KZ Vernet (1941)

Aus Frühe Texte der Holocaust- und Lagerliteratur 1933 bis 1949
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Angaben zum Werk

Titel KZ Vernet
Autor Wolf, Friedrich (1888-1953)
Genre Erzählungen

Ausgaben des Werks

Ausgabe von 1941, Moskau
Titel KZ Vernet
Untertitel Zwei Erzählungen

Erscheinungsort Moskau
Erscheinungsjahr 1941

Auflagenhöhe Erstauflage 10.000 Stück

Verlegt von Meshdunarodnaja Kniga
Gedruckt von Izvestij Sowetov Deputatov Trudjaschuchcja UdSSR
Publiziert von Wolf, Friedrich (1888-1953)

Umfang 63 Seiten

Preise 80 Kopeken
Bibliotheksnachweise DNB-icon.gif Deutsche Nationalbibliothek (Print-dnb-icon.gif gedruckte Ausgabe)
DNB-icon.gif Deutsche Nationalbibliothek (Online-dnb-icon.gif elektronische Ausgabe)


Zusammenfassung

Friedrich Wolf thematisiert in seinen zwei Erzählungen, die beide im französischen Internierungslager Vernet spielen, die Rolle des kommunistischen Widerstands und das damit verbundene Menschenbild. So schildert er an der Wandlung des polnischen Juden Jules zum ‚wahrhaften‘ Kämpfer für die kommunistische Sache die Möglichkeit der Veränderung eines Menschen im Lager. In der kurzen Geschichte über den Hund Kiki werden ebenfalls die Ideale und Werte sowie die Opferbereitschaft der Untergrundkämpfer beschworen.

In der ersten Erzählung treffen die Mitglieder der Internationalen Brigade – eine kommunistische Kampfgruppe, die sich 1936 im Spanischen Bürgerkrieg gegen Franco formiert hatte – im Lager Vernet auf den abgestumpften Aron Liter. Der polnische Jude, der vor seiner Verhaftung als Lederarbeiter in Paris gearbeitet hatte, verkörpert alles, was die energiegeladenen Kämpfer ablehnen: er ist egoistisch, hat sich aufgegeben, wäscht sich nicht mehr und hat einen krankhaften Auswurf, wenn er hustet. Viele ekeln sich, nur der Ich-Erzähler – von Aron Liter liebevoll und ehrfürchtig ‚Doktorle‘ genannt – will sich Liters annehmen, ihn kurieren und ihm die Werte vermitteln, für die er und seine Kameraden stehen. Jules, wie Liter im Lager bald genannt wird, wird von ihm wie ein kleines Kind oder wildes Tier zu sozialem und gemeinschaftlichem Handeln und Denken erzogen. Zwar gibt es immer wieder Rückschläge, aber am Ende wird Jules zu einem geachteten Kameraden. Den Höhepunkt stellt dabei die aktive Teilnahme Jules an der festlichen Feier zum 1. Mai im Lager dar. Als im Sommer 1940 ein Kind, das von seiner Mutter in das Lager geschickt wird, um Briefe zu übermitteln, von den Wachmannschaften attackiert wird, greift Jules ein und wird verwundet. Trotz der Verletzungen engagiert er sich weiterhin für die Gemeinschaft, organisiert Lebensmittel und verschickt Post. Alle illegalen Tricks seiner Vergangenheit stellt er nun in den Dienst der kommunistischen Sache.

Jules bittet den Doktor kurz vor seinem Tod, „die ganze Wahrheit“ (S. 42) aufschreiben, man dürfe das Erlebte nicht vergessen, denn sonst sei alles umsonst gewesen. Er, der sich zuvor nur um sich selbst gekümmert hat, bittet den Ich-Erzähler, die „Wahrheit [zu] sagen […] für die noch Unwissenden, dass sie mit klarem Blick antreten zum letzten grossen Kampf!“ (S. 49) Die Mühen des ‚Doktorle‘ haben gefruchtet: In der Stunde des Todes ist Jules tapfer und kameradschaftlich; er erkennt nun die Bedeutung des kommunistischen Widerstands. Schließlich erliegt er seinen Verletzungen. Aus dem Tier, wie er am Anfang noch bezeichnet wird, ist ein „Mensch“ (S. 38) geworden. Auf diese Weise verdeutlicht die Erzählung an Jules, dass „ein Mensch die vielhundertjährige Kruste des Ghettos, dieses Hundeleben der Erniedrigung, Verdunklung und Versklavung“ (S. 28f.) durch eine kommunistische Erziehung hinter sich lassen könne.

In der zweiten Erzählung steht der kleine Hund Kiki im Vordergrund, der plötzlich in Vernet auftaucht. Die Häftlinge nehmen sich seiner an und überschütten ihn mit Zuneigung sowie kleinen Geschenken. Der Hund wird symbolhaft mit menschlichen Eigenschaften versehen: Kiki ist treu, mutig, schlau und vertraut den Wachmannschaften nicht, weil er zwischen Gut und Böse unterscheiden kann. Er führt sogar die Wachen vor, indem er während einer Zeremonie durch Jaulen stört. Selbst der Sergeantchef, der das Lager leitet, sieht die Verbindung zwischen dem Hund und den politischen Häftlingen: „Ihr und der Hund, das ist das gleiche Kaliber!“ (S. 56) Doch das Treiben des Hundes wird nicht geduldet und er wird beim Versuch, ihn aus dem Lager zu vertreiben, von den Wachen schwer verletzt. An diesem Punkt setzt die Liebesgeschichte zwischen Berthel, der im Lager zu Kikis Herrchen wird, und Peppa, der Tochter der spanischen Lagerköchin, ein. Bei der Pflege des Hundes nähern sich die beiden an und Berthel begeistert Peppa für den kommunistischen Widerstand. Peppa hat das Herz am rechten Fleck, muss aber belehrt werden: „Und der Berthel erklärt seiner kleinen Freundin, was Kameradschaft ist, was Solidarität ist, was Disziplin und freiwilliger Gehorsam ist“ (S. 62). Schlussendlich stirbt Kiki, doch Peppa vergräbt ihn außerhalb der Zäune, ein Symbol für die Freiheit, welche auch die Häftlinge „eines Tages“ (S. 63) wieder erleben werden.

In einfacher Sprache, unkomplizierten Analogien und lockerem Erzählfluss thematisiert Wolf in teilweise belehrender Weise in beiden Erzählungen den Wert der Freundschaft zwischen (politisch) Gleichgesinnten. Sprachlich sind die Erzählungen in Teilen ausufernd und sogar pathetisch-sentimental: „Abends stehen die noch schneebedeckten, bis dreitausend Meter hohen, violetten Gipfel der Pyrenäen gegen den goldenen Westhimmel. Tiefer liegt die schwarzblaue Zone der Nadelwälder, noch tiefer die zartgrüne des jungen Laubwaldes, und, schon vom Lager aus sichtbar, beginnen in allen Farben die Wiesenhänge zu blühen“ (S. 20f). Die Erzählungen sprechen dabei die verschiedenen Sinne des Lesers an, wenn Wolf den Geruch, die Geräusche und das Haptische im Lager beschreibt. Der Leser wird zudem durch die direkte Rede, durch die immer wiederkehrende Anrede „wir“ und das unmittelbare Präsens an das Geschehen herangeführt.

Vor allem die erste Erzählung „Jules“ wirkt wie ein Abenteuerroman mit Kraftausdrücken, einer idealisierten Männlichkeit sowie der Erhöhung von kommunistischer Kameradschaft und Freundschaft. Über diese politische Dimension hinaus werden aber auch an verschiedenen Stellen die Foltermethoden und der Lageralltag mit den im Lager Vernet geltenden Regeln dargestellt. Beispielweise wird erkennbar, wie viel im Lager durch Bestechung erreicht werden kann und wie sehr zahlungsunfähige Insassen wie der mittelose Jules darunter leiden.

Auffallend ist, dass Wolf die Interbrigadisten gezielt mit den Werten des kommunistischen Menschenbildes versieht: Bereits bei der Ankunft sind die Neuankömmlinge nicht verwirrt, sondern machen Witze, sie halten zusammen und sind mutig. Abgehärtet durch den Kampf stellen sie sich den neuen Aufgaben, vergessen dabei aber nie die sozial schlechter Gestellten. Durch Sprach- und Technikkurse und politische Organisation in Delegationen und Versammlungen bleiben die Häftlinge auch im Lager aktive Widerständler: „Wir reagieren auf jeden Angriff, auf jede Gefahr, auf jedes Solidaritätszeichen, auf jede Situation mit der Geschwindigkeit eines Muskelreflexes“ (S. 20), lobt der Ich-Erzähler sich selbst und die Gruppe. Auch die Familien der Gefangenen werden als mutige Kämpfer im Hintergrund dargestellt, die das Lager besuchen und sich nicht vertreiben lassen, sondern Briefe übermitteln und über den Kriegsverlauf berichten.


Biografie

Friedrich Wolf (geb. 23.12.1888 in Neuwied am Rhein, gest. 05.10.1953 in Lehnitz) wuchs als einziger Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie in der Nähe von Koblenz auf. Seinem Glauben und den jüdischen Werten fühlte er sich Zeit seines Lebens verbunden, so besuchte er auch die jüdische Schule seiner Heimatstadt. Allerdings war er nicht tief religiös, sondern „mehr auf Vernunft und Wissen orientiert“ (Müller 2009, S. 13) als auf den Glauben an sich. Der studierte Mediziner wurde im Ersten Weltkrieg als Frontarzt verpflichtet. Wolf, der zunächst Mitglied der USPD und später der KPD war, ließ sich danach als Arzt nieder und begann Dramen zu verfassen und hoch gelobte Übersetzungen aus dem Hebräischen durchzuführen. Dabei vertrat er in seinen Texten eine humanistisch-sozialistische Haltung und wurde zu einem viel diskutierten Autor in der Theaterwelt und besonders in linken Kreisen. Zivilcourage, demokratisches Denken und sozialer Einsatz für die Gesellschaft sind Themen vieler seiner Stücke. So thematisiert das Drama „Cyankali (§218)“ von 1929 das gesellschaftliche Problem der illegal vorgenommenen Abtreibungen, an denen viele Frauen starben. Den Nationalsozialisten war er ein Dorn im Auge: Im „Völkischen Beobachter“ vom 27. Februar 1931 wird Wolf als einer „der gemeingefährlichsten Vertreter ostjüdischen Bolschewismus“ (zit. nach Müller 2009, S. 35) beschrieben. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten flohen der ausgebürgerte Wolf und seine Familie zunächst über die Schweiz nach Frankreich und 1934 ins Exil nach Moskau. Von dort kehrte er Ende 1937 zurück nach Frankreich, da Stalin die Verhaftung aller deutschen Emigranten als vermeintliche Spione für das NS-Regime befohlen hatte. Dort wurde er nach Kriegsausbruch als ‚feindlicher Ausländer‘ u.a. im KZ Le Vernet interniert – auch dort schrieb er bis zu seiner Rückkehr in die Sowjetunion weiter. Die Kriegszeit erlebte Wolf, der seit 1941 sowjetischer Staatsbürger war, in Moskau – immer in Gefahr, da die Nationalsozialisten ihn auf ihre Fahndungslisten gesetzt hatten. Wolf arbeitete für die sowjetische Armee als Propagandist und Lehrer für Kriegsgefangene. Eigentlich plante Wolf direkt nach Kriegsende nach Deutschland zurückzukehren, jedoch gab es politische Schwierigkeiten und Walter Ulbricht war es, der „Wolfs Name von der Liste der Heimkehrer gestrichen“ (Slevogt 2011, S. 288) hatte. Erst im September 1945 konnte Wolf nach Deutschland in die sowjetische Besatzungszone zurückkehren, wo er sich im kulturpolitischen Berlin engagierte, u.a. war er Berater der Sowjetischen Militäradministration in Kulturfragen und Mitbegründer des PEN-Zentrums Deutschland. Wie einflussreich Wolf geworden war – obwohl er durchaus die antidemokratische Ausrichtung der DDR und die Vergehen Stalins anprangerte –, zeigt seine Berufung zum ersten Botschafter der DDR in Polen von 1949 bis 1951. Wolf starb 1953 als geachteter Bürger der DDR und Bertolt Brecht hielt die Gedenkrede.

Quellen:

  • Müller, Henning: Friedrich Wolf (1888-1953). Deutscher Jude – Schriftsteller – Sozialist. Berlin 2009.
  • Slevogt, Esther: Den Kommunismus mit der Seele suchen. Wolfgang Langhoff – ein deutsches Künstlerleben im 20. Jahrhundert. Köln 2011.


Werkgeschichte

Friedrich Wolf veröffentlichte seine Erzählungen 1941 in Moskau, wo er nach seiner Zeit im Lager Vernet als sowjetischer Staatsbürger lebte. Im folgenden Jahr wurden die Erzählungen in einer englischen Übersetzung im selben Verlag publiziert. Beide Fassungen, sowohl das deutsche Original als auch die englische Übersetzung, wurden nur einmalig verlegt; Neuauflagen gab es in den folgenden Jahren nicht. Während sein Drama „Beaumarchaise“, das er in Vernet verfasste, ein großer Erfolg wurde, wurden die Erzählungen über die Haft im Lager Vernet mit den Jahren vergessen.

Quelle:

  • Wolf, Friedrich: Concentration Camp Vernet. Two Stories. Übersetzt von M. S. Korr. Moskau 1942.



Bearbeitet von: Christiane Weber