Streiflichter aus Hinzert, Natzweiler, Buchenwald (1945)

Aus Frühe Texte der Holocaust- und Lagerliteratur 1933 bis 1949
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Angaben zum Werk

Titel Streiflichter aus Hinzert, Natzweiler, Buchenwald
Autor Biermann, Pierre (1901-1981)
Genre Erinnerungsbericht

Ausgaben des Werks

Ausgabe von 1945, Luxemburg
Titel Streiflichter aus Hinzert, Natzweiler, Buchenwald

Erscheinungsort Luxemburg
Erscheinungsjahr 1945
Auflage 1
Auflagen insgesamt 2

Verlegt von Verlag der „Volksstimme“

Publiziert von Biermann, Pierre (1901-1981)

Umfang 45 Seiten

Bibliotheksnachweise DNB-icon.gif Deutsche Nationalbibliothek (Print-dnb-icon.gif gedruckte Ausgabe)
DNB-icon.gif Deutsche Nationalbibliothek (Online-dnb-icon.gif elektronische Ausgabe)


Zusammenfassung

Der politische Gefangene Pierre Biermann aus Luxemburg beschreibt in seiner schmalen Broschüre „streiflichtartig[e] […] Einzelszenen“ (S. 3) aus den Lagern Hinzert, Natzweiler und Buchenwald, in denen er von 1941 bis 1945 inhaftiert gewesen ist. Mit der Thematisierung alltäglicher Erlebnisse möchte er „einen, wenn auch nur matten Einblick in das Leben und Getriebe der Einrichtung geben“ (ebd.).

In seiner Vorbemerkung geht Biermann bereits auf andere Texte über den Holocaust ein und stellt 1945 fest, dass es eine „Flut von Literatur“ (ebd.) über Konzentrationslager geben werde; er selbst wolle keinen umfassenden Bericht ablegen, sondern lediglich einzelne Episoden schildern. Er wolle auf „Langatmigkeit“ (S. 4) verzichten und „aus der ganzen Fülle nur ein[en] einzelne[n] charakteristiche[n] Zug“ (ebd.) mitteilen. Dieses Vorhaben beginnt er mit der nur wenige Seiten umfassenden Schilderung eines Erlebnisses in Hinzert, wo er als Pfleger im Krankenrevier angestellt ist. Das dortige Konzentrationslager hat für luxemburgische Leser, an die sich Biermann speziell wendet, eine besondere Bedeutung, da zahlreiche Luxemburger nach Hinzert deportiert wurden. Biermann baut daher mit seinen Darstellungen auf dem vorhandenen Wissen auf und rekapituliert aus der Ich-Perspektive wichtige Aspekte des Lagers nur kurz. Stattdessen schildert er eine Szene, wie in Hinzert ein betrunkener SS-Oberscharführer nachts die Kranken unter Geschrei aus den Betten holt und sie zum Bodenschrubben einteilt, letztendlich aber vor der Arbeit wieder zurückgehen lässt. Dass die Kranken vor Schreck in die Betten machen, erfreut den SS-Arzt am nächsten Morgen. Biermann selbst sieht das Positive darin, denn der Arzt lässt sie daraufhin in Ruhe. Salopp schreibt er: „Woraus zu ersehen ist, dass im K.L. wie überall im Leben auch das Schlimmste seine guten Seiten hat“ (S. 7).

Die nächste Episode findet im Sommer 1943 in Natzweiler statt, Biermanns zweiter Station in deutschen Konzentrationslagern. Biermann beschreibt die Ankunft eines „N.N.-Transports“ (S. 10) – einer Gruppe von französischen Widerstandskämpfern, die im Rahmen der ‚Nacht- und Nebelaktion‘ verhaftet worden sind – und deren brutale Behandlung im Lager durch Wachen und Kapos. Biermann nimmt sie bereits zu Anfang als ein „Knäuel blutender, schreiender, übereinander stolpernder und kriechender, aus tiefen Kopfwunden blutender Gestalten“ (ebd.) wahr. Die erste entscheidende Szene spielt sich bei der Abgabe der Wertsachen ab: In Natzweiler hat die SS besonders viele Kapos eingesetzt, die der Häftlingskategorie der ‚Berufsverbrecher‘ angehören. Diese zeichnen sich, so Biermann, bei dem Aufnahmeprozedere im Zugangsblock durch heftige Brutalität aus. Ebenso wie die anwesenden SS-Männer versuchen sie, sich an den Wertsachen der Neuankömmlinge zu bereichern. Alles im Lager ist auf den Tod der französischen Häftlinge ausgerichtet: Sie müssen brutale Zwangsarbeit im Steinbruch leisten, Verletzte dürfen nicht behandelt werden, sie erhalten keine Nahrung, werden von den übrigen Gefangenen separiert und „oft tanzte und sprang [ein Kapo] ihnen auf Brust und Bauch herum und blickte ihnen dabei gespannt ins Gesicht, um sich an ihrem Todeskampf zu weiden“ (S. 19). Biermann ist entsetzt über die körperlichen Folgen, die Ödeme, den Gestank: „Was wir da sahen ist so schrecklich, dass man es kaum wiedergeben kann“ (ebd.).

Abschließend beschreibt Biermann die „letzten Tage von Buchenwald“ (S. 27), ein Bericht, der – wie er selbst betont – von der „illegalen Häftlings-Lagerleitung von Buchenwald […] gebilligt worden“ (ebd.) sei. In Buchenwald, wohin Biermann im August 1943 verlegt wird, sei die Situation besser gewesen als in Natzweiler, weil dort politische Häftlinge in wichtigen Positionen eingesetzt sind. Biermann spricht in diesem Kapitel oft von „wir alle“ (S. 29) und betont so die Zusammenarbeit der Widerstandskräfte im Lager Buchenwald. Er stellt die Vorbereitungen der illegalen Häftlingskomitees im Vorfeld der Befreiung des Lagers ins Zentrum seiner Schilderung. Biermann selbst ist „verantwortlicher Vertrauensmann“ (S. 33), der als Verbindung zwischen den Luxemburger Häftlingen und der Häftlingslagerleitung steht. Die „stark organisierte Masse“ (ebd.) der Häftlinge beginnt zunächst, so schildert es Biermann, mit zivilem Ungehorsam, um die Deportation der jüdischen Häftlinge zu verhindern: Die Häftlinge, die auf Todesmärsche geschickt werden sollen, verstecken sich mithilfe der anderen Häftlinge im Lager und stellen sich nicht. Es wird auch deutlich, wie unsicher die Situation ist, da niemand weiß, welche Entscheidungen ein Leben retten oder kosten können. Daher bereiten sich die Häftlinge auch auf die Möglichkeit vor zu sterben, versuchen aber solidarisch bis zur Befreiung des Lagers durch amerikanische Truppen die Hoffnung am Leben zu halten. Biermann betont, dass die politischen Kader ihren Teil zur Befreiung beigetragen haben, indem sie zum Beispiel das Haupttor besetzt, Kuriere aus dem Lager geschmuggelt und SS-Männer festgenommen haben. Auch organisierten sie den ersten „Freiheitsappell“ (S. 44). Den Überlebenden stellt Biermann die Aufgabe, „zum neuen Kampf gegen den Faschismus [anzutreten]“ (S. 45).

Biermann beschreibt die Erlebnisse sehr drastisch. So seien Häftlinge „Freiwild, das zu Tode zu hetzen sei“ (S. 10), wobei er hier den Jargon der SS-Wachen wiedergibt. Er nutzt viele Adjektive und schont den Leser nicht bei seinen Beschreibungen. So heißt es zum Beispiel über die Zwangsarbeit in Natzweiler: „Rechts purzelte die eine Gruppe unter wildem Hundegekläff die Abhänge hinunter, links stolperten die anderen hoch. Dutzende lagen bereits blutüberströmt und meist regungslos am Wege; an den verzerrten Gesichtern der andern und den grossrunden [sic!], todesbangen Augen konnte man schon ermessen, dass sie am Ende ihrer Kräfte waren“ (S. 16). Er legt ebenso Wert auf eine unmittelbare Schilderung, die nicht vorgreift und den Leser an den Moment bindet. Besonders Biermanns Beschreibung der letzten Tage des Lagers Buchenwald gleicht einem spannenden Abenteuer- oder heldenhaften Kriegsroman. An einigen Stellen verfällt er in Pathos, wenn er etwa schreibt, dass das tapfere Verhalten einiger französischer Gefangener dem „ältesten Lagerhasen eine Träne und einen Ausruf der Bewunderung ab[nötige]“ (S. 17). In diesem Zusammenhang betont er immer wieder die Solidarität der einzelnen Häftlingsgruppen und Nationalitäten untereinander; nur die ‚grünen‘ Kapos, also jene, die als ‚Berufsverbrecher‘ interniert sind, werden klar negativ charakterisiert. In anderen Passagen berichtet er teilweise zynisch etwa von „Regiefehler[n]“ (S. 22) bei fingierten Fluchtversuchen.


Biografie

Pierre Biermann (geb. 08.04.1901 in Grevenmacher, gest. 19.09.1981 in Luxemburg), für den sich in den erhaltenen Gestapo-Unterlagen auch der Vorname Peter findet, arbeitete zunächst als Lehrer an einem reformpädagogischen Erziehungsheim in Jena, kehrte dann aber nach Luxemburg zurück. Dort unterrichtete er nach seinem Referendariat Latein, Philosophie und Geschichte an einer weiterführenden Schule. Er trat offen gegen die nationalsozialistische Politik ein und wurde dafür 1941 nach Düsseldorf strafversetzt; auch andere Schikanen von offizieller Seiten war er zuvor ausgesetzt. In Trier wurde Biermann festgenommen und zunächst in das Konzentrationslager Hinzert, dann nach Natzweiler und im August 1943 schließlich nach Buchenwald gebracht, wo er bei Kriegsende befreit wurde. In Buchenwald war er als Verbindungsmann der illegalen Lagerleitung aktiv.

Nach seiner Befreiung verbrachte Biermann zunächst im Auftrag der luxemburgischen Regierung ein Jahr in Genf bei einem Kurs an der École Internationale, kehrte dann aber nach Luxemburg zurück und unterrichtete an seiner alten Schule. 1956 trat Biermann, nachdem er zuvor lange für die kommunistische „Zeitung vum Lëtzeburger Vollek“ geschrieben hatte, aus der Kommunistischen Partei aus, da er die politischen Reaktionen auf den Ungarn-Aufstand nicht billigte. Er wandte sich stattdessen dem Pazifismus und der Lösung des Nahostkonflikts zu und gründete hierfür unter anderem das „Mouvement national pour la paix“.

Neben seiner Lehrtätigkeit verfasste Biermann zahlreiche Artikel und Bücher teilweise auch unter Pseudonymen wie Peter Forsch, Graukopf, Ernst Morning, Thomas Scharff oder N. Stich. Thematisch behandelten diese die Reformpädagogik und die Geschichte Luxemburgs. Aber auch zeitgeschichtlichen und politischen Entwicklungen trug er als Autor in der linksgerichteten Zeitschrift „Die neue Zeit“ Rechnung und engagierte sich unter anderem für die Wiedereinstellung von Lehrern, die wegen ihrer kommunistischen Gesinnung aus dem Schuldienst entlassen worden waren.

Quellen:


Werkgeschichte

Das Buch wurde 1950 – so das Schätzdatum der Deutschen Nationalbibliothek – noch einmal im Luxemburger Verlag der „Volksstimme“ verlegt.

Quelle:

  • Deutsche Nationalbibliothek. Online: 572398883 (Stand: 10.09.2019).



Bearbeitet von: Christiane Weber