt wurden 1948, also erst nach dem Tod des Autors, in der Schriftenreihe „Das christliche Deutschland 1933-1945“ verlegt. Diese teilte sich in eine evangelische und eine katholische Reihe auf, wobei Goldschmidts Text das siebte Heft der evangelischen Reihe ist. Laut Selbstbeschreibung ist das Ziel dieser Reihe, „ein Bild des geistigen Kampfes [zu] geben, den die Bekennende Kirche gegen die Dämonie des Neuheidentums, der Entchristlichung der Jugend, der Rechtszerstörung und des politischen Machtstrebens im Raum der Deutschen Evangelischen Kirche geführt hat“ (o.S.) Deswegen wurden vor allem Texte verlegt, die – wie Goldschmidts Bericht – während des Krieges nicht publiziert werden konnten.

2009 wurde der Bericht noch einmal herausgegeben im Rahmen des Buches „Kückallee 37“, das nach der Adresse der Villa der Familie Goldschmidt benannt ist. Detlev Landgrebe, der Enkel von Arthur Goldschmidt, schildert darin seine Erinnerungen an ein jüdisch-christliches Zusammenleben und seine Familiengeschichte. Goldschmidts „Geschichte der evangelischen Gemeinde“ im Anhang des Buches wurde von Thomas Hübner mit zumeist biografischen Fußnoten versehen.


Quellen:

  • Goldschmidt, Arthur: Geschichte der evangelischen Gemeinde Theresienstadt 1942-1945. Tübingen 1948.
  • Hübner, Thomas: „Vorwort des Herausgebers“. In: Landgrebe, Detlev: Kückallee 37. Eine Kindheit am Rande des Holocaust. Hg. von Thomas Hübner. Rheinbach 2009, S. 369-373.



Bearbeitet von: Christiane Weber