Oranienburg (1934)

Aus Frühe Texte der Holocaust- und Lagerliteratur 1933 bis 1949
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Angaben zum Werk

Titel Oranienburg
Autor Seger, Gerhart (1896-1967)
Genre Erinnerungsbericht

Ausgaben des Werks

Ausgabe von 1934, Karlovy Vary
Titel Oranienburg
Untertitel Erster authentischer Bericht eines aus dem Konzentrationslager Geflüchteten

Erscheinungsort Karlovy Vary
Erscheinungsjahr 1934

Verlegt von Verlagsanstalt Graphia

Publiziert von Seger, Gerhart (1896-1967)

Umfang 76 Seiten

Bibliotheksnachweise UBGI-icon.gif UB Gießen (Print-dnb-icon.gif gedruckte Ausgabe)
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DNB-icon.gif Deutsche Nationalbibliothek (Online-dnb-icon.gif elektronische Ausgabe)


Zusammenfassung

Die Broschüre des ehemaligen Reichstagsabgeordneten Gerhart Seger ist der erste selbstständig publizierte Erinnerungsbericht über das Konzentrationslager Oranienburg. Eingehend schildert Seger den Lageralltag und die Misshandlungen durch das Wachpersonal. Seger stellt seinen Ausführungen eine Eidesformel voran, die an den Schwur vor Gericht erinnert, um so den Authentizitätscharakter des Dargestellten zu unterstreichen: „Ich schwöre, dass ich nach bestem Wissen und Gewissen die reine Wahrheit sagen, nichts verschweigen und nichts hinzusetzen werde“ (o.S.). Bei seiner detailreichen und um Sachlichkeit bemühten Schilderung bedient sich Seger spannungssteigernder Erzählmittel und verwendet wörtliche Rede. Seger beginnt seinen Bericht unvermittelt mit der Verlegung vom Gefängnis in das Konzentrationslager Oranienburg, was am hellichten Tage vor den Augen der Öffentlichkeit geschieht, die daran schon gewöhnt zu sein scheint. Anfangs herrschen im Lager provisorische Zustände, Betten müssen etwa erst noch gebaut werden. Noch bevor Seger aber auf den Alltag der Häftlinge zu sprechen kommt, berichtet er von Folter und Misshandlungen, die den stärksten Eindruck hinterlassen und ihm charakteristisch für die KZ scheinen. Dass diese Zustände zur Zeit seines Schreibens nach der Entlassung weiter andauern, betont er mehrfach. Seger legt großen Wert darauf, die Namen der Peiniger und ihre jeweiligen Taten ebenso festzuhalten wie die Namen der Opfer und deren Schicksal.

Den Alltag der Häftlinge in Oranienburg sieht Seger vor allem durch die schwere Arbeit unter fortgesetzter Gewalt durch die Aufseher geprägt. Ein Häftling in Oranienburg sei nicht nur ein in seiner Freiheit beschränkter politischer Gefangener: „O nein, ein Insasse des Konzentrationslagers Oranienburg ist vielmehr ein Galeerensträfling, der selbstverständlich von morgens bis abends arbeiten muß“ (S. 22). Anfangs arbeiten sie beim Lagerauf- und -ausbau, später bei Forstarbeiten und im Straßenbau. Sowohl den Tätern als auch den Häftlingen Oranienburgs, die im gesamten Text stark präsent sind, widmet Segers jeweils eigene Kapitel. Im Mittelpunkt stehen bei den Tätern einzelne Personen wie der Lagerkommandant Werner Schäfer oder ein Sturmbannführer Krüger, die Seger meist als subalterne und hasserfüllte Sadisten charakterisiert. In späteren Kapiteln schildert er die Zusammensetzung und Herkunft der SA im Lager, die er als verlorene Generation bezeichnet, die fast nur Arbeitslosigkeit kennengelernt habe. Um Objektivität bemüht, vergisst Seger nicht, auch auf einzelne anständige SA-Männer hinzuweisen, die jedoch eine Ausnahme in der ansonsten von Korruption, Willkür und Brutalität geprägten Wachmannschaft gewesen seien.

In dem Kapitel „Die Gefangenen des Lagers“ geht Seger weniger auf einzelne Häftlinge, als vielmehr auf ihre Zusammensetzung und Situation insgesamt ein: Nachdem anfangs vor allem Kommunisten nach Oranienburg gekommen seien, seien nun auch viele Sozialdemokraten, einzelne bürgerliche Politiker und auch Kriminelle dort inhaftiert. Durch diese heterogene Zusammensetzung wolle man bewusst ein höheres Maß an Solidarität verhindern. Dem steht auch der von Seger festgestellte im Lager weiter bestehende und ausgetragene politische Gegensatz zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten entgegen. In weiteren Kapiteln geht er schließlich auf einzelne prominente Häftlinge wie Friedrich Ebert, Ernst Heilmann und führende Funktionäre des Rundfunks ein, deren Einlieferung ins Lager er miterlebt. Mit seiner Schilderung möchte er der übertriebenen Darstellung in der NS-Presse eine eigene, authentische Version entgegenstellen.

Indem Seger vor der Schilderung seiner Flucht von den „Steinsärgen von Oranienburg“ (S. 61), den Dunkelarrestzellen und Stehzellen, berichtet, greift er den Anfang wieder auf und rahmt seine Erinnerungen an Oranienburg mit der Beschreibung von Folter und Misshandlungen. Eindringlich wendet er sich am Ende dieses Kapitels an die Leserschaft: „Und nun bitte ich den Leser, sich all das vom Oranienburger Lager Geschilderte noch einmal vorzustellen, um es mit dem entscheidenden Gedanken zu verbinden, den allerdings zu Ende zu denken beinahe unmöglich ist: alles, was uns im Oranienburger Lager geschah und was noch geschieht, wird unschuldigen Menschen, im Sinne des Gesetzes unschuldigen Menschen zugefügt! […] Aber nicht nur diesen wahrhaft grauenerregenden Gedanken […] muß der Leser sich vor Augen führen, sondern auch einen zweiten, nicht minder entsetzlichen Gedanken: was hier wahrheitsgemäß geschildert worden ist, sind Einrichtungen und Ereignisse aus einem einzigen Konzentrationslager in Deutschland, nur aus einem“ (S. 64).


Biografie

Gerhart Seger (geb. 16.11.1896 in Leipzig, gest. 21.01.1967 in New York/USA) wuchs in einem sozialdemokratischen Elternhaus in Leipzig auf. Sein Vater war Redakteur der SPD-Zeitung „Leipziger Volkszeitung“, Mitglied der Nationalversammlung in Weimar und bis 1928 Reichstagsabgeordneter. Nach dem Besuch der Volksschule absolvierte Seger eine Ausbildung zum Steindrucker. Er war bereits in der sozialdemokratischen Jugendbewegung aktiv und folgte seinem Vater 1917 in die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD). Nach dem Ersten Weltkrieg begann er ein Studium der Zeitungskunde und Kulturgeschichte. Anfang der zwanziger Jahre arbeitete er als Redakteur für „Die Freiheit“ in Berlin. 1922 wurde Seger Mitglied der SPD, im Jahr darauf Generalsekretär der Deutschen Friedensgesellschaft (DFG). Ab 1928 arbeitete er wieder hauptberuflich als Journalist in Dessau. Seger veröffentlichte in den zwanziger Jahren einige Bücher zur Bildungsarbeit in der Arbeiterbewegung sowie zu politischen Fragen wie einer Neutralität Deutschlands oder der wehrhaften Demokratie. 1930 zog Seger als Abgeordneter der SPD für Dessau in den Reichstag ein und engagierte sich in den folgenden Jahren vehement gegen den erstarkenden Nationalsozialismus. Unter anderem leitete er in Dessau die Eiserne Front, in der sich das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, Gewerkschaften und SPD zum Kampf gegen den Nationalsozialismus zusammengeschlossen hatten.

Seger wurde am 12. März 1933 in Leipzig verhaftet und verbrachte daraufhin mehrere Monate im Dessauer Gerichtsgefängnis in Einzelhaft. Am 14. Juni 1933 wurde er in das Konzentrationslager Oranienburg gebracht. Wenige Monate später, am 4. Dezember, floh Seger von einem Außenkommando und konnte sich in die Tschechoslowakei retten, wo er zunächst Unterkunft in Prag fand. Am 19. Januar 1934 verhaftete die Gestapo Segers Frau Elisabeth und ihre Tochter Renate und hielt sie als Geiseln in ‚Erzwingungshaft‘ im Konzentrationslager Roßlau gefangen. Nach internationalen Protesten, vor allem aus Großbritannien, wurden die beiden am 19. Mai 1934 entlassen und durften ausreisen. Monatelang ging Seger auf Vortragsreise durch Europa und klärte über die Verbrechen des NS-Regimes auf. Im Oktober 1934 emigrierte die Familie in die USA, im November verlor Seger die deutsche Staatsbürgerschaft.

1935 wurde Gerhart Seger in New York Chefredakteur der dortigen „Neuen Volks-Zeitung“, 1941 zudem Vorsitzender des „German-American Council for the Liberation of Germany from Nazism“. Überdies war er in weiteren antinazistischen Organisationen aktiv. In den Vereinigten Staaten war er während des Kriegs und danach vor allem auch als umtriebiger Vortragsredner bekannt, der im ganzen Land mehrere tausend Vorträge hielt. In Amerika setzte er auch seine publizistische Tätigkeit fort.

Quellen:

  • o.A.:„Biographie Gerhart Seger“. In: Gedenkstätte Deutscher Widerstand. Online: https://www.gdw-berlin.de/vertiefung/biografien/personenverzeichnis/biografie/view-bio/gerhart-seger/?no_cache=1 (Stand: 19.09.2019).
  • o.A.:„Das gefangene Kind. Wirkung des Falles Seger in England“. In: Neuer Vorwärts vom 20.05.1934, S. 1.
  • o.A.:„Genosse Gerhart Seger frei! Flucht aus der Hölle von Oranienburg“. In: Neuer Vorwärts vom 28.01.1934.
  • o.A.:„Frau und Kind Segers gefangen.“ In: Neuer Vorwärts vom 25.03.1934, S. 1.
  • Sagner, Reinhard: Gerhard Seger und Familie 1933 bis 1934. Mechanismen des Terrors. Dessau 2014.
  • Seger, Gerhart: Reisetagebuch eines deutschen Emigranten. Zürich 1936.


Werkgeschichte

Den Erinnerungsbericht an seine Zeit im Konzentrationslager Oranienburg vom Juni bis Dezember 1933 schrieb Gerhart Seger nach seiner Flucht nach Prag im Dezember 1933 und Januar 1934. Seine Erinnerungen erschienen im sozialdemokratischen Graphia Verlag und wurden über die Auslandsorganisation der SPD auch nach Deutschland geschmuggelt, unter anderem auch als Tarnschrift verborgen in dem Werk „Das Gesetz zur Ordnung der Nationalen Arbeit“ (darin S. 13-44 und S. 50-76). Der Bericht wurde ins Englische, Französische, Norwegische, Dänische, Niederländische und in weitere Sprachen übersetzt und erregte international großes Aufsehen. Er machte das Konzentrationslager Oranienburg zu einem der bekanntesten Lager. In zahlreichen Veranstaltungen in Frankreich, Großbritannien, Belgien, der Schweiz, Norwegen und weiteren Ländern berichtete Seger von seiner KZ-Haft und rief zum Kampf gegen das NS-Regime auf. Vermutlich erreichten das deutschsprachige Original und die Übersetzungen eine Auflage von mehreren hunderttausend. Seger schickte Exemplare des Typoskripts an die deutsche Justiz mit der Bitte, die Schilderungen als Strafanzeige zu behandeln. Daraufhin wurden seine Frau und seine Tochter verhaftet.

Der weit verbreitete Bericht hatte eine ungewöhnliche Reaktion aus Deutschland zur Folge: Der Lagerkommandant Oranienburgs, Werner Schäfer, veröffentlichte daraufhin selbst ein Buch über Oranienburg, das voll von Propagandalügen war und der Darstellung Segers etwas entgegensetzen sollte. Segers Schilderungen wurden auch von Anna Seghers für ihren Roman „Das siebte Kreuz“ verarbeitet. Vor allem Passagen über die kommunistischen Häftlinge und die fortbestehenden politischen Gegensätze zwischen diesen und den inhaftierten Sozialdemokraten stießen auf Widerspruch. In einem Vorwort zu der 1935 anonym in Moskau veröffentlichten Broschüre „Als sozialdemokratischer Arbeiter im Konzentrationslager Papenburg“ schreibt Willi Bredel über Segers Publikation, sie sei „ein Attentat auf die proletarische Solidarität, sie strotzt vor Entstellungen und niedrigen Angriffen auf die kommunistischen Gefangenen“ (S. 4). Der anonyme Autor selbst wirft Seger vor, er gebe vor, von kommunistischen Gefangenen geschlagen worden zu sein. Tatsächlich aber seien dies Häftlinge gewesen, die wegen Landstreicherei oder Trunksucht im Lager einsaßen. Seger wolle so „die Einheitsfront der Arbeiter in den Konzentrationslagern und außerhalb […] brechen“ (S. 40).

Quellen:

  • „Einleitende Bemerkung“. In: A. Diekmann, Irene und Klaus Wetting (Hg.): Konzentrationslager Oranienburg. Augenzeugenberichte aus dem Jahre 1933. Gerhart Seger, Reichstagsabgeordneter der SPD. Max Abraham, Prediger aus Rathenow. Potsdam 2003, S. 11-13.
  • o.A.: Als sozialdemokratischer Arbeiter im Konzentrationslager Papenburg. Moskau/Leningrad 1935.



Bearbeitet von: Markus Roth