Hungermarsch in die Freiheit (1945)

Aus Frühe Texte der Holocaust- und Lagerliteratur 1933 bis 1949
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Angaben zum Werk

Titel Hungermarsch in die Freiheit
Autor Michel, Henri (1900-1976)
Genre Erinnerungsbericht

Ausgaben des Werks

Ausgabe von 1945, Eupen
Titel Hungermarsch in die Freiheit
Untertitel Tagebuchaufzeichnungen eines Politischen Gefangenen

Erscheinungsort Eupen
Erscheinungsjahr 1945

Verlegt von Grenz-Echo-Verlag
Gedruckt von Grenz-Echo-Druckerei
Publiziert von Michel, Henri (1900-1976)
Umschlaggestaltung von Holler, A.

Umfang 38 Seiten

Bibliotheksnachweise UBGI-icon.gif UB Gießen (Print-dnb-icon.gif gedruckte Ausgabe)
DNB-icon.gif Deutsche Nationalbibliothek (Print-dnb-icon.gif gedruckte Ausgabe)


Zusammenfassung

In seinem Erinnerungsbericht beschreibt der belgische Journalist Henri Michel seine letzten Tage im Konzentrationslager Sachsenhausen sowie den Todesmarsch der Häftlinge durch Mecklenburg bis zu ihrer Befreiung am 4. Mai 1945. Michel schildert die wenigen Wochen zwischen Verlassen des Lagers und der Befreiung in tagebuchartigen Aufzeichnungen. Unklar ist, ob er tatsächlich während der Geschehnisse Tagebuch geführt oder seine Schilderung später so gegliedert hat.

Die Endphase im Lager war, so Michel, geprägt von Gerüchten, von Transporten, Fliegerangriffen und der belastenden Unsicherheit über die nahe Zukunft. Als am 21. April 1945 schließlich die große Evakuierung des Lagers beginnt, herrscht große Nervosität: „Die Gefangenen sind sichtlich erregt, denn das Schicksal bleibt ungewiß“ (S. 5). Michel selbst ist unentschlossen, was zu tun ist. Er arbeitet im Krankenrevier und soll eigentlich einen Frauentransport begleiten. Die Lage ist für ihn und seine Kameraden undurchschaubar, dennoch entscheiden sie, sich dem großen Evakuierungsmarsch anzuschließen. Den Todesmarsch beschreibt er detailliert Tag für Tag: die große Anstrengung für die ohnehin schon entkräfteten Häftlinge, den Hunger, die kilometerlangen Märsche und das Übernachten im Freien. Wer von den Häftlingen das Tempo nicht halten kann, wird von den begleitenden Wachleuten erschossen. Die Bevölkerung, so beobachtet Michel, schaut dem teilnahmslos zu: „Sie sind ohne jeden Ausdruck, kein Schimpfwort dringt an unser Ohr, aber wir stellen auch nicht das geringste Bedauern oder Mitleid für uns fest. Diese Leute scheinen sich damit abgefunden zu haben, daß so etwas zum nationalsozialistischen Staat gehört, so sehen sie eben nichts Anstößiges, geschweige etwas Empörendes darin“ (S. 11). Mit zunehmender Dauer des Todesmarsches werden immer mehr Häftlinge erschossen und es breitet sich die Befürchtung aus, dass am Ende alle getötet werden sollen. Allerdings werden auch die SS-Leute immer unsicherer und zeigen mitunter auch menschliche Gesten. Am 4. Mai, nach beinahe zwei Wochen, ist plötzlich alles vorbei: Die SS ist verschwunden und ausgesandte Kameraden holen russische Soldaten herbei. „Wir sind endlich wieder frei, zwar noch nicht ganz, aber immerhin ist der schwerste Druck gewichen“ (S. 22), beschreibt Michel diesen Moment. „Und sonderbar, unsere Freude äußert sich etwa nicht in lauten Kundgebungen, nur die Geschäftigkeit ist etwas reger, das Hin- und Herlaufen zwischen den verschiedenen Gruppen lebendiger geworden. Wie oft haben wir uns diesen Augenblick in den Jahren unserer Knechtschaft ausgemalt. Und nun ist alles ganz anders gekommen“ (ebd.). In kleineren Gruppen ziehen die ehemaligen Häftlinge weiter Richtung Westen, unterbrochen durch mehrtägige Pausen, bis Michel am 21. Mai 1945 schließlich wieder zu Hause ankommt. In einem Vorwort informiert er den Leser über die Stationen seit seiner Verhaftung. Warum er sich lediglich auf die letzten Wochen konzentriert und nicht seine gesamte Konzentrationslagerhaft darstellt, lässt Michel offen.


Biografie

Der Journalist Henri Michel (geb. 08.03.1900 in Eupen, gest. 19.06.1976) hatte seit dem 15. Oktober 1927 die Direktion und Hauptschriftleitung der Eupener Zeitung „Grenz-Echo“ inne, der einzigen deutschsprachigen Zeitung Belgiens. Diese befand sich im Besitz der Katholischen Partei und erschien ab 1932 täglich. Nach dem Einmarsch der deutschen Armee am 10. Mai 1940 floh Michel nach Brüssel, wo er Anfang September verhaftet wurde. Über Aachen wurde er in das Konzentrationslager Sachsenhausen verschleppt, wo er bis zum 21. April 1945 inhaftiert war. Mit den übrigen Häftlingen wurde Michel auf einen sogenannten Evakuierungsmarsch durch Mecklenburg Richtung Westen geschickt. Er wurde am 4. Mai 1945 befreit und kehrte gut zwei Wochen später zurück nach Hause, wo er bis zu seinem Ruhestand am 1. November 1965 seine Arbeit beim „Grenz-Echo“ wieder aufnahm.

Quellen:


Werkgeschichte

Der Erinnerungsbericht von Henri Michel wurde im November 1945 im Verlag des „Grenz-Echo“ in Eupen, für das er arbeitete, veröffentlicht. Aus Anlass des zwanzigsten Jahrestags der Befreiung publizierte Michel seinen Bericht im „Grenz-Echo“ ab Anfang Mai 1965 in mehreren Teilen erneut und leitete ihn mit einem aktuellen Vorwort ein. Es sei festgestellt worden, dass Jüngere über die Todesmärsche kaum etwas wüssten, weshalb der Text gedruckt werden müsse. Weiter schreibt er: „Nicht etwa, um alte Wunden aufzureißen, sondern, wie es auch in der Presse, im Rundfunk und im Fernsehen der Bundesrepublik geschieht, als ernste Warnung vor einer Wiederholung eines so fürchterlichen Geschehens“ (Michel 1985, S. 301). 1985 wurde das Werk zusammen mit bislang unveröffentlichten Erinnerungen Michels an seine KZ-Haft und weiteren Dokumenten aus dem Nachlass erneut veröffentlicht. Kurt Grünebaum lobte 1946 in „La Cité Nouvelle“ Michels Bericht: „Die Veröffentlichung kommt zur rechten Zeit. Sie wird in den Ostkantonen eine heilsame Wirkung haben. Über diese anerkennenswerte Tatsache hinaus wird sie die belgische Kriegsliteratur 1940-1945 um ein fesselndes Dokument bereichern“ (Grünebaum 1946, in: Michel 1985, S. 402). Louis Kiebooms, selbst Häftling in Sachsenhausen, schrieb über Michels Bericht: „Ein schöner Beitrag zur Tragödie dieser Zeit“ (Kiebooms 1946, in: Michel 1985, S. 405). Wilhelm Fohn, ein weiterer ehemaliger Leidensgenosse, schrieb Michel Anfang 1946, nachdem er dessen Bericht gelesen hatte: „Du hast die Tage unseres Schreckens wortgetreu wiedergegeben und, ohne zu übertreiben, dir damit großes Verdienst, besonders für unsere engere Heimat, erworben. Dabei hast du nichts vergessen, besonders nicht deinen Eindruck, wie die deutsche Bevölkerung uns ganz teilnahmslos gegenüber stand, was mich damals auch sehr ergriffen hat“ (Michel 1985, S. 403).

Quellen:

  • Grünebaum, Kurt: „Ein Buch – Henri Michel“. In: Michel, Henri (Hg.): Oranienburg-Sachsenhausen. KZ-Erinnerungen und Hungermarsch in die Freiheit eines Politischen Gefangenen. Eupen 1985, S. 402.
  • Kiebooms, Louis: „Henri Michel zu Ehren. Hungermarsch in die Freiheit“. In: Michel, Henri (Hg.): Oranienburg-Sachsenhausen. KZ-Erinnerungen und Hungermarsch in die Freiheit eines Politischen Gefangenen. Eupen 1985, S. 404f.
  • Michel, Henri: Oranienburg-Sachsenhausen. KZ-Erinnerungen und Hungermarsch in die Freiheit eines Politischen Gefangenen. Eupen 1985, S. 403.



Bearbeitet von: Markus Roth