In den Wohnungen des Todes (1947)

Aus Frühe Texte der Holocaust- und Lagerliteratur 1933 bis 1949
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Angaben zum Werk

Titel In den Wohnungen des Todes
Autor Sachs, Nelly (1891-1970)
Genre Gedichtsammlung

Ausgaben des Werks

Digitalisat in DIGISAM öffnen
Ausgabe von 1947, Berlin
Titel In den Wohnungen des Todes

Erscheinungsort Berlin
Erscheinungsjahr 1947

Verlegt von Aufbau-Verlag

Publiziert von Sachs, Nelly (1891-1970)

Illustriert von Stern, Rudi

Umfang 75 Seiten

Bibliotheksnachweise UBGI-icon.gif UB Gießen (Print-dnb-icon.gif gedruckte Ausgabe)
DNB-icon.gif Deutsche Nationalbibliothek (Print-dnb-icon.gif gedruckte Ausgabe)


Zusammenfassung

Der Gedichtband „In den Wohnungen des Todes“ enthält Gedichte, die Nelly Sachs im schwedischen Exil unter dem Schock der Mitteilungen über die nationalsozialistischen Vernichtungslager zwischen 1943 und 1946 schrieb. Der Band ist „meinen toten Brüdern und Schwestern“ (o.S.) gewidmet. Die Gedichte sind geprägt von den Erfahrungen der eigenen Verfolgung als Jüdin und den persönlichen Verlusten in diesen Jahren, aber auch von der Fassungslosigkeit angesichts des Schicksals des jüdischen Volkes und der Massenvernichtung. Im Mittelpunkt der Gedichte stehen daher das getötete jüdische Volk sowie die Flüchtlinge und Überlebenden, die sich wie Sachs vor der körperlichen Vernichtung haben retten können. Der Gedichtband ist in die Zyklen „Dein Leib im Rauch durch die Luft“, „Gebete für den toten Bräutigam“, „Grabschriften in die Luft geschrieben“ sowie „Chöre nach der Mitternacht“ unterteilt.

Nelly Sachs verwendet sowohl Reime und andere strophische Formen als auch ungereimte und nicht strophische Dichtungen. Einige Gedichte tragen Titel, andere beginnen gänzlich ohne Überschrift. Alle weisen eine bildreiche Sprache mit vielen Emotionswörtern auf, vor allem solche, die negative und traurige Gefühle wie Trauer und Sehnsucht ausdrücken, aber auch positive Empfindungen wie Liebe kommen vor. Wiederholungen und Ausrufe prägen den Stil ebenso. Häufig sprechen ganze Gruppen und Kollektive in Chören, aber auch einzelne lyrische Ichs. Es kommen Selbstmörder zu Wort, Kinder, die von ihren Müttern getrennt werden und Mütter, die ihre Kinder sterben sehen. Die Gedichte thematisieren Menschen, die in die Gaskammern hineingetrieben werden, ihre Liebsten verlieren, im Lager wahnsinnig werden oder im Exil einsam mit ihren Schrecken sind. Tiefe Trauer und Bitterkeit spricht aus den Gedichten.

Alle Gedichte sind im Wissen und mit Blick auf die Vernichtungslager geschrieben. Bereits im Eingangsgedicht „O die Schornsteine“ werden diese Lager durch die Schornsteine, die ihre anklagenden Finger in den Himmel strecken und in denen Israels Leib in Rauch aufgelöst wird, dargestellt: „O die Schornsteine / Auf den sinnreich erdachten Wohnungen des Todes, / Als Israels Leib zog aufgelöst in Rauch / Durch die Luft – “ (S. 13). Sachs richtet sich an die Täter und die vielen Mitläufer, die nur zugesehen haben: „Ihr Zuschauenden / Unter deren Blicken getötet wurde. / Wie man auch einen Blick im Rücken fühlt, / So fühlt ihr an euerm Leibe / Die Blicke der Toten“ (S. 26).

Die „Gebete für den toten Bräutigam“ kreisen um den Mann, den Sachs vor ihrer Flucht liebte, ohne dass jedoch eine Beziehung möglich gewesen wäre, und der während der Zeit des Nationalsozialismus stirbt. Die Gedichte sind für ihn verfasst und häufig richtet sie sich direkt an ihn. Sachs weiß nicht, unter welchen Umständen er umkam und wie seine letzten Stunden waren. So heißt es: „Wenn ich nur wüßte, worauf sein letzter Blick ruhte“ (S. 42). Die „Grabschriften in die Luft geschrieben“ rufen einzelne Namen und Lebensgeschichten von ermordeten Menschen in Erinnerung, die Nelly Sachs nahestanden: ein Hausierer, eine Markthändlerin, ein Spinozaforscher, eine Tänzerin, ein ‚Schwachsinniger‘ und andere. Ebenso wie bei den „Gebeten für den toten Bräutigam“ handelt es sich um imaginäre Dialoge mit den Getöteten. In dem abschließenden Zyklus „Chöre nach der Mitternacht“ besprechen die verlassenen, übriggebliebenen und die unsichtbaren Dinge, die Toten und die Überlebenden, die Ungeborenen und die Tröster, die Sterne, Steine, Bäume, Wolken und zuletzt das Land Israel die Massenvernichtung der Juden. Im „Chor der Geretteten“ bitten diese die Welt, Geduld mit ihnen zu haben und ihre Beschädigungen zu achten. „Wir Geretteten /Bitten euch: / Zeigt uns langsam eure Sonne. / Führt uns von Stern zu Stern im Schritt. / Laßt uns das Leben leise wieder lernen. […] / Wir bitten euch: / Zeigt uns noch nicht einen beißenden Hund – / Es könnte sein, es könnte sein / Daß wir zu Staub zerfallen – / Vor euren Augen zerfallen in Staub. / Was hält denn unsere Webe zusammen?“ (S. 60).


Biografie

Nelly Sachs, eigentlich Leonie Sachs (geb. 10.12.1891 in Berlin, gest. 12.05.1970 in Stockholm), wurde als einziges Kind des Erfinders und Fabrikanten William Sachs und seiner jungen Frau Margarete in eine assimiliert jüdisch-großbürgerliche Familie geboren. 1903 trat sie nach drei Jahren Privatunterricht in eine Höhere Töchterschule ein, die sie fünf Jahre später mit der Mittleren Reife abschloss. Mit 15 Jahren begeisterte sie der Debütroman „Gösta Berling“ der schwedischen Schriftstellerin Selma Lagerlöf so sehr, dass sie eine Brieffreundschaft mit ihr begann, die 35 Jahren anhielt. Mit 17 Jahren verfasste sie bereits erste eigene Gedichte.

Nelly Sachs lebte mit ihren Eltern zurückgezogen und nahm wenig am gesellschaftlichen Leben der zwanziger Jahre teil. Sie blieb unverheiratet, nachdem ihr Vater eine Liebesbeziehung zu einem geschiedenen Mann unterbunden hatte. Sie hielt diese Beziehung jedoch vermutlich über Jahrzehnte hinweg aufrecht und wurde zu Beginn des Zweiten Weltkrieges zusammen mit ihm verhaftet. Der Geliebte kam vermutlich im Konzentrationslager um. Genaueres ist jedoch nicht bekannt. 1921 erschien mit Unterstützung des Schriftstellers Stefan Zweig Nelly Sachs’ erster Gedichtband unter dem Titel „Legenden und Erzählungen“. Bei der Herausgabe ihrer gesammelten Werke nahm Nelly Sachs diese Gedichte später jedoch nicht mit auf. Gegen Ende der 1920er Jahre wurden ihre Gedichte in verschiedenen Berliner Zeitungen gedruckt, darunter die „Vossische Zeitung“, das „Berliner Tageblatt“ und die Zeitschrift „Die Jugend“. Publikum und Kritik lobten sie gleichermaßen.

Wiederholt wurde Sachs‘ nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten zu Gestapo-Verhören einbestellt und ihre Wohnung von SA-Leuten geplündert. Mit Hilfe von ‚arischen‘ Freunden konnte Sachs mit ihrer Mutter im Mai 1940 aus Deutschland im letzten Moment der Deportation nach Schweden entgehen; ihr Vater war bereits 1930 verstorben. In Stockholm lebten Mutter und Tochter in ärmlichen Verhältnissen, Nelly Sachs arbeitete zeitweise als Wäscherin. Sie begann Schwedisch zu lernen und moderne schwedische Lyrik ins Deutsche zu übersetzen. Neben den Gedichten, die sie 1947 in den „Wohnungen des Todes“ veröffentlichte, entstanden in diesen Jahren auch die beiden Dramen „Eli“ und „Abram im Salz“. Anfang 1950 starb Sachs’ Mutter, ebenfalls in den 1950er Jahren begann Sachs eine Korrespondenz mit Paul Celan, den sie 1960 auch in Paris besuchte. Weitere ihrer Werke erschienen, etwa 1957 „Und niemand weiß weiter“ und 1959 „Flucht und Verwandlung“ , Das Mysterienspiel „Eli“ wurde 1959 als Hörspiel beim Südwestdeutschen Rundfunk ausgestrahlt.

Im selben Jahr wurde ihr der Lyrikpreis des Kulturkreises im Bundesverband der Deutschen Industrie in Abwesenheit verliehen, da Nelly Sachs nicht nach Deutschland reisen wollte. Erst 1960 betrat sie zur Verleihung des Meersburger Droste-Preises für Dichterinnen das erste Mal seit zwanzig Jahren Deutschland. Dieser Besuch löste jedoch einen psychische Erkrankung aus, so dass sie nach ihrer Rückkehr nach Schweden zusammenbrach. Insgesamt verbrachte sie drei Jahre in einer Nervenheilanstalt bei Stockholm. Als erste Frau erhielt Sachs‘ 1965 den Friedenspreis des deutschen Buchhandels, was sie dann erneut zu einer Reise nach Deutschland veranlasste. Am 10. Dezember 1966, ihrem 75. Geburtstag, wurde ihr der Literaturnobelpreis verliehen. Nelly Sachs verschenkte ihr Preisgeld an Bedürftige, die Hälfte ging an ihre Freundin Gudrun Harlan. In den letzten Jahren ihres Lebens zog Sachs sich aus der Öffentlichkeit zurück. Ihr psychisches Leiden machte einen weiteren Aufenthalt in einer Nervenklinik notwendig, hinzu kam eine Krebserkrankung, an der sie schließlich starb.

Quellen:


Werkgeschichte

Der Gedichtband „In den Wohnungen des Todes“, der zwischen 1943 und 1946 in Stockholm entstand, wurde auf Betreiben Johannes R. Bechers 1947 im Ost-Berliner Aufbau-Verlag in einer Auflage von 20.000 Exemplaren publiziert. Der Gedichtband trug ursprünglich den Titel „Dein Leib im Rauch durch die Luft“, auf Bitten des Verlages wurde der Titel geändert. In der Schweiz und in West-Deutschland wurde er bis 1957 nicht gedruckt und blieb unbeachtet. In der DDR gerieten Nelly Sachs‘ Gedichte schon Anfang der 1950er Jahre zunächst wieder in Vergessenheit. Ab 1964 publizierte der Frankfurter Suhrkamp Verlag mehrere Auflagen unter dem Titel „Das Leiden Israels“. Der Band enthält neben dem Gedichtzyklus „In den Wohnungen des Todes“ auch den 1949 in Amsterdam erschienenen Gedichtband „Sternverdunkelung“. In der zeitgenössischen Rezeption wurden die Gedichte meist überschwänglich gelobt. So schrieb Hellmut von Cube 1947 in der Zeitung „Welt und Wort“: „Ein Reich des Leidens, wie die Konzentrationslager es waren, zu erschließen, vermögen im Grunde nur das Dokument oder die Dichtung“ (S. 299). Noch haben die Dokumente Vorrang und Vorsprung, führt er weiter aus, da die Dichtung im Allgemeinen einen „Grad seelischen Abstandes“ (ebd.) fordere, der erst nach Jahren oder Jahrzehnten eintrete. Es sei also fast erstaunlich, dass schon jetzt die ersten dichterischen Erzeugnisse erschienen. Ihre Gedichte seien nicht gedichtet oder geschrieben, sie seien „geklagt, gesungen, gejubelt von einem Herzen, das durch die Folter der Angst und der Schande, des Grauens und der Verzweiflung über sich hinaus gegangen ist in die wahre Freiheit und in den Glauben“ (ebd.). Von Cube schließt mit den Worten: „Wir verneigen uns als Leser vor der Dichterin, als Menschen vor ihrem und ihres Volkes Leiden“ (ebd.).

Quellen:

  • Cube, Hellmut von: „Sachs, Nelly: In den Wohnungen des Todes“. In: Welt und Wort (1947), Nr. 2, H. 10, S. 299.
  • Lagercrantz, Olof: Versuch über die Lyrik der Nelly Sachs. Frankfurt am Main 1967.
  • Martin, Elaine: Nelly Sachs. The Poetics of Silence and the Limits of Representation. Berlin 2011.
  • o.A.: „Nelly Sachs: In den Wohnungen des Todes (1947)“. Online: http://www.luise-berlin.de/lesezei/blz01_01/text05.htm (Stand: 11.09.2019).



Bearbeitet von: Charlotte Kitzinger