Morris (1948)

Aus Frühe Texte der Holocaust- und Lagerliteratur 1933 bis 1949
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Angaben zum Werk

Titel Morris
Autor Giordano, Ralph (1923-2014)
Genre Erzählungen

Ausgaben des Werks

Ausgabe von 1948, Berlin
Titel Morris
Untertitel Geschichte einer Freundschaft

Erscheinungsort Berlin
Erscheinungsjahr 1948

Verlegt von Verlag Neues Leben
Gedruckt von Ferdinand Peter Nachf.
Publiziert von Giordano, Ralph (1923-2014)

Umfang 71 Seiten

Lizenz Nr. 391, 1917/48-04525/47

Bibliotheksnachweise DNB-icon.gif Deutsche Nationalbibliothek (Print-dnb-icon.gif gedruckte Ausgabe)


Ausgabe von 1994, Berlin
Titel Morris
Untertitel Geschichte einer Freundschaft

Erscheinungsort Berlin
Erscheinungsjahr 1994

Verlegt von Verlag Neues Leben

Publiziert von Giordano, Ralph (1923-2014)

Umfang 119 Seiten

Bibliotheksnachweise UBGI-icon.gif UB Gießen (Print-dnb-icon.gif gedruckte Ausgabe)


Zusammenfassung

Die kurze Erzählung ist Ralph Giordanos schriftstellerisches Debüt und gilt als Grundlage zu seinem späteren, teilweise autobiografischen Werk „Die Bertinis“ von 1982. Giordano erzählt darin aus der Perspektive eines fünfzehnjährigen, nichtjüdischen Ich-Erzählers die Geschichte des Juden Morris Bertheaux in Hamburg von November 1938 bis 1945. Anhand dessen Schicksal schildert Giordano die Verfolgung der Juden in Deutschland.

Der junge Erzähler begegnet Morris am Morgen der Pogromnacht am 9. November 1938, als dessen Uhrengeschäft gerade geplündert wird. Aus diesem Zusammentreffen entsteht – wie der Untertitel bereits ankündigt – die „Geschichte einer Freundschaft“. Der Ich-Erzähler nimmt dabei die Rolle des Beobachters ein. Er ist allerdings keineswegs emotional unbeteiligt und neutral, das macht auch der traurig-melancholische Ton der Erzählung deutlich. Dennoch ist er als Deutscher und ‚Arier‘ ein Außenstehender und teilt die Bedrohung und das Schicksal des Juden Morris und seiner Familie nicht.

Die Begegnung mit Morris ist für den durch einen Autounfall gehbehinderten Erzähler eine Konfrontation mit der Judenverfolgung in Deutschland. Tief traumatisiert und abgestoßen durch die einschneidenden Beobachtungen am Tag des Pogroms, fühlt er sich von seinen Mitmenschen entfremdet: „In meinem Herzen steckte ein tödlicher Pfeil. Und hier wurde an meiner inneren Verbundenheit, die ich bis dahin zu meinen Mitmenschen fühlte, gezerrt, weil keiner aufstand und diesen Räubern ins Gesicht schlug oder seiner Empörung laut Luft machte“ (S. 13). Als er für seine Weichheit – ihm stehen Tränen in den Augen – von einem SA-Mann verhöhnt wird, stößt er hervor: „‚Dann … dann will ich kein deutscher Junge sein!‘“ (S. 15)

Am Beispiel von Morris verfolgt der Erzähler die voranschreitende Verfolgung und Verelendung der Juden, die Deportationen und das Leben im Versteck. Durch ihn erfährt er auch von der „Vernichtung, die physische Vernichtung von Menschen, weil sie einer bestimmten Rasse angehörten!“ (S. 20) Er lernt, wie leicht sich Menschen belügen und in einen Krieg treiben lassen: „Sie werden dem Volk die Lügen einmal sagen. Das Gewissen regt sich noch schwach dabei. Bei der zehnten Wiederholung der Lüge ist es eingeschlummert, hat sich die Lüge in die Herzen eingefressen, und bei der hundertsten wird für sie gekämpft, wird Blut gegeben und genommen – für Lüge, Betrug, Verbrechen“ (S. 21, Hervorhebung im Original). In den bei jeder Begegnung stattfindenden Dialogen zwischen dem Jungen und dem älteren Juden werden immer wieder auch politische Fragen und Einschätzungen sowie die Schuldfrage der Deutschen und die Notwendigkeit der Umerziehung des deutschen Volkes nach dem Krieg thematisiert – Themen, mit denen sich Giordano auch in späteren Werken immer wieder auseinandersetzt. Zunächst besucht der junge Erzähler etwa alle zwei Wochen Morris und dessen Frau, die ‚arisch‘ ist und mit Morris seit Januar 1933 eine sogenannte kinderlose Mischehe führt. Bei jedem Besuch hat sich die Situation für die Familie weiter verschlimmert. Der Erzähler erfährt etwa von Morris Enteignung und von dessen vorübergehender Inhaftierung in einem Lager, die deutliche Spuren hinterlassen hat. Immer wieder ist er fassungslos: „‚Ich, der dasselbe Herz, dieselbe Lunge, dasselbe Hirn besaß wie diese Menschen, die da vor mir saßen, war nicht gefährdet, wegen eines Zufalls nicht! Weil ich weder einen jüdischen Vater noch eine jüdische Mutter hatte ...‘“ (S. 24). Er erfährt über die Briefe, die Deportierte aus den polnischen Gebieten über das Schicksal der dort lebenden Juden an Morris schreiben, etwa auch von den Zuständen im Warschauer Getto.
 Schließlich verbietet ihm Morris die Besuche, um den jugendlichen Freund nicht weiter zu gefährden. Von Ende 1941 begegnet er ihm bis Juli 1943 nur noch dreimal zufällig: Ende 1941, im Dezember 1942 und schließlich im Juli 1943. Jedes Mal hat sich Morris Situation drastisch verschlimmert.

Bereits früh erfährt der Leser durch einen Vorausgriff des jungen Erzählers, dass die Erzählung auf eine Katastrophe für Morris und seine Familie zusteuert. Diese tritt im Juli 1943 bei der verheerenden Bombardierung Hamburgs schließlich ein. Dabei stirbt auch Morris Frau unter dramatisch geschilderten Umständen, da sie aus Rücksichtnahme auf Morris, der im Luftschutzbunker als Jude nicht geduldet wird, ebenfalls darauf verzichtet, dort Schutz zu suchen. Morris, dessen volljüdische Eltern bereits nach Polen deportiert wurden, ist in einem tiefen Schockzustand. Die offenkundige Bestürzung des Erzählers hält er nicht aus: „‚Du machst es mir noch unerträglicher, wenn du mir deinen Schmerz so zeigst. Merkst du nicht ... wie ich ...‘, er flüsterte – ‚die Verzweiflung von mir halte? Weißt Du, Verzweiflung, das ist so schlimm … wie es ein Mensch nicht aushalten kann. Da verbrennt etwas, Blut, Adern. Ich will nicht nachdenken und tue es doch immer!‘“ (S. 42, Hervorhebung im Original) Schließlich versteckt sich Morris bei zwei älteren Damen und verbringt dort lange deprimierende Monate in einem abgedunkelten und feuchten Kellerraum. Einmal – nach zwölf Monaten – besucht ihn der Erzähler entgegen der Anweisungen von Morris dort, da er auch diese Phase in Morris Leben miterleben will: „Nichts von seinem Leid sollte mir verborgen bleiben“ (S. 54). Die beiden sprechen über das Vernichtungslager Auschwitz und den Warschauer Gettoaufstand. Morris hält sich über deutsche Zeitungen einigermaßen informiert. Eine Ampulle Gift liegt bereit für den Fall, dass die Situation zu unerträglich werden sollte, oder für den Fall der Entdeckung.

Sie sprechen auch über die Deutschen und der Erzähler stellt fest: „Aber längst hätte jeder von uns das Verbrechen in seinem ganzen Umfang erkennen können, jeder, der es erkennen will und der seiner Gewissenstimme nachginge, um nach dem zu forschen, wovon er andeutungsweise, bruchstückhaft auf tausend verborgenen Wegen Kenntnis erhalten hat in diesen ganzen Jahren“ (S. 60, Kursivierung im Original).

Nach der Kapitulation Hamburgs am 4. Mai 1945 ist auch Morris frei. Bei einem letzten Treffen der Freunde sprechen sie über die Unmöglichkeit, das Geschehene zu vergessen. Sie sind sich einig, dass das nicht möglich sei und auch nicht sein dürfe. Denn, so argumentiert Morris: „Ich müßte dann mein Leben vergessen. Solange wir leben, dürfen wir nicht vergessen – aus Pflicht gegen die Menschheit und aus Liebe zu denen, die uns durch die Mörderhand genommen sind“ (S. 67).

Morris hat beschlossen zunächst nach England und dann, wenn möglich, nach Palästina zu gehen. Die Freunde sagen einander Lebewohl. Im allerletzten Moment drückt Morris dem Erzähler aus dem Zugfenster heraus die leere Giftampulle in die Hand. Offen bleibt, ob diese schon immer leer war oder ob Morris sie nach der Befreiung geleert hat. Der Erzähler schließt mit den Worten: „Und jetzt warte ich auf Post von ihm, von Morris Bertheaux, meinem Freund, dem Juden“ (S. 71).

Der Erzählung ist ein Vorwort des Verlags vom Frühjahr 1948 vorangestellt, in dem vor allem biografische Informationen zum Autor dargelegt werden. Das Vorwort endet mit der Ansage, dass der Nazismus weder militärisch noch ökonomisch geschlagen sei und schon gar nicht ideologisch: „Das Problem ist für uns auch nach der Befreiung das alte geblieben. Und deshalb unser Kampf auch“ (S. 9, Hervorhebung im Original).


Biografie

Ralph Giordano (geb. 20.03.1923 in Hamburg, gest. 10.12.2014 in Köln) wurde als Sohn eines Pianisten und einer jüdischen Klavierlehrerin geboren und wuchs mit zwei Geschwistern auf. Sein Großvater väterlicherseits, ein Orchesterleiter, war als junger Mann von Sizilien nach Deutschland immigriert. Giordano besuchte zunächst nach der Machtübernahme Adolf Hitlers die Volksschule und später das renommierte humanistische Gymnasium Johanneum. Zunehmend sah er sich jedoch antijüdischen Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt. Als Siebzehnjähriger musste er 1940 aufgrund der ‚Nürnberger Rassegesetze‘ die Schule schließlich ohne Abitur in der Obersekunda (11. Klasse) verlassen. Zu diesem Zeitpunkt war er bereits mehrfach von der Gestapo verhört und schwer misshandelt worden, das erste Mal gerade 16-jährig im September 1939. Im Sommer 1943 verlor die Familie infolge eines Bombenangriffs ihre Wohnung und zog vorübergehend nach Bösdorf in die Altmark, kehrte jedoch ein Jahr später nach Hamburg zurück. Als die Deportation der Mutter drohte, tauchte die Familie unter. Ähnlich wie der Jude Morris in Giordanos 1948 veröffentlichter Kurzgeschichte „Morris. Die Geschichte einer Freundschaft“ lebte Giordano zusammen mit seinen Eltern und den beiden Brüdern den Krieg versteckt im Keller einer Freundin in Hamburg-Alsterdorf bis zur Befreiung durch die britische Armee am 4. Mai 1945.

Nach dem Zweiten Weltkrieg begann Giordano seine journalistische Tätigkeit bei der „Allgemeinen Jüdischen Wochenzeitung“. Am Deutschen Literaturinstitut Leipzig absolvierte er eine journalistische Ausbildung. Zudem trat er der sich neu konstituierenden Jüdischen Gemeinde in Hamburg bei. 1946 wurde er außerdem Mitglied der Hamburger Kommunistischen Partei (KPD) und schrieb in den folgenden zehn Jahren auch für kommunistische Zeitungen. In Westdeutschland gab er unter dem Pseudonym Jan Rolfs beim Verlag Neues Leben 1953 ein „Westdeutsches Tagebuch“ heraus, das von Aktionen der KPD in Hamburg berichtete und seine Verehrung für Stalin zeigte. 1955 siedelte Giordano in die DDR über, kehrte jedoch nach zwei Jahren wieder nach Hamburg zurück. 1957 trat er wegen seiner zunehmend kritischen Haltung zum Stalinismus wieder aus der KPD aus.

Im Auftrag des Zentralrats der Juden in Deutschland beobachtete er ab 1958 die beginnenden Prozesse gegen führende Nationalsozialisten. 1961 folgte dann mit seinem Buch „Die Partei hat immer recht“ eine Abrechnung mit dem Stalinismus und seinem eigenen Engagement in der KPD. Außerdem arbeitete er ab 1961 als Fernsehjournalist und produzierte zahlreiche Dokumentationen für verschiedene Sender, zunächst für den Norddeutschen Rundfunk (NDR) und ab 1964 bis zu seiner Pensionierung 1988 für den Westdeutschen Rundfunk (WDR). Wiederkehrende Themen waren etwa der deutsche Kolonialismus oder der Völkermord an den Armeniern.

1982 veröffentlichte er das teilweise autobiographische Werk „Die Bertinis“. An der Lebensgeschichte einer jüdischen Familie in der Zeit des Nationalsozialismus hatte er fast vierzig Jahre gearbeitet. Das Werk wurde ein deutscher und internationaler Bucherfolg und wurde 1988 für das ZDF verfilmt. Im Dezember 1984 starb seine erste Ehefrau Helga. 1987 erschien sein Buch „Die zweite Schuld oder Von der Last, Deutscher zu sein“, in dem Giordano sich mit der Verdrängung und dem Fortbestand des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik Deutschland auseinandersetzte. Darin thematisierte er den Unwillen breiter Teile der deutschen Öffentlichkeit zu einer Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen und zur Entschädigung der Opfer. Ebenso kritisierte er die politischen Entscheidungen, die es Mittätern ermöglichten, auch in der Demokratie wieder in Amt und Würden zu gelangen. Dieses Verhalten bezeichnet er als ‚zweite Schuld‘.

Am 22. Juli 1994 heiratete Giordano seine zweite Frau Roswitha Everhan, die nach fünfeinhalbjähriger schwerer Krebserkrankung am 16. Sept. 2002 verstarb. Wegen mangelnder Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit der ostdeutschen PEN-Mitglieder im Zuge der Fusion mit dem westdeutschen PEN trat Giordano im Frühjahr 1997 aus der Vereinigung aus. Aus Sorge um den neu aufkeimenden Rechtsextremismus unter Jugendlichen wandte sich Giordano in den 1990ern auch wiederholt mahnend an die Öffentlichkeit. 1992 schrieb er etwa einen offenen und viel diskutierten Brief an den damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl, in dem er der Regierung vorwarf, nicht bereit zu sein, Minderheiten den notwendigen Schutz zu gewähren. 2000 setzte er sich in der Publikation „Die Traditionslüge“ mit den undemokratischen Wurzeln der Bundeswehr auseinander. Im Mai 2002 protestierte er zudem in einem offenen Brief an den damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder und den Schriftsteller Martin Walser gegen die seiner Ansicht nach geschichtsverfälschenden Äußerungen Walsers, der zum Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges auf Einladung Schröders in der Berliner SPD-Zentrale offizieller Redner war. Außerdem positionierte sich Giordano 2003 für den Irak-Krieg, kritisierte 2007 den Bau der Großmoschee in Köln-Ehrenfeld und warnte vor einem Erstarken des fundamentalistischen Islam. Vor allem für letzteres erhielt er viel öffentliche Kritik. Er war auch immer wieder Morddrohungen durch Neonazis ausgesetzt.

Für seine publizistische Arbeit erhielt Giordano zahlreiche Auszeichnungen und Ehrungen. Er wurde etwa 1968/69 mit dem Grimme-Fernsehpreis geehrt, 1990 erhielt er den Heinz-Galinski-Preis und das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse. Ebenfalls seit 1990 ist er Ehrendoktor der Universität Kassel und seit 1992 Träger des Nordrhein-Westfälischen Verdienstordens. 2001 wurde Giordano mit dem Hermann-Sinsheimer-Preis für Literatur und Publizistik ausgezeichnet, im September 2003 erhielt er den Leo-Baeck-Preis. Am 18. Juni 2009 wurde Giordano mit dem Großen Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet.

Quellen:


Werkgeschichte

Die Veröffentlichung der Erzählung „Morris. Geschichte einer Freundschaft“ im 1946 gegründeten Verlag Neues Leben, einem der großen Verlage der sowjetischen Besatzungszone, kann als Indiz dafür gewertet werden, dass man dem antifaschistischen Gehalt der Erzählung große Bedeutung zumaß. Vor allem die in den Gesprächen zwischen dem Erzähler und Morris thematisierten Fragen der Demokratisierung Deutschlands nach der NS-Zeit und die Möglichkeiten zur Umerziehung der deutschen Bevölkerung scheinen mit dem Demokratieverständnis des Verlags und dem Selbstverständnis vieler Antifaschisten und Kommunisten in der sowjetischen Besatzungszone übereingestimmt zu haben. Weitere Ausgaben erfolgten jedoch nicht. Auch standen jüdische Themen nach 1948 nicht mehr so sehr im Mittelpunkt.

Quelle:

  • Steinlein, Rüdiger: „ ‚Der Tod ist ein Meister aus Deutschland‘. Judenverfolgung und Holocaust in deutschsprachiger Literatur zwischen 1933 und 1949“. In: Eke, Norbert Otto und Hartmut Steinecke (Hg.): Shoah in der deutschsprachigen Literatur. Berlin 2006, S. 43-63.



Bearbeitet von: Charlotte Kitzinger