Nicht nur die Juden geht es an… (1936)

Aus Frühe Texte der Holocaust- und Lagerliteratur 1933 bis 1949
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Angaben zum Werk

Titel Nicht nur die Juden geht es an…
Autor Heilig, Bruno (1888-1968)
Genre Artikelsammlung

Ausgaben des Werks

Ausgabe von 1936, Wien
Titel Nicht nur die Juden geht es an…

Erscheinungsort Wien
Erscheinungsjahr 1936

Verlegt von Victoria Druckerei
Gedruckt von Victoria Druckerei
Publiziert von Heilig, Bruno (1888-1968)

Umfang 64 Seiten
Abbildungen 1 Portraitfotografie von Bruno Heilig

Bibliotheksnachweise UBGI-icon.gif UB Gießen (Print-dnb-icon.gif gedruckte Ausgabe)
DNB-icon.gif Deutsche Nationalbibliothek (Online-dnb-icon.gif elektronische Ausgabe)


Zusammenfassung

Der Journalist Bruno Heilig beschäftigt sich in seinen gesammelten Aufsätzen, die in verschiedenen österreichischen Zeitungen zwischen 1935 und 1936 erschienen, mit der Wichtigkeit des weltweiten Kampfes gegen den nationalsozialistischen Antisemitismus. Der Nationalsozialismus stelle, so Heiligs Hauptthese, eine Gefahr für jeden dar, denn es sei keine „Juden-Frage“ sondern eine „Menschheitsfrage“ (beide Zitate S. 4).

In deutlichen Worten beschreibt und analysiert Heilig die Problematik aus Sicht des jüdischen Österreichers und thematisiert die Rolle der Juden, die Verantwortung der Welt und das Wesen des Antisemitismus. So stellt er fest, dass Juden lediglich die für alle geltenden Menschenrechte fordern. Dafür müssten sie jedoch kämpfen, denn die passive Wertehaltung bis dato dürfe so nicht fortgesetzt werden. Allerdings seien Juden in viele Gruppierungen zersplittert und gäben sich oft selbst die Schuld an antisemitischen Aktionen; dies schränke ihren Handlungsspielraum stark ein. Die Welt, so klagt Heilig an, helfe nicht: „Für die Befreiung der Negersklaven in Amerika haben Weiße ihr Blut in Strömen fließen lassen, für die Griechen und die Buren ist empörte Begeisterung in der ganzen Welt aufgeflammt, für die Armenier hat sich die ganze Christenheit eingesetzte. Warum diese Zurückhaltung, wenn es um Juden geht“ (S. 7)? Heilig kritisiert die Regierungen von Ländern wie Großbritannien und an vielen Stellen auch den Völkerbund harsch. Sein Urteil über die ausbleibende Rettung der Juden aus Deutschland ist deutlich: „Diejenigen, die helfen könnten und doch nicht helfen, werden Mitschuldige des Nationalsozialismus“ (S. 17, Sperrung im Original)! Ein weiterer wichtiger Aspekt des Textes ist die Analyse des Antisemitismus und seiner Mechanismen, die Heilig in mehreren Artikeln immer wieder beschreibt: Die nationalsozialistische Ideologie nutze die „konstruiert[e]“ (S. 4) Judenfrage als Rechtfertigung ihrer antisemitischen Politik und beziehe sich darin auf jahrhundertealte Stereotype. Seit jeher sei der Antisemitismus in „sozialen Krisenzeiten“ (S. 37) als Argument herangezogen worden, obgleich die wahren Gründe woanders lägen. Heilig warnt davor, dass die Nationalsozialisten auch dann ihr Handeln nicht beenden werden, sobald es keine Juden mehr gibt: „Der Nationalsozialismus ist einheitliche und unteilbare Barbarei. Die Juden waren nur der Punkt des geringsten Widerstandes, aber ihr Schicksal ist allen zugedacht, die schwächer sind oder sein werden als der Nationalsozialismus“ (S. 9). Zunächst, so Heiligs Prognose, würden Katholiken die Opfer, dann die „Franzosen, Tschechen, Russen, Polen und alle, die man erreichen könnte“ (ebd.).

In seinen ersten Aufsätzen beschreibt Heilig zunächst die Situation der Juden in Deutschland, im letzten Drittel wendet er sich der Lage in Österreich zu: Da die Österreicher sähen, was in Deutschland passierte, müssten sie sich vehement vom Nationalsozialismus distanzieren. In seinem Aufsatz „Dar Jud“ karikiert er die Situation, dass jeder Österreicher zwar eine von der antisemitischen Propaganda geprägte, stereotype Vorstellung eines Juden habe, aber keiner einen solchen kenne. Alle Juden, die sie in ihrem Umfeld schätzen, nähmen sie als Ausnahme wahr.

Heilig schreibt gegen die Entwicklungen in Europa an und erteilt konkrete Handlungsanweisungen. Dabei glaubt er fest an die Macht des Wortes: „Hat es einen Sinn, den Antisemitismus mit Worten zu bekämpfen? Die Frage wurde in den letzten Wochen sehr oft an mich gestellt. Die Gescheiten wissen natürlich hundert Gründe anzugeben, warum es keinen Sinn habe. Alle diese Gründe sind uninteressant. Der Antisemitismus muß bekämpft werden, weil er eine Schande für die Menschheit ist […] Ueber die Mittel aber ist zu sagen, daß im Kampf um jeden Fortschritt dem gesprochenen und geschriebenen Wort immer der erste Platz gehört hat. Mit anderen als geistigen Mitteln kann man nur Ungeistiges durchsetzen“ (S. 24, Sperrung im Original). Deutlich wird die Funktion der Texte: „Es ist den Antisemiten doch nie gelungen, die Völker zum letzten aufzuhetzen, […] daran muss vor allem der Jude glauben“ (S. 13) – die Aufsätze, die oft in zionistischen, das heißt überwiegend von Juden gelesenen Zeitungen erschienen, sollen offenkundig Hoffnung geben.

Da es sich bei den Aufsätzen um Zeitungsartikel handelt, knüpft Heilig inhaltlich an tagesaktuelle Themen an und leitet daraus „allgemeine Ueberlegungen und konkrete Forderungen“ (S. 6) ab. So nutzt er als ‚Aufhänger‘ Reden von Politikern, antisemitische Bucherscheinungen oder auch die Vergabe der Olympischen Spiele nach Berlin 1936, die er mit den Worten „Wo fair play so verhöhnt wird, kann man nicht spielen“ (S. 30) kritisiert. Heilig wiederholt in seinem eloquenten und intellektuellen Stil immer wieder dieselben Sachverhalte, um diese dem Leser zu verdeutlichen. Dabei gibt er in seinen Aufsätzen klare Wertungen von sich, wie etwa: „Es ist falsch und verkehrt, wie man sich den verfolgten Juden gegenüber verhält“ (S. 8). In der Retrospektive wird deutlich, wie klarsichtig manche von Heiligs Analysen sind, wenn er etwa von der „Ausrottung“ (S. 33) der Juden spricht.

Dem Text merkt man an, dass er von einem geübten Journalisten stammt: Heilig streut (provozierende) Fragen ein, die er umgehend beantwortet, nutzt vielfach das den Leser miteinbeziehende ‚wir‘ oder denkt sich in dessen Unglauben über die Situation hinein. Er zieht Parallelen zu historischen Ereignissen oder Geschehnissen in Deutschland und anderen europäischen Ländern, appelliert inhaltlich immer an die Moral und die Verpflichtung des Gewissens der Menschen, streut Fremdworte ein und zitiert handelnde Akteure wie Adolf Hitler. Heilig entwickelt in seinen Aufsätzen klare Argumentationsstrukturen und nimmt Gegenargumente auf, um sie zu entkräften. Dabei nutzt er oft das Mittel des Sarkasmus und des Zynismus, indem er sich beispielsweise als Jude in die ‚bedauernswerte‘ Situation eines Antisemiten versetzt: „Oft müssen die Antisemiten in ihrer Qual zu den absurdesten Mitteln greifen“ (S. 12).

Der Sammlung von Artikeln ist ein Vorwort von Dr. David Feuchtwanger, dem Oberrabbiner von Wien, vom April 1936 vorangestellt, in dem dieser die Wichtigkeit des Eintretens gegen Antisemitismus betont, da dieser eine Form des Kulturverfalls sei. Dabei hebt er die Person Bruno Heilig und den besonnenen und ruhigen Ton seiner Schriften besonders hervor: „Wo sind die Kämpfer für Gerechtigkeit, Wahrheit und Liebe? Weder in der alten noch in der neuen Welt höre ich aus den Stimmen der großen Völker einen Ruf nach Besinnung. […] Bruno Heilig ist ein tapferer Kämpfer für Kultur, Recht, Menschlichkeit und Wahrheit […]. Er kämpft für uns Juden, für das Judentum und die Judenheit der Welt“ (S. 3).


Biografie

Bruno Heilig (geb. 26.04.1888 Hohenau in Niederösterreich, gest. 23.07.1968 in Berlin) wurde als Sohn eines jüdischen Kaufmanns geboren und studierte nach seinem Abitur an einem humanistischen Gymnasium ab 1908 Jura in Wien. Während des Ersten Weltkriegs diente Heilig, der bis Kriegsbeginn als Journalist einer ungarischen Nachrichtenagentur gearbeitet hatte, in einem Telegrafen-Regiment der ungarischen Armee. Nach Kriegsende kehrte er in seinen bürgerlichen Beruf zurück und schrieb über Außenpolitik für die Budapester Zeitung „Pesti Napló“ sowie für die „Vossische Zeitung“. Nach seiner Ausweisung aus Ungarn wegen kritischer Artikel zog er im November 1928 nach Berlin, wo er für den Ullstein Verlag und als Korrespondent für eine Wiener und Prager Zeitung arbeitete. Um einer Verhaftung durch die Nationalsozialisten zuvorzukommen, musste Heilig im September 1933 nach Wien fliehen. Dort schrieb er erfolgreich für verschiedene österreichische Zeitung, darunter „Der Morgen“, „Der Wiener Tag“ und „Die Stimme“, eine jüdische Zeitung, und für die britische „Jewish Chronicle“. Am 15. März 1938 wurde er von der Gestapo in seiner Wohnung verhaftet und von Wien aus in einem der ersten Transporte als prominenter politischer Gegner in das Konzentrationslager Dachau gebracht. Neben seinen journalistischen Arbeiten sei ein anderer Grund gewesen – so Heilig im Fragebogen des Hauptausschusses „Opfer des Faschismus“ aus dem Mai 1945 –, dass er als Korrespondent Informationen ins Ausland gebracht, in Österreich Neuigkeiten an Kommunisten vor Ort weitergegeben und geheime Berichte des Präsidenten der Jüdischen Gemeinden von Deutschland an Journalisten in Wien verteilte hatte. In Dachau wurde Heilig am 2. April 1938 als Neuzugang geführt und erhielt die Häftlingsnummer 13870. Am 22. September 1938 wurde er nach Buchenwald verlegt, wo er als Häftling Nummer 8221 geführt wurde. Heilig wurde am 27. April 1939 entlassen, da seine Frau eine Schiffspassage nach Shanghai hatte organisiert können, die er später jedoch nicht antreten konnte. Doch die Unterlagen ermöglichten die Freilassung aus Buchenwald. Mit Hilfe und finanzieller Unterstützung des „Jewish Chronicle“ emigrierte er im August 1939 nach England, wo er 1940 für drei Monate als ‚enemy alien‘ in einem Lager auf der Isle of Man interniert wurde. Dort arbeitete er an der Lagerzeitung „Mooragh Times“ mit. Seine Frau und einer seiner Söhne konnten nicht mehr rechtzeitig vor Kriegsausbruch ausreisen. Nach seiner Entlassung verfasste er, basierend auf seinen Erfahrungen im nationalsozialistischen Deutschland und in den Konzentrationslagern, 1941 das Buch „Men crucified“, welches mehrere Auflagen in verschiedenen Verlagen erfuhr und nach Kriegsende ins Deutsche, Tschechische und Slowakische übersetzt wurde. Neben der journalistischen Tätigkeit – die durch seine fehlenden englischen Sprachkenntnisse erschwert wurde – begann Heilig nach seiner Schlosserlehre 1941 als Dreher und Werkzeugmacher in kriegswichtigen Betrieben zu arbeiten. Politisch aktiv blieb er in seiner Zeit im britischen Exil auf verschiedenen Ebenen, so engagierte er sich unter anderem im „Free Austrian Movement“. Er veröffentlichte zudem Artikel in Exilzeitungen wie dem „Aufbau“ und schrieb für „Die Zeitung“, die in London auf Deutsch erschien. Andere wirtschaftspolitische Artikel wurden für englischsprachige Zeitungen wie „Land and Liberty“ vermutlich übersetzt, obgleich Heilig eigenen Angaben nach in Dachau bereits begonnen hatte Englisch zu lernen. Im Juni 1944 wechselte Heilig in das Hauptquartier der alliierten Streitkräfte (SHAEF), wo er Flugblätter, Radiosendungen und weitere Schriften verfasste. Bis zum Sommer 1946 arbeitete Heilig dann für die Deutsche Allgemeine Nachrichtenagentur (DANA) in der amerikanischen Besatzungszone, wo er junge deutsche Journalisten ausbildete. Von August 1946 bis April 1947 war er dann an der Zusammenstellung des Archivmaterials für die Nürnberger Prozesse beteiligt. Im Oktober 1947 kehrte Heilig nach (Ost-)Berlin zurück und da er bereits in England im kommunistischen Diskussionsforum „Austria of Tomorrow“ aktiv war, trat er in die SED ein. Heilig war Chefredakteur und Leiter des Ressorts Außenpolitik von „Deutschlands Stimme“, bis er 1952 aus politischen Gründen seine Stellung aufgeben musste. Heilig meldete sich nach dem Krieg immer wieder mit seinen Analysen zu Wort – neben seinen Zeitungsartikeln auch im Rundfunk. Ein weiteres Betätigungsfeld von Bruno Heilig war – neben der Schriftstellerei – das Übersetzen von ungarischer Literatur ins Deutsche, darunter auch Berichte von ungarischen Holocaustüberlebenden. Er gilt als „wichtiger Mittler der ungar[ischen] Lit[eratur] in der DDR“ (Barth, o.S.) und erhielt 1960 eine Gedenkmedaille des ungarischen PEN-Clubs.

Quellen:

  • Barth, Bernd-Rainer: „Heilig, Bruno“. In: Biographische Datenbank der Bundesstiftung Aufarbeitung. Online: http://bundesstiftung-aufarbeitung.de/wer-war-wer-in-der-ddr-%2363%3B-1424.html?ID=1294 (Stand: 11.09.2019).
  • Heilig, Bruno: Men crucified. Eyre & Spottiswoode. London 1941.
  • Heilig, Bruno: Menschen am Kreuz. Berlin 1947.
  • Heilig, Bruno: Dlouhý pochod. Státní Nakl. Dětské Knihy. Prag 1953.
  • Heilig, Bruno: Dlhý pochod. Slovenské Nakl. Detskej Knihy. Bratislava 1954.
  • „Fragebogen und Lebenslauf“. In: Landesarchiv Berlin, C Rep. 118-01, Signatur 13707, o. Bl.
  • o.A.: „Heilig, Bruno“. In: Österreichische Nationalbibliothek (Hg.): Handbuch österreichischer Autorinnen und Autoren jüdischer Herkunft 18. bis 20. Jahrhundert. Bd. 1. München 2002, S. 518.
  • Reiter, Andrea: „Die autobiographischen Berichte ehemaliger Konzentrationslagerhäftlinge im Englischen Exil. Bruno Heilig, Ella Lingens, Kitty Hart“. In: Zeitgeschichte (1992), Nr. 19, H. 5/6, S. 172-186.
  • Reiter, Andrea: „Auf dass sie entsteigen der Dunkelheit“. Die literarische Bewältigung von KZ-Erfahrungen. Wien 1995, S. 278.
  • Unbekannter Autor: „Bruno Heilig“. In: Bruno Heilig: Menschen am Kreuz. Dachau – Buchenwald. Hg. von Richard Pils. Weitra 2002, S. 261-264.


Werkgeschichte

Bruno Heilig beschreibt sein Vorgehen bei der Publikation in seinem „Vorwort des Verfassers“: „Dieses Buch enthält eine Anzahl der Aufsätze, die ich in den letzten Jahren über das Schicksal der Juden geschrieben habe. Sie sind im „Wiener Tag“, im „Wiener Montagsblatt“ „Der Morgen“ und in der Wiener zionistischen Zeitschrift „Die Stimme“ erschienen“ (S. 4). Die Artikel waren in den genannten Zeitungen zwischen 1935 und 1936 publiziert worden und wurden für die einmalige Publikation als Buch in chronologischer Reihenfolge ihres Erscheinens sortiert. Die Sammlung könne daher „als Tagebuch gelten“ (S. 6), so Heilig.

Quelle:

  • Heilig, Bruno: Nicht nur die Juden geht es an. Wien 1936.



Bearbeitet von: Christiane Weber