Märtyrer (1947)

Aus Frühe Texte der Holocaust- und Lagerliteratur 1933 bis 1949
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Angaben zum Werk

Titel Märtyrer
Autor Nick, Dagmar (1926-)
Genre Gedichtsammlung

Ausgaben des Werks

Digitalisat in DIGISAM öffnen
Ausgabe von 1947, München
Titel Märtyrer

Erscheinungsort München
Erscheinungsjahr 1947

Auflagen insgesamt 1

Verlegt von Drei-Fichten-Verlag
Gedruckt von Süddeutscher Verlag
Publiziert von Nick, Dagmar (1926-)
Umschlaggestaltung von Maihöfner, Fritz

Umfang 38 Seiten

Lizenz Military Government Information Control License Number US-E-117

Bibliotheksnachweise UBGI-icon.gif UB Gießen (Print-dnb-icon.gif gedruckte Ausgabe)
DNB-icon.gif Deutsche Nationalbibliothek (Print-dnb-icon.gif gedruckte Ausgabe)


Zusammenfassung

Die Gedichte, die Dagmar Nick als 20-Jährige verfasste, behandeln in hoch literarischer Form die Lebensbedingungen der direkten Nachkriegszeit in Deutschland: die seelische und körperliche Verzweiflung der Holocaustüberlebenden, die Frage der deutschen Schuld, das Leid der Deutschen auf der Flucht aus den Ostgebieten und das Leben in den Ruinen der zerbombten Städte.

Nick, die den Gedichtband „jene[n], die die Konzentrationslager erlebten“ (o.S) widmet, beginnt mit vier Gedichten über den Holocaust, die alle den gleichen Titel tragen. In Reimschema und Versmaß unterschiedlich, thematisieren die Gedichte „Märtyrer“ das Schicksal der Menschen in Konzentrationslagern: Nick vergleicht die Verzweifelten, die von der Welt abgetrennt scheinen, mit „entlaubt[en]“ (S. 7) Bäumen und bezeichnet sie als „Sünder ohne Sünde“ (S. 9). Sie beschreibt die Angst vor dem unbekannten Schicksal, den leisen Tod in der Nacht und den Verlust der eigenen Stimme: „Wir singen nicht, wir haben keine Lieder, / weil man uns jedes Wort bewacht. / […] // Wir wachen nur und warten auf das Ende / und ordnen uns in unser Sein“ (S. 10).

Dabei sind die Gedichte ausgefeilt und literarisch reflektiert: „Die Gegenwart war tot. Es stieg die Zeit. / Sie aber hatten nie genug gelitten. / In ihren langgedehnten, hohlen Schritten ging Ewigkeit“ (ebd.). Die Atmosphäre und die Gefühle der Überlebenden fasst Nick in unterschiedliche Formen: Es finden sich Sonette, umarmende aber auch gekreuzte Reime, mal wird im kollektiven ‚wir‘ erzählt, dann wieder im distanzierten ‚sie‘. Auffallend ist, dass Nick mit Brüchen zwischen den Versen und mit verwaisten Reimen arbeitet, um die Einsamkeit der Inhaftierten künstlerisch zu verdeutlichen.

Nach den Gedichten über das Leben im KZ führt Nick hochemotional und adjektivreich im Gedicht „Auferstehung“ die Befreiung der Menschen aus den Lagern aus: „Nun lösten sie mit feurigen Gebärden / sich aus dem Tod und standen wie befreit / vor ihrer aufgebrochnen Ewigkeit, / ganz angefüllt von ihrem Seelewerden“ (S. 11).

Das letzte Gedicht, das die lyrische Beschäftigung mit dem Holocaust abschließt, prangert die Ablehnung der Schuld der Deutschen an. Dabei wird der Leser direkt angesprochen und beschuldigt: „Wir haben sie [= die Überlebenden von Theresienstadt] zerbrochen, ich und du. / Auch du. Warum willst du es nicht mehr wissen? / Wir alle haben schuld, daß sie zerrissen, / zermartert wurden, denn wir sahen zu. // Und schwiegen. Ich und du. Vergiß das nie! […] Sie starben uns. Doch nun verneinen wir / die schwere Schuld, die uns, nur uns gehörte […]“ (S. 12).

Den Holocaustgedichten nachgestellt sind jene über das Schicksal der Deutschen, die aus den Ostgebieten flüchten mussten. Dabei steht die Zerstörung des Individuums im Vordergrund: „[…] Manche griffen / mit stummen Gesten tief in ihr Gesicht / und fanden es so seltsam ausgeschliffen / wie ein Gefäß, und ihrer Hand Gewicht / zerbrach es leicht, wie man ein Glas zerbricht“ (S. 14). Auch die Gespräche auf den ‚Trecks‘ machen die Unsicherheit durch Fragen deutlich: „Nächtliches Feld. Wo sind wir? / Weiß nicht. Laß mich in Ruh. / Ich kann nicht schlafen. – Du?“ (S. 15) Angekommen im Westen finden sie Städte vor, die dunkel, elend und feucht sind – Nick beschreibt die Situation in den zerbombten Städten unter anderem in den Gedichten „Stadtrand“ und „Höfe“.

Neben den Gedichten zur aktuellen Lage thematisieren diejenigen in der zweiten Hälfte des Bandes zeitlose und unpolitische Themen wie die Liebe, Jahreszeiten, Kunstwerke und kunstgeschichtliche Epochen.


Biografie

Dagmar Nick (geb. 30.05.1926 in Breslau) wuchs in einer Musikerfamilie auf: Ihr Vater Edmund Nick war Komponist und ihre Mutter Konzertsängerin. Als der Vater 1933 seine Stellung als Leiter des Schlesischen Rundfunks verlor, zog die Familie nach Berlin. Von einer Evakuierung in das Sudetenland 1944 kehrte Nick nicht nach Berlin zurück, sondern zog nach München, wo sie bis heute lebt. Die studierte Psychologin und Graphologin verfasste Romane, Hörbücher und vor allem elf Gedichtbände, von denen viele mit Preisen ausgezeichnet wurden. Unter anderem erhielt sie den Liliencron-Preis der Stadt Hamburg (1948), Eichendorff-Preis (1966), den Andreas-Gryphius-Preis (1993) und den Horst-Bienek-Preis (2009). Ihr erstes Gedicht veröffentlichte sie bereits 1945 in Erich Kästners „Neue Zeitung“; auch war sie 1948 zu einer Sitzung der Gruppe 47 eingeladen.

In den 1960er Jahren lebte Nick für vier Jahre in Israel. Diese Erfahrungen verarbeitete sie in verschiedenen Büchern wie „Einladung nach Israel“ (1963). Weitere bestimmende Themen ihrer Gedichtsammlungen sind ihre Reisen, die griechische Mythologie und das Judentum.

Neben ihrer Lyrik arbeitete Dagmar Nick auch als Übersetzerin, Autorin und Sprecherin für Rundfunk-Hörspiele etwa bei den Francis Durbridge Vertonungen der „Paul Temple“-Krimis. Nick ist ein langjähriges Mitglied des deutschen PEN und der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Durch ihr lyrisches Schaffen nimmt sie eine wichtige Stellung in der deutschen Literaturgeschichte ein: „She has been described as being, with Ingeborg Bachmann, Rose Ausländer, and Hilde Domin, among the most important German-speaking poets since 1945“ (Boland 2004, S. 137).

Quellen:

  • Boland, Eavan: After Every War. Twentieth-century Women Poets. New Jersey 2004.
  • Kraft, Thomas: „Dagmar Nick“. In: Hillgruber, Katrin und Thomas Kraft: München literarisch. 40 Jahre Tukan-Preis. Die Preisträgerinnen und Preisträger 1965-2005. München 2005, S. 73f.
  • Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek / Literaturportal Bayern: http://www.literaturportal-bayern.de/autorenlexikon?task=lpbauthor.default&pnd=118934457 (Stand: 17.09.2019).


Werkgeschichte

Der Gedichtsammelband „Märtyrer“ erschien in einer einmaligen Auflage 1947; Nick hatte die Gedichte unter dem direkten Eindruck ihres Nachkriegslebens verfasst. Einzelne Gedichte wurden zwar in anderen Publikationen abgedruckt, aber eine Gesamtneuauflage des Bandes fand – im Gegensatz zu ihren anderen Gedichtsammlungen, die eine große Anzahl von Neuauflagen aufweisen – nicht statt.



Bearbeitet von: Christiane Weber