Julius Berger und das Dritte Reich (1946)

Aus Frühe Texte der Holocaust- und Lagerliteratur 1933 bis 1949
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Angaben zum Werk

Titel Julius Berger und das Dritte Reich
Autor Marcuse, Bruno (1878-1948)
Genre Biografie

Ausgaben des Werks

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Ausgabe von 1946, Ulm
Titel Julius Berger und das Dritte Reich

Erscheinungsort Ulm
Erscheinungsjahr 1946
Auflage 1

Verlegt von Gerhard Hess Verlag
Gedruckt von C.F. Rees
Publiziert von Marcuse, Bruno (1878-1948)
Umschlaggestaltung von Barthelmess, Hermann
Illustriert von Barthelmess, Hermann

Umfang 56 Seiten
Abbildungen 1 Portraitfotografie von Julius Berger, 11 Zeichnungen von Hermann Barthelmess, 12 Fotografien aus dem Berger Archiv von Bauwerken, die unter Julius Berger entstanden sind.
Lizenz US-W-1100 der Nachrichtenkontrolle der Militärregierung

Bibliotheksnachweise UBGI-icon.gif UB Gießen (Print-dnb-icon.gif gedruckte Ausgabe)
UBGI-icon.gif UB Gießen (Online-dnb-icon.gif elektronische Ausgabe)
DNB-icon.gif Deutsche Nationalbibliothek (Print-dnb-icon.gif gedruckte Ausgabe)
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Zusammenfassung

Bruno Marcuse, der selbst Häftling in Theresienstadt war, verfasste nach dem Krieg eine Biografie über den jüdischen Bauingenieur Julius Berger: sein Leben seit seiner Geburt als Sohn eines armen Fuhrmanns, sein wirtschaftlicher und sozialer Aufstieg bis zur Deportation nach Theresienstadt sowie sein Leiden und Sterben dort. Die inhaltliche Ausrichtung seines Buches beschreibt Marcuse in seinem Vorwort: „Durch die Schilderung des Lebens von Julius Berger will ich ein Beispiel aufzeichnen für die Vielen, die sein Schicksal teilten. Es handelt sich um jüdische Menschen, die, ohne nach außen hin besonders hervorzutreten, ein Leben der Pflichterfüllung führten und ihre Fähigkeiten einsetzten, um dem Lande, in dem sie geboren waren, zu dienen“ (S. 7). Marcuse macht deutlich, wie Juden wie Julius Berger fest in der deutschen Gesellschaft verwurzelt waren und wie tief sie von der ‚Aussonderung‘ aus dieser getroffen wurden.

Marcuse kannte, so seine Aussage im Vorwort, Berger seit Jahrzehnten, war aber nicht zeitgleich mit ihm in Theresienstadt. Er beschreibt diesen als einen familiären, patriotischen, intelligenten, großzügigen, innovativen und durch und durch sozialen Geschäftsmann, der zahlreiche Erfolge vorzuweisen hatte. Diese Erfolgsbauten – „Sieg[e] der deutschen Wirtschaft“ (S. 27) – werden im Buch mit Fotografien aus dem Firmenarchiv belegt. Vor die chronologische Schilderung des Lebens von Julius Berger stellt Bruno Marcuse eine Abschiedsszene: Das Buch beginnt mit der Ausreise der Kinder und Enkel des Ehepaars Berger nach Südamerika 1938. Er und seine Frau bleiben zurück, denn „er konnte sich nicht entschließen, seine Heimat im Alter zu verlassen. Jude von Geburt, hing er an Deutschland, dem der Inhalt seines Lebenswerkes gegolten hatte“ (S. 9). Das Schicksal Bergers ist also bereits bekannt, wenn Marcuse damit beginnt, in chronologischer Weise dessen Biografie zu schildern. Er erzählt von einer ärmlichen Kindheit ohne Aufstiegschancen, dem Willen Bergers sich zu integrieren, dem Engagement im sozialen und kulturellen Bereich (beispielsweise Vereinsgründungen), stetem Erfolg und Beliebtheit – bis hin zum Weltruhm als fortschrittlicher Bauingenieur. Durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten kommt es zum Bruch in diesem als in sich stimmig beschriebenen Leben: Alle rassisch motivierten Verfolgungsmaßnahmen treffen auch Berger und seine Familie, sie müssen Geldbußen zahlen und werden enteignet. Kurz vor seinem 80. Geburtstag wird Julius Berger mit seiner Frau Flora nach Theresienstadt deportiert; seine Frau stirbt wenige Wochen nach der Ankunft, trotz der Versuche Bergers sie am Leben zu erhalten.

Das letzte Viertel des Buches beschäftigt sich ausschließlich mit Theresienstadt. Marcuse schildert die Ankunft der Bergers und beschreibt plastisch die Szenen im dortigen ‚Altenheim‘: „Die ausgewiesenen Schlafräume waren lange dunkle Säle in alten Kasernen, in denen sich das schrecklichste Ungeziefer heimisch gemacht hatte und förmlich auf Opfer lauerte. Die Schlafgenossen waren leidende Greise oder Kriegsinvaliden, die nachts hilflos stöhnten. Viele konnten vor Hunger nicht einschlafen oder vor Sorge um das Schicksal ihrer fernen Angehörigen“ (S. 39). Vor allem die schrittweise Entmenschlichung wird plastisch dargestellt und an Figuren beschrieben, die Berger im Lager trifft und die er noch aus seiner Zeit vor der Deportation kennt: ausgemergelte ehemalige Freundinnen seiner Frau, der Rechtsanwalt, der Bergers Kindern bei der Emigration half, aber seine eigene zu spät vorbereitet hatte, oder drei Schwestern, die sich nicht trennen wollten und daher gemeinsam in ein Vernichtungslager deportiert werden. Viele bekannte Menschen aus verschiedenen sozialen, kulturellen und wissenschaftlichen Bereichen und militärischen Rängen werden auf diese Weise namentlich durch (fiktive) Gespräche mit Julius Berger präsentiert.

Marcuse nimmt auch Passagen auf, die Julius Berger nicht mehr erlebte, sondern die aus seinen eigenen Erfahrungen stammen, wie z.B. die kulturellen Bemühungen in Theresienstadt oder die Uneinigkeit unter Juden verschiedener Nationalitäten. So beinhaltet die Aufzeichnung neben der Biografie von Julius Berger auch die Beschreibung Theresienstadts aus der individuellen Sicht von Bruno Marcuse.

Marcuse schreibt aus verschiedenen Perspektiven: Zumeist erzählt ein allwissender Erzähler, der tief in die Seele von Berger schauen kann und den Leser durch Ansprache immer wieder einbindet. In diesen Passagen werden beispielweise Gedanken des 13-jährigen Julius oder – einem Roman gleich – Gespräche z.B. mit dessen Vater oder seinen Vorarbeitern wiedergegeben. An verschiedenen Stellen spricht aber auch der Ich-Erzähler, so z.B. an folgernder Stelle: „Ich bin mit diesen Schilderungen bis in die neuere Zeit vorgedrungen“ (S. 51). Neben dem Wechsel der Erzählweise weitet Marcuse die Biografie auch medial aus: Er integriert Gedichte, Zeichnungen, Fotografien, Briefe, Zeitungsartikel, Gespräche und Zitate.

Der Text endet mit einem optimistischen Appell an den deutschen Leser: „Nur 5 Prozent der Juden sind in Deutschland übriggeblieben, was praktisch einer Ausrottung gleichkommt. […] Möge der Untat die Erkenntnis und dieser die Einkehr folgen. Dann kann aus der Asche der gepeinigten Juden die Saat aufgehen für eine bessere Welt“ (S. 55).


Biografie

Der Kaufmann Bruno Marcuse (geb. 06.01.1878 in Berlin, gest. 27.12.1948 in Temmenhausen) war in verschiedenen Berliner Firmen tätig, die sich auf Maschinenbau spezialisiert hatten, unter anderem 1914/1915 als Direktor der Maschinenfabrik Montania in der Zweigniederlassung Berlin sowie im selben Jahr als Prokurist in der Aktiengesellschaft R. Dolberg Berlin und 1932 bei Orenstein & Koppel ebenfalls in Berlin (vgl. Handbuch der deutschen Aktiengesellschaften 1914/1915 sowie 1932). Marcuse war zweimal verheiratet: Zuerst ab 1911 mit Katie Stargardt (geb. 14.11.1883 in London, gest. um 1968 in Israel) und ab 1916 mit Hedwig Ettling (geb. 09.05.1884 in Arnstadt, gest. 24.06.1940 in Berlin). Aus der ersten Ehe gingen zwei Kinder hervor – namentlich bekannt ist der 1915 geborene Sohn Adi/Adolf Maroz –, die nach dem Krieg (evtl. auch schon zuvor) in einem Kibbuz in Haifa lebten. Mit seiner protestantischen Frau Hedwig bekam er in zweiter Ehe einen Sohn, Manfred, der während des Krieges zur Arbeit für die Organisation Todt in Lothringen zwangsverpflichtet wurde; 1945 lebte er in Berlin und war bei einer Militärregierung beschäftigt.

Marcuse selbst wurde auf Grund seines jüdischen Glaubens am 21. Januar 1944 nach Theresienstadt deportiert. Nach seiner Befreiung blieb er noch bis zum 10. Juli 1945 dort.

Marcuse begann erst während seiner Zeit in Theresienstadt zu schreiben. In dem von ihm verfassten Gedicht „Persönliches“, mit dem er seine Gedichtsammlung „Erlebnisse im KZ Theresienstadt“ von 1946 beginnt, heißt es in der letzten Strophe: „Sonderbar, höchst sonderbar! / Über 65 Jahr / Gab ich dem Erwerb mich hin, / Hattʼ für Dichten keinen Sinn. / Aber die Natur nicht träge, / Macht die Abwehrkräfte rege, / Die wir brauchen, um den Dingen / Unser Wollen aufzuzwingen“ (S. 10). Zu dieser neuen ‚Berufung‘ passt auch Marcuses Eintrag in einem Nachkriegs-Fragebogen der Israelitischen Kultusvereinigung Württemberg, in dem er als Beruf „Schriftsteller, früher Kaufmann“ angibt (Mitgliedsfragebogen, in: 1236_001, Archiv der Israelitischen Kultusvereinigung, Personenakte Bruno Marcuse).

Nach Kriegsende stellte er im Juli 1945 einen Antrag auf Auswanderung. Dazu kam es jedoch nicht, denn eine im ITS Bad Arolsen überlieferte Aufzählung führt ihn am 15. September 1946 als Mitglied der Israelitischen Kultusvereinigung Württemberg auf. Auf dem Fragebogen, den er für die Gemeinde ausfüllte, antwortete er auf die Frage, ob er auswandern wolle mit „im jetzigen Zustand nicht“ und erbat finanzielle Unterstützung. Er wohnte zu diesem Zeitpunkt in Temmenhausen im Kreis Ulm, wo er Ende 1948 verstarb.


Quellen:

  • Family Search. Online: https://familysearch.org/pal:/MM9.2.1/MW73-H41?view=basic (Stand: 17.09.2019).
  • Handbuch der deutschen Aktiengesellschaften. Darmstadt u.a. 1914/1915, S. 674 sowie 1085-1088.
  • Handbuch der deutschen Aktiengesellschaften. Darmstadt u.a. 1932, S. 3788f.
  • „Liste von Überlebenden des Ghetto Theresienstadt“, 1.1.42.1/4955915/ITS Digital Archive, Arolsen Archives.
  • Manfred Marcuse Papers 2004.35.1. In: United States Holocaust Memorial Museum.
  • „Mitgliedsfragebogen“. In: 1236_001, Archiv der Israelitischen Kultusvereinigung (heute: Israelitische Religionsgemeinschaft Württemberg), Personenakte Bruno Marcuse.
  • „Mitgliederliste der Israelitischen Kultusvereinigung Württemberg“, 3.1.1.3/78792472/ITS Digital Archive, Arolsen Archives (F-18 Liste).


Werkgeschichte

Die Biografie über Julius Berger wurde 1947 zeitgleich mit Marcuses zweitem Buch über seine eigenen Erfahrungen im Getto Theresienstadt publiziert. Beide Werke wurden in einer einmaligen Auflage gedruckt, eine Neuauflage ist nicht bekannt. Da Marcuse als Prokurist in verschiedenen Berliner Firmen gearbeitet hat, die große Bauunternehmen unter anderem mit Feldbahnen – Vorgänger der heutigen LKWs auf Baustellen – belieferten, ist zu vermuten, dass er Julius Berger durch diese Verbindung kannte. Fest steht, dass Marcuse die Lebenserinnerungen von Julius Berger (Berlin 1933, Selbstverlag) gelesen und in seinem Text verarbeitet hat; eine Vielzahl von Episoden aus Bergers Leben bis 1933 finden sich ähnlich erzählt in beiden Texten. Marcuse erweiterte diese Informationen schließlich um die Jahre seit der Machtergreifung der Nationalsozialisten sowie um die Geschehnisse in Theresienstadt.


Quelle:

  • Berger, Julius: Meine Lebenserinnerungen. Berlin 1933.



Bearbeitet von: Christiane Weber