Liebesmacht bricht Machtliebe! (1945)

Aus Frühe Texte der Holocaust- und Lagerliteratur 1933 bis 1949
Wechseln zu: Navigation, Suche

Angaben zum Werk

Titel Liebesmacht bricht Machtliebe!
Autor Wagner, Emmy (1894-?)
Genre Erinnerungsbericht

Ausgaben des Werks

Digitalisat in DIGISAM öffnen
Ausgabe von 1945, Wangen im Allgäu
Titel Liebesmacht bricht Machtliebe!
Untertitel Ein Erlebnisbericht der Verfasserin

Erscheinungsort Wangen im Allgäu
Erscheinungsjahr 1945

Verlegt von J. Würzer
Gedruckt von J. Würzer
Publiziert von Wagner, Emmy (1894-?)

Umfang 80 Seiten

Lizenz Druckgenehmigung durch das Gouvernement Militaire Le Capitaine adjoint, Tübingen
Preise 3 RM
Bibliotheksnachweise UBGI-icon.gif UB Gießen (Print-dnb-icon.gif gedruckte Ausgabe)
DNB-icon.gif Deutsche Nationalbibliothek (Print-dnb-icon.gif gedruckte Ausgabe)


Zusammenfassung

Der Erinnerungsbericht von Emmy Wagner verwebt das persönliche Schicksal der Autorin eng mit ihren politisch-soziologischen Betrachtungen. Insgesamt 32,5 Monate verbrachte Wagner als politischer Häftling in Schutzhaft in Berlin und dem Konzentrationslager Ravensbrück. Im Vorwort, das sie im August 1945 in Wangen im Allgäu verfasst, stellt sie klar, dass der Erlebnisbericht den Auftakt zu ihrer wissenschaftlichen Lehre bilde, die in ihrer ursprünglichen akademischen Form den Bomben zum Opfer gefallen sei, die sie aber im Konzentrationslager „aus der Erregung göttlicher Liebe“ (S. 4) in Rhythmen und Reimen gedanklich neu gefasst habe.

Bereits die äußere Form und Gliederung des Textes weisen einerseits einige Ähnlichkeiten mit einer wissenschaftlichen Abhandlung auf. Gleichzeitig haben einige Passagen den Charakter eines Rechtsgutachtens in eigener Sache. Der Text selbst ist in einem nüchternen, häufig etwas umständlichen Stil verfasst. Einzelne Absätze sind fett hervorgehoben, zentrale Begriffe, Orte und Namen häufig, aber nicht durchgängig, gesperrt gesetzt. Zu einem Großteil besteht der Bericht darüber hinaus aus der Nennung von sowohl namhaften als auch unbekannten Weggefährten, Widersachern, Mithäftlingen und Zeitgenossen der Autorin. Auffällig ist eine Häufung von bürokratisch anmutenden und verschleiernden Begriffen, wie sie auch im nationalsozialistischen Sprachgebrauch zu finden sind. So spricht sie etwa von der ‚Lösung der Juden- oder Rassenfrage‘ und von einer ‚Generalsäuberung des ganzen deutschen Volkes‘, die Hitler im Jahre 1933 durchzuführen versäumt habe. Sie versteht darunter jedoch – im Gegensatz zu den Nationalsozialisten – nicht die massenhafte Tötung von Juden und Staatsfeinden, sondern den Aufbau der Welt nach sozialen Gesichtspunkten auf der Grundlage der Liebe. Darauf basiert auch ihre Lehre, die sie bereits im Titel unter dem Motto „Liebesmacht statt Machtliebe!“ zusammenfasst. Ihr misst die Autorin enorme nationale und weltpolitische Bedeutung bei. Denn auf der Grundlage der Liebe könne es gelingen, „die These der kapitalistischen Demokratie mit der Antithese des antikapitalistischen Kommunismus durch die Synthese einer weltanschaulicn auf der Liebe fundierten genossenschaftlichen Kulturwirtschaft unter Wahrung des (gerechtfertigten) Privateigentums zu versöhnen“ (S. 14). Eine religiöse Gesinnung könne also zu einem Aufbau der Welt nach sozialen Gesichtspunkten verhelfen. Wiederholt betont Wagner, ihre Lehre hätte den Krieg verhindern und zu Weltfrieden führen können. Um ihre Erfolge zu belegen, nennt sie die Namen von Personen, die sie überzeugen konnte, wie etwa die englische Parlamentsreporterin Maud Ffoulkes oder den Legationsrat Dr. Drexler. Selbst die NS-Frauenschaft habe ihre Arbeiten nachahmen wollen, schreibt sie, allerdings „in kläglicher Weise“ (S. 18). Dr. Else Vorwerck, Leiterin der Abteilung Volkswirtschaft-Hauswirtschaft im Deutschen Frauenwerk, habe ihr im Frühjahr 1934 eröffnet, dass Wagner ihr gesamtes Schulungsmaterial an sie zu schicken habe: „Das alles geschah nur zu dem Zweck, mir meine Pläne abzugucken und mein geistiges Eigentum zu stehlen“ (ebd.).

Am 4. Juni 1942 wird Wagner in Berlin unter dem Vorwand einer Vernehmung verhaftet. Es folgt eine 14-monatige Schutzhaft. Der Grund: „Beleidigende Äußerungen über führende Persönlichkeiten“. In der ‚Politischen Zelle 17‘ am Alexanderplatz trifft sie mit vielen Kommunisten, Demokraten und ‚Reaktionären‘ aller europäischen Staaten zusammen. Auch hier nennt sie die Namen einiger ‚prominenter‘ und vorwiegend adliger Personen wie etwa Elisabeth von Brockdorf, den Oberregierungsrat des Wirtschaftsministeriums Dr. von Harnack mit Gattin sowie die Freiin von Armin und Frau Bargum geb. Freiin von Hammerstein, Gattin eines Offiziers aus dem Luftfahrtministerium.

Ihre Haft beruhe, so die Autorin, auf verleumderischen Anschuldigungen des ‚Zeugen-Klüngels‘, den die Reichsfrauenführerin Scholtz-Klink initiiert habe: „Man legte mir Schimpfworte und Redensarten in den Mund, deren Wortlaut und Sinn mir gänzlich fremd waren oder die – aus dem Zusammenhang gerissen – in verleumderischer Weise verdreht wurden“ (S. 7). Goebbels und Funk solle sie als ‚Hunde‘ bezeichnet haben, Ribbentrop als ‚Dummkopf‘, der die Völker auseinanderbringe, anstatt sie zusammenzuführen. Gegen Presse, Rundfunk und Kino solle sie abfällige Bemerkungen wie ‚Schwindel‘ oder ‚Massenverdummung‘ gemacht haben. Immer wieder versucht sie diese Anschuldigungen schriftlich richtigzustellen, indem sie darlegt, dass sie in ihrer soziologischen Arbeit „die Goebbels’sche Propaganda und ihre Ergebnisse“ (S. 9) mit wissenschaftlichen Methoden widerlegt habe und nicht mittels der ihr in den Mund gelegten Beschimpfungen. Sie habe allerdings in ihrer Aufklärungsarbeit mit „krassen Ausdrücken und Bildern arbeiten [müssen], um überhaupt verstanden zu werden“ (S. 11). Ihre Gegner, davon ist sie überzeugt, hätten ihre Lehre nicht widerlegen können, daher haben sie sie durch Verleumdungen und Intrigen aus dem Weg schaffen wollen. Wie viel ihr ihre wissenschaftlichen Arbeiten und ihre akademische Bildung bedeuten, wird bereits dadurch deutlich, dass sie auf dem Titelblatt des Buchs ihren Doktortitel vor den Namen setzen lässt. Auch im Bericht selbst wird dieser mehrfach thematisiert, unter anderem wird sie von Mithäftlingen in Ravensbrück einmal beim Schutzhaftlagerführer gemeldet, weil sie sich mit ihrem Doktortitel habe rufen lassen.

Ausführlich beschreibt Wagner die Verhandlungen, Zeugenaussagen und mangelnde Verteidigung vor dem Sondergericht. Im Urteil vom August 1943 wird ihr eine „gehässige Gesinnung gegen führende Persönlichkeiten“ (S. 24) attestiert. Sie wird zu 12 Monaten Schutzhaft verurteilt, die auf ihre bereits verbüßte Haft angerechnet werden. Unmittelbar nach ihrer Freilassung nimmt die Gestapo sie jedoch sofort wieder in Haft und bringt sie am 6. August 1943 in das Konzentrationslager Ravensbrück. Hier erhält sie als politischer Häftling einen roten Winkel und die Häftlingsnummer 21.844.

Neben den alltäglichen Demütigungen und Leiden, den elenden Bedingungen und katastrophalen Zuständen im Lager ist der Gedanke, in der Masse zu versinken, für die Autorin das Allerschlimmste. Doch sie ist fest entschlossen durchzuhalten, um „mein Lebenswerk vollbringen zu können, nämlich Klarheit zu schaffen über die Irrwege der Sozialpolitik und Erziehung“ (S. 39). Ihre Hauptkritik: Anstatt die Judenfrage aufrichtig zu lösen und den Weltfrieden auf der Gesittung der Völker aufzubauen, habe Hitler Gewalttätigkeit für Recht eingesetzt. Er habe aus Volk Masse gemacht, auf die jedoch kein Verlass sei, da sie käuflich sei und immer dem folge, der am meisten biete und am lautesten schreie. Sie sei immer fehlgeleitet und ausgebeutet, da es ihr an Urteilsfähigkeit fehle.

Ausführlich beschäftigt sie sich auch mit den Aufseherinnen und Funktionshäftlingen im Lager. Sie stellt fest, dass es keinen Unterschied gebe zwischen den politischen Richtungen, den Bekenntnissen und Nationalitäten: „Es kam immer nur auf die Persönlichkeit an, ob die Betreffenden sich ein Gewissen daraus machten oder nicht“ (S. 43). Sie wird in Ravensbrück den Strickerinnen zugeteilt, tut sich aber schwer, das vorgeschriebene Pensum von zwei Strümpfen in der Woche zu erfüllen. Schließlich wird sie als Sonderhäftling im Zellenbau, auch Bunker genannt, untergebracht. Dank dieser ‚Vergünstigung‘ darf sie nun Privatkleider tragen und bekommt – nach eigenen Angaben als einzige im Lager – eine weiße Armbinde. Ihre Arbeit in der Materialausgabe, wo sie sich verbotenerweise Schreibpapier besorgt, wird jedoch nach zehn Tagen bereits beendet, da sie von Mithäftlingen beim Kommandanten ‚verklatscht‘ und wegen ‚Ungeeignetheit‘ entlassen wird. Mehrfach schickt sie dem Kommandanten Auszüge aus ihren Dichtungen und Vorschläge, „wie das Massenlager mit seinen Massenbetrieben zu arthaften Wirtschafts- und Lebensformen zurückzuführen sei“ (S. 62), bis dieser ihr droht, sie bestrafen zu lassen, wenn sie ihm nochmals schreibe.

Nach dem 20. Juli 1944 muss sie ihre Einzelzelle im Bunker wieder verlassen, da diese nach dem Attentat auf Hitler gebraucht wird. Ihre für den 15. Dezember 1944 angekündigte Entlassung verschiebt sich um vier Tage, als eine Aufseherin schriftliche Aufzeichnungen und Gedichte findet, die ihre Lehre enthalten und die Wagner aus dem Lager schmuggeln will. Nach Berlin zurückgekehrt meldet sich die Autorin am 20. Februar 1945 vorschriftsmäßig bei der Gestapo in Berlin und unterschreibt eine Verpflichtung über das KZ zu schweigen.


Biografie

Emmy Wagner (geb. 1894 in Gnadenfrei) wurde in den Schlesischen Bergen geboren. Ihre Mutter starb als sie sechs, der Vater als sie 14 Jahre alt war. Zwei der insgesamt sechs Geschwister verstarben ebenfalls früh. Ein älterer Bruder kam im Ersten Weltkrieg um, ein jüngerer kehrte krank aus französischer Kriegsgefangenschaft zurück. 1911 – mit 17 Jahren – ging Wagner an das Sprachinstitut der Brüdergemeinde Montmirail in der Schweiz. Von 1913 bis 1915 war sie als Sprachlehrerin in der Brüdergemeinde Ebersdorf/Reuss tätig, bis sie 1915 nach Berlin an die dortige Soziale Frauenschule ging. 1916 absolvierte sie ihr erstes Sozial-Praktikum an der „Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge“. Ein Jahr später war sie in Hamburg bei der Kriegshinterbliebenenfürsorge sowie am Sozialpädagogischen Institut von Dr. Gertrud Bäumer, der damaligen Leiterin der deutschen Frauenbewegung, tätig.

Von 1918 bis 1920 bereitete sie sich auf das Abitur vor. Anschließend studierte sie zwischen 1920 und 1925 Staats- und Sozialwissenschaften an der Universität Berlin und promovierte zur „Typologie der unverheirateten Arbeiterin“. 1925 schloss sie ein Studium der sozialen Frage in England an und war als Referentin beim Evangelischen Presseverband in Halle tätig. 1926/27 studierte sie an der School of Applied Social Sciences der Western Reserve University in Cleveland, Ohio. 1928 war sie als Kreisfürsorgerin in Guhrau (Schlesien) tätig, ein Jahr später wurde sie volkswirtschaftliche Referentin und Leiterin der Betriebsfürsorge im Schocken-Konzern in Zwickau. Im Winter 1929/30 verbrachte sie einige Monate in Rom und lernte 1930/31 Wohlfahrts- und Staatsbürgerkunde sowie Englisch an der Frauenoberschule in Weimar. Ein Jahr später übernahm sie die Leitung des Neuland-Seminars in Eisenach und unterrichtete Wohlfahrtskunde, Psychologie und Pädagogik. 1933 war sie Assistentin bei Professor Johann Plenge, Universität Münster, Westfalen, und 1934/35 Referentin bei der Großeinkaufsgesellschaft der Konsumvereine (GEG), Hamburg. Von 1936 bis 1942 übte sie eine Lehrtätigkeit am Staatswissenschaftlichen Seminar der Universität Berlin aus und arbeitete an ihrer „Lehre von der Lebenshaltung“, einer „Konsumtionstheorie“ und „Wertlehre“, die unter anderem umfangreiche Untersuchungen zur bäuerlichen Lebenshaltung, Landfluchtbekämpfung und Ernährungslehre beinhaltete.

Quelle:

  • Peitsch, Helmut: Deutschlands Gedächtnis an seine dunkelste Zeit. Zur Funktion der Autobiographik in den Westzonen Deutschlands und den Westsektoren von Berlin 1945 bis 1949. Berlin: Edition Sigmar Bohn 1990, S. 475.
  • Wagner, Emmy: „Lebenslauf: Stufen meines Lebens“. In: dies: Liebesmacht bricht Machtliebe. Wangen 1945, S. 77-80.





Bearbeitet von: Charlotte Kitzinger