Gott im Konzentrationslager (1946)

Aus Frühe Texte der Holocaust- und Lagerliteratur 1933 bis 1949
Wechseln zu: Navigation, Suche

Angaben zum Werk

Titel Gott im Konzentrationslager
Autor Walter, Kurt (1892-1963)
Genre Erinnerungsbericht

Ausgaben des Werks

Digitalisat in DIGISAM öffnen
Ausgabe von 1946, Stuttgart
Titel Gott im Konzentrationslager

Erscheinungsort Stuttgart
Erscheinungsjahr 1946
Auflage 1

Verlegt von Verlag Evangelischer Weg
Gedruckt von Hermann Henkel
Publiziert von Walter, Kurt (1892-1963)

Umfang 15 Seiten

Bibliotheksnachweise UBGI-icon.gif UB Gießen (Print-dnb-icon.gif gedruckte Ausgabe)


Zusammenfassung

In „Gott im Konzentrationslager“ schildert der evangelische Pfarrer Kurt Walter seine Haftzeit im Konzentrationslager Buchenwald von 1942 bis 1945. Hierbei beschreibt Walter seine Inhaftierung nicht nur als intensive religiöse Erfahrung, in der er sich mit Gott und anderen inhaftierten Pfarrern emotional verbunden fühlt. Vielmehr führt Walter durch zahlreiche biblische Zitate und Verweise an, dass seine religiöse, gottesfürchtige Weltsicht angesichts der erlebten Grausamkeit und der Gewalt in eine grundlegende Krise gerät, die ihn letztendlich dazu bewegt, sich im Rahmen des Erinnerungsberichts kritisch mit seinem Glauben auseinanderzusetzen.

Zu Beginn ordnet Kurt Walter seinen Bericht in einen Textkorpus bereits existierender Berichte von Überlebenden ein, wobei er sich durch eine polarisierende Ausdrucksweise von Überlebenden, die ihre Erfahrungen und Erinnerungen niedergeschrieben haben, deutlich abgrenzt: „Ich [mag] nicht einfallen [...] in den großen und lauten Chor derer, die nun den Dreck zurückschmeißen, mit dem sie im Lager beschmissen worden sind“ (S. 3). Seine eigene Position bekräftigt Walter ebenfalls durch eine direkte Ansprache an den Leser und stellt gleichsam seine Intention dar: Seine Haftzeit im Konzentrationslager Dachau in Bezug auf seine Tätigkeit und Position als evangelischer Pfarrer zu schildern. Religiös geprägte Begriffe werden in diesem Zusammenhang politisch und historisch gebraucht, so bezeichnet Kurt Walter das NS-Regime als „höllische Dämonen“ und „neue Götter“ (beide Zitate S. 5). Weiterhin werden mit zahlreichen Metaphern die Horror, Gewalt und Folter in eine sprachlich drastische Form gebracht: „Anders sind die fürchterlichen Massenverbrechen an Juden, Polen, Tschechen, anders ist das grauenhafte Blutsäuferturm, anders ist das ganze bedenkenlose Zerbrechen und Zertrampeln alles Rechtes einfach nicht zu verstehen“ (ebd.).

Neben dieser sprachlichen Ebene spielen Walters Beobachtungen, wie sich Gruppendynamiken im Konzentrationslager entwickeln, ebenfalls eine wichtige Rolle. Hierbei wird im Text grundlegend zwischen zwei Formen unterschieden. Auf der einen Seite, so Kurt Walter, existieren Dynamiken der Macht, die Misshandlungen und Gewalttaten der Häftlinge untereinander einschließen und auf Privilegien, die nur bestimmten Häftlingen zugänglich sind, zurückzuführen seien (S. 4). Auf der anderen Seite jedoch beschreibt der Autor ebenfalls, wie die Freundschaft zu anderen Häftlingen für ihn ein wichtiges Mittel darstellt, Trost und Kraft zu schöpfen. Hierbei spielen geheime Gottesdienste, die Walter mit anderen inhaftierten Pfarrern abhält, eine zentrale Rolle, was auch auf der erzählerischen Ebene zum Ausdruck kommt: Anstatt von seinen Erinnerungen unmittelbar mithilfe eines „Ich-Erzählers“ zu berichten, verwendet der Autor nun eine kollektive Erzählstimme, „wir Pfarrer“ (S. 11), und stellt der „Hoffnungslosigkeit, Gefährlichkeit und grauen Öde des Lagerlebens“ „unsere Sonntagsgottesdienste und Abendmahlfeiern“ (ebd.) sowohl sprachlich als auch symbolisch gegenüber. Eine besondere Bedeutung erhält in diesem Rahmen das Osterfest: Indem Walter Gottesdienste als „die wahrhaftigen Lichtstunden“ charakterisiert, in denen „das Licht von Ostern [...] auf all den Graus [fällt] (ebd.) bedient er sich einer biblischen Ausdrucksweise, in denen sein Glaube nicht nur stellvertretend für die Verbundenheit mit Gott, sondern auch für Zusammenhalt, Loyalität und Freundschaft steht.

Diese Beobachtungen werden durch Kurt Walters persönliche Auseinandersetzung mit seinem Glauben ergänzt. Hierbei sieht er seine Haftzeit als „Prüfung“ (S. 9) Gottes und verweist mehrmals auf Psalm 31,9: „Du stelltest meine Füße auf weiten Raum“ (S. 8). Hierbei erfährt der „weite Raum“ eine mehrfache metaphorische Aufwertung. Es wird illustriert, wie für Walter sein Glaube und der damit verbundene Dialog mit Gott eine Rückzugsmöglichkeit darstellen, um die Hoffnungslosigkeit und die katastrophalen hygienischen Zustände im Lager besser verkraften zu können; der „enge Raum“ bezieht sich hier sowohl auf die physische Enge als auch auf das psychologische Trauma, dem die Gefangenen ausgesetzt sind. In diesem Zusammenhang schildert der Autor intensiv, wie ihm insbesondere das Beten hilft, Angst und Trauer angesichts der Gewalt und des Sterbens im Lager zu verarbeiten und zitiert ebenfalls aus dem Römerbrief, um der emotionalen Nähe auch auf textueller Ebene zu begegnen.

Weiterhin verwendet Walter biblische Zitate, um die Lage der Gefangenen im Konzentrationslager zu dokumentieren. Die Isolation, die mit der Haftzeit einhergeht, schildert er in Analogie zu Jesus, der als Ausgestoßener nicht an den Feierlichkeiten in Jerusalem teilnehmen darf und verweist auf Psalm 2,5. Der Verlust von Glaube und Identität stehen — so macht der Text deutlich — in einem engen Verhältnis, in welchem „Augenblicke des Verlassenseins von Gott“ (S. 7) dem Verlust von „Ehre, Freiheit, Menschenwürde“ (S. 6) gegenüberstehen. Die von Walter beschriebene Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit erhält hier neben der religiösen Perspektive eine weitere psychologische und emotionale Nuance, die seine Erfahrungen dem Leser emotional zugänglich machen.

Auch wird Dachau von Walter metaphorisch als „Tiefe“ (S. 14) beschrieben, was nicht nur indirekt auf einen weiteren biblischen Text (Psalm 130) anspielt, sondern auch die Ausweglosigkeit, mit der er und andere Häftlinge konfrontiert sind, drastisch schildert. In diesem Zusammenhang stellt der zitierte, fragmentarische Auszug aus den Sieben Letzten Worten Jesu Christi, „Warum verlassen?“ (ebd.) ebenfalls die enge Wechselbeziehung zwischen der religiösen und emotionalen Ebene im Text dar.

Darüber hinaus finden sich weitere metaphorische Begriffe, die an den polarisierenden Sprachgebrauch aus dem ersten Abschnitt anknüpfen. So werden Konzentrationslager als „Schindanger [...] den Aashaufen der Völker“ (S. 12) bezeichnet. Walter untermauert diese sprachliche Dimension seiner Haltung auch erzählerisch, indem er sich erneut einer kollektiven „Wir“-Erzählstimme bedient.

Im letzten Abschnitt des Textes greift Walter erneut das Zitat „Du stellst meine Füße auf weiten Raum!“ (S. 15) auf und erwähnt unter anderem die Rolle der evangelischen Kirche während des NS-Regimes. Hierbei äußert er sich jedoch nicht kritisch, sondern ordnet seinen Glauben erneut in einen persönlichen Rahmen ein. Der „weite Raum“ steht auch hier sinnbildlich für das Bewahren von Hoffnung. Walter, der 1945 freigelassen wird, bekennt, „[u]nd darum bin ich ohne Bitterkeit im Herzen durch das Lagertor hinausgeschritten“ (ebd.), woran sein Glaube und die Nähe zu Gott maßgeblichen Anteil haben.


Biografie

Kurt Walter (geb. 12.11.1892 in Danzig, gest. 26.06.1963 in Stuttgart) wurde als Sohn von Ferdinand Walter und Martha Grabowski in eine bürgerliche Familie geboren. 1911 nahm er ein Studium der evangelischen Theologie an den Universitäten Berlin, Tübingen und Königsberg auf, das er unterbrach, um als Kriegsfreiwilliger im Ersten Weltkrieg zu dienen. Nachdem Kurt Walter 1919 das Staatsexamen bestanden hatte, war er als Pfarrer in den Gemeinden Friedenau und Berendt tätig. Ebenfalls betätigte sich Kurt Walter nebenschriftstellerisch: neben „Gott im Konzentrationslager“ erschien 1933 die Hochschulschrift „Hessen-Darmstadt und die katholische Kirche in der Zeit von 1803 bis 1830: Entstehungsgeschichte der Diözese Mainz“ sowie 1963 der Beitrag „Danzig“ in „Die Stunde der Versuchung. Gemeinden im Kirchenkampf 1933-1945“.

1920 folgte die Heirat mit Gertrud Richter, aus der Ehe gingen fünf Kinder hervor. Aufgrund seiner Tätigkeit in der Bekennenden Kirche wurde Kurt Walter 1937 erstmals in Danzig inhaftiert. Im Juli 1942 erfolgte dann die Deportation in das Konzentrationslager Dachau. Am 3. April 1945 wurde Kurt Walter entlassen. Nach seiner Inhaftierung war Walter weiterhin als Pfarrer tätig, so von 1945 bis 1949 in der Andreägemeinde in Stuttgart-Bad Cannstatt, deren Pfarrei er leitete, und von 1949 bis 1958 als Krankenhauspfarrer, ebenfalls in Stuttgart. Darüber hinaus wurde Kurt Walter 1949 in den Vorstand des Bundes der Danziger gewählt.

Quellen:




Bearbeitet von: Lisa Beckmann