Tagebuch aus der Gefangenschaft (1944)

Aus Frühe Texte der Holocaust- und Lagerliteratur 1933 bis 1949
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Angaben zum Werk

Titel Tagebuch aus der Gefangenschaft
Autor Pury, Roland de (1907-1979)
Genre Tagebuch

Ausgaben des Werks

Ausgabe von 1944, Zürich
Titel Tagebuch aus der Gefangenschaft

Erscheinungsort Zürich
Erscheinungsjahr 1944
Auflage 2

Verlegt von Evangelischer Verlag AG
Gedruckt von Buchdruckerei Effingerhof AG
Publiziert von Pury, Roland de (1907-1979)

Umfang 116 Seiten

Bibliotheksnachweise UBGI-icon.gif UB Gießen (Print-dnb-icon.gif gedruckte Ausgabe)
DNB-icon.gif Deutsche Nationalbibliothek (Print-dnb-icon.gif gedruckte Ausgabe)


Zusammenfassung

Bei dem noch zu Kriegszeiten erschienenen Tagebuch von Roland de Pury handelt es sich um eine reflektierte Analyse des Haftalltags in Fort Montluc, einem Gefängnis im französischen Lyon. Fünf Monate saß de Pury dort ein, erlebte die Monotonie des Alltags und – für ihn als Pfarrer – die heilende Kraft des Glaubens.

Sprachlich merkt man de Pury die Erfahrung des Predigers an: Religiösen Traktaten gleich – teilweise mit Überschriften wie „Über die Nähe des Gottesreiches“ (S. 58) – wirken die Tagebucheinträge wie adjektivreiche Predigten voller Bildsprache, zahlreicher Metaphern, Leseransprachen, Bibelzitaten, Ausrufe- und Fragezeichen sowie Anspielungen auf religiöse und mythologische Figuren. Nicht das Festhalten von äußeren Faktoren wie beispielweise der Tagesablauf steht im Vordergrund, vielmehr ist die Reflexion über das (eigene) Innenleben und die Möglichkeiten, das Erfahrene zu verarbeiten, entscheidend. De Pury versucht, im gesamten Tagebuch durch stete Wiederholungen und sprachliche Präzisierungen seinen Worten Nachdruck zu verleihen: „um die Stimme meiner Kameraden zu sein, der Schrei aller jener, die man nicht hören kann, der Ruf dieses einsamen und bekannten Kämpfers. Ich möchte nichts anderes sein als die Stimme des unbekannten Gefangenen, irgend eines Menschen, hinter dem sich eine Tür geschlossen hat, – ich möchte fast sagen die Stimme irgend eines unter uns, die unbekannte Stimme des Verdammten, wie wir alle es sind“ (S. 20). Dabei ist de Pury in seinem Tagebuch wortgewaltig: „Es ist nicht mehr die Furcht und die Angst von gestern Abend, sondern die Verzweiflung, die den Damm durchbricht und sich unwiderstehlich ins Tal meines Herzens ergießt, um alle lebendigen Kräfte, alle Stimmen des Lebens zu überspülen“ (S. 40). Die allgegenwärtige Verzweiflung vergleicht er beispielsweise auch mit einer hundertköpfigen Hydra (S. 60).

Roland de Pury thematisiert an verschiedenen Stellen, wie wichtig die Möglichkeit des Schreibens für ihn als Häftling ist. Dabei verfasst er neben seinem Tagebuch auch theologische Bibelauslegungen. In vielen seiner Tagebucheinträge nimmt er darauf Bezug, wie er die Schreibutensilien erhalten hat, wie er sie vor den Wachmännern verstecken muss und welche Gefahr der Besitz eines einzelnen Stiftes für einen Häftling bedeuten kann. Dennoch bietet das Schreiben ihm ebenso wie von Fürbitten Halten und das Lesen der Bibel eine Struktur im ansonsten monotonen und einsamen Gefängnistag. Generell sind für ihn als Pfarrer der Glaube, die religiöse Gemeinschaft und die Bibel die wichtigsten Mittel zum Überleben. Über den Erhalt der Bibel nur wenige Tage nach seiner Festnahme jubiliert er: „Unglaublich, die Ankunft dieser Bibel! Ich tanze vor Freude in meiner Zelle. Ich rufe ‚Danke‘. Mein Herz ist ein einziger Jubelgesang der Dankbarkeit. Alles wird von jetzt an anders sein“ (S. 44). Doch an besonders schweren Tagen schleichen sich auch bei ihm Zweifel ein und er durchlebt Krisen, wenn Willkür und Hoffnungslosigkeit den Gefangenen erfassen; dann werden die Tagebucheinträge auffallend kürzer. Dennoch ist das Buch – wie es im Klappentext beworben wird – ein „Glaubensbekenntnis, das hebt und wahrhaft tröstet“. Seine Tagebucheinträge machen deutlich, dass besonders die Trennung von seiner Familie und Gemeinde de Pury in seiner Haft hart trifft; oft überlegt er, was seine Kinder oder seine Frau im selben Moment machen. Jedes Lebenszeichen von seiner Frau gibt ihm daher neue Hoffnung.

In seinem Text wählt de Pury eine Erzählperspektive, die für ein Tagebuch ungewöhnlich ist: Auffallend häufig benutzt er die verallgemeinernde Form des Erzählens, d.h. er spricht nicht von sich selbst, sondern von den Erfahrungen „des Häftlings“ („er“ oder auch „man“) im Allgemeinen. De Pury wählt hier die Sicht des auktorialen Erzählers, wenn er das Innen- und Außenleben eines Häftlings beschreibt: „Betrachten wir ihn für einige Augenblicke: Er sitzt auf dem Strohsack. Er hat eben seine Suppe gegessen. Während der zehn Minuten seiner Mahlzeit hat er vergessen zu leiden, denn er hatte Hunger und die Suppe war gut“ (S. 12). So erhält sein Text eine Form der Allgemeingültigkeit. Kommt de Pury auf sich selbst zu sprechen, charakterisiert er sich als tief gläubigen Menschen, der dem Tod ebenso nah war, wie der Soldat im Krieg.

De Pury schildert seine Freilassung – deren glückliches Ende er später mit der Auferstehung Jesu vergleicht – und seine Angst dabei minutiös und spannend: „Die Schritte kommen näher; man kommt, man kommt … Nein, es ist für eine andre Tür“ (S. 108). Allerdings wird sich de Pury während des Zusammentreffens mit anderen Austauschhäftlingen kurz vor seiner Freilassung in die Schweiz bewusst, welch privilegierte Stellung er eingenommen hatte, da er erstens vergleichsweise kurz in Haft saß, und zweitens nicht selbst Opfer von Folter, Gewalt oder Bunkerhaft geworden war. Dennoch publizierte er sein Tagebuch, um „in Erinnerung zu rufen, daß diese nicht mehr zu zählenden Mengen sich aus Menschen zusammensetzen, von denen jeder Einzelne leidet als wäre er allein auf dieser Welt“ (S. 5).

Dem eigentlichen Tagebuchtext ist neben einem Vorwort noch eine längere theologisch-psychologische Abhandlung mit dem Titel „Standhalten“ über die Rolle des Glaubens für verfolgte Christen vorangestellt. Auch dort wird der Leser direkt angesprochen und in das Geschehen eingebunden: „So versucht nun in eine Zelle einzutreten und euch für einige Sekunden das Unglück vorzustellen, das ein Gefangener während Tausenden von Stunden erleidet“ (S. 9). Das Leid, die Enge der Zelle, die Wanzen und die Verzweiflung werden so teilweise zum Greifen nah spürbar. Nicht das körperliche Leid steht dabei im Vordergrund, sondern das seelische Elend im Umgang mit der Hoffnungslosigkeit. So wie Gott seinen eigenen Sohn leiden ließ, lässt er nun den Häftling leiden, jedoch sei er bei ihm in der Zelle im Glauben und im Gebet. Gerade durch die Haftzeit könne der Christ lernen, demütig und dankbar Fürbitte zu halten, um alles, was mit ihm geschieht, „an[zu]nehmen aus Gottes Hand“ (S. 26). Die Religion durchdringt den ganzen Text und so stellt de Pury in seinem Tagebuch auch die in der Haft gültigen Zehn Gebote vor, die er mit einem Mithäftling verfasst hat: „Ich bin der Herr, dein Feind, der ich dich in das Haus der Knechtschaft eingeführt habe, in den Friedhof der Lebenden. Du sollst keine andere Stimme als die meinige hören. Du sollst keinen andern Raum haben als deine Zelle. Du sollst nicht wissen, wie lange du hier bist. Du sollst nichts lesen. Du sollst nichts schreiben. Du sollst nichts tun. Du sollst nicht singen, du sollst nicht pfeifen, du sollst nicht rauchen. Du sollst keine Nachrichten erhalten, weder aus dem Kreis der Deinigen noch aus der Welt. Du sollst den Deinigen keine Nachricht geben“ (S. 84).


Biografie

Roland de Pury (geb. 15.11.1907 in Genf, gest. 29.01.1979 in Aix-en-Provence) war als evangelischer Pfarrer in Lyon und als Verfasser verschiedener religiöser und gesellschaftlicher Schriften zu Beginn des Krieges eine prominente Person. Der in Neuchâtel aufgewachsene de Pury studierte zunächst in Paris Theologie und später in Deutschland u.a. bei Karl Barth. Nach Stationen in Westfrankreich lebte er mit seiner Frau und seinen seinerzeit sechs Kindern in Lyon. Dort wurde er am 30. Mai 1943 verhaftet – wie nicht nur seine Erzählungen sondern auch die überlieferten Dokumente belegen – kurz bevor er im Talar die Kanzel zum Gottesdienst betreten wollte. Er wurde für fünf Monate in Fort Moncoutant in Lyon inhaftiert. Von deutscher Seite aus wurde ihm vorgeworfen, mit Personen in Kontakt gestanden zu haben, die sich „gegen die Belange des Deutschen Reiches und der Besatzungsmacht schwerstens vergangen“ haben (Schreiben Dr. Krug von Nidda, Vichy, 5. Juni 1943, Nationalarchiv Bern, Dossier: de Pury, Roland; Signatur: E 2200.42-01). De Pury war ein bekannter Gegner einer Kollaboration mit den Deutschen und half Juden in Lyon sich zu verstecken bzw. zu fliehen. Dafür wurde ihm und seiner Frau 1976 die Ehrung in der „Allee der Gerechten unter den Völkern“ in Yad Vashem zuteil. Überlieferte Dokumente im Schweizer Nationalarchiv Bern weisen nach, dass sich mehre Seiten für die Freilassung de Purys einsetzen: der Präsident des Schweizer Evangelischen Kirchenbunds, von staatlicher Seite der Schweizer Gesandte in Vichy und nicht zuletzt seine Ehefrau Jacqueline und die Kirchengemeinde von Lyon. Nach der Intervention des Eidgenössischen Politischen Departments wurde de Pury auf die Liste der Austauschhäftlinge gesetzt. Im Austausch gegen deutsche Spione, die in der Schweiz festgenommen worden waren, kam er am 28. Oktober 1944 in der Schweiz an. Nach seiner Befreiung blieb de Pury im christlichen Widerstand aktiv, wofür er im September 1945 die Médaille de la Résistance erhielt. Den ersten Vortrag über seine Erlebnisse hielt er bereits am 5. Dezember 1943 im Schweizerischen Saint-Blaise – weitere folgten vor großem Publikum. Auch verfasste er weitere Bücher und Artikel etwa für „Le Monde“ in den 1950er Jahren. In den Folgejahren engagierte er sich weiterhin für gesellschaftliche Themen wie den Algerienkonflikt oder die Teilung Deutschlands. 1956 entschied sich de Pury für eine neue Berufung und wurde Dozent für Theologie in Kamerun und Madagaskar. Nach seiner Rückkehr 1965 war er bis zu seiner Pensionierung als Pfarrer aktiv. Am 29. Januar 1979 erlitt er auf dem Heimweg von einem Vortrag einen Gehirnschlag, an dem er starb.

Quellen:

  • „Dossier: De Pury, Roland, 1907, Pasteur de l’Eglise réformée etc.“. In: Nationalarchiv Bern, Signatur E 2200.16-02.
  • „Dossier: De Pury, Roland“. In: Nationalarchiv Bern, Signatur E 2200.42-01.
  • „Dossier: De Pury, Roland, 1907“. In: Nationalarchiv Bern, Signatur E 4320 B.
  • „Dossier: De Pury, Roland, 1907, Lyon“. In: Nationalarchiv Bern, Signatur E 2001 E.
  • Rott, Martin: "Roland de Pury (1907-1979)". Online: https://www.reformiert-info.de/2323-0-37-5.html (Stand: 10.09.2019).


Werkgeschichte

De Pury beruft sich in seinem Tagebuch darauf, alle Teile bis zu seiner Freilassung in seiner Zelle mit Bleistift auf Papierfetzen – u.a. den Banderolen von Lebensmitteldosen – geschrieben zu haben: „Es handelt sich um Notizen, die von Tag zu Tag niedergelegt wurden, mit Ausnahme der ersten Seiten aus dem Monat Juni, die am 3. Juli zusammengestellt wurden; und zwar umständehalber, da wir früher keine Möglichkeit zum Schreiben besaßen“ (S. 6). Nachträglich wurden nur jene Passagen hinzugefügt, die in der Haft „festzuhalten unklug gewesen wäre“ (ebd.) – welche Passagen dies genau sind, die de Pury in Haft in Gefahr gebracht hätten, ist nicht nachgewiesen. Wie stark de Pury nachträglich in seine Aufzeichnungen eingegriffen hat, ist ebenfalls unklar, obgleich rückblickende Bewertungen wie „[g]lücklicherweise wußte ich nicht, daß 50 Tage vergehen würden …“ (S. 43) eine Nachbearbeitung nahelegen. De Purys Tagebuch wurde zunächst 1944 in mindestens drei Auflagen auf Deutsch publiziert. Die Übersetzung aus dem Französischen stammt von Hedwig Roth. 1945 folgte in Lausanne unter dem Titel „Journal de cellule, 30. Mai - 20. Octobre 1943“ die Veröffentlichung auf Französisch. Die französische Ausgabe entspricht dem deutschen Text, enthält aber 16 Abbildungen u.a. von Rembrandt, Rodin und Van Gogh.

Quellen:

  • De Pury, Roland: Tagebuch aus der Gefangenschaft. 2. Auflage. Zürich: Evangelischer Verlag A.G. Zollikon-Zürich, 1944.
  • De Pury, Roland: Journal de Cellule, 30. Mai - 20. Octobre 1943. Lausanne 1945.
  • Vgl. auch das Streichexemplar der französischen Ausgabe der Division Presse et Radio Genève Mai 1944. In: Nationalarchiv Bern, Dossier: De Pury, Roland, Journal de Cellule; Signatur E 4450-B.231.



Bearbeitet von: Christiane Weber