Todeskandidaten (1946)

Aus Frühe Texte der Holocaust- und Lagerliteratur 1933 bis 1949
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Angaben zum Werk

Titel Todeskandidaten
Autor Alt, Karl Dr. (1897-1951)
Genre Erinnerungsbericht

Ausgaben des Werks

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Ausgabe von 1946, München
Titel Todeskandidaten

Erscheinungsort München
Erscheinungsjahr 1946
Auflage Erstauflage
Auflagen insgesamt Zwei Auflagen
Auflagenhöhe Erstauflage 10.000

Verlegt von Neubau-Verlag
Gedruckt von Bergverlag Rudolf Rother
Publiziert von Alt, Karl Dr. (1897-1951)
Umschlaggestaltung von Härtl, Eugen Max W.
Illustriert von Härtl, Eugen Max W.

Umfang 96 Seiten
Abbildungen Insgesamt 3 Abbildungen
Lizenz Der Verlag wurde von der Nachrichtenkontrollstelle der Amerikanischen Militärregierung zugelassen, Lizenznummer US-E-110

Bibliotheksnachweise UBGI-icon.gif UB Gießen (Print-dnb-icon.gif gedruckte Ausgabe)
UBGI-icon.gif UB Gießen (Online-dnb-icon.gif elektronische Ausgabe)
DNB-icon.gif Deutsche Nationalbibliothek (Print-dnb-icon.gif gedruckte Ausgabe)


Ausgabe von 1994, München
Titel Überschreiten von Grenzen. Strafgefängnis München Stadelheim zwischen 1934 und 1945: der evangelische Seelsorger und Zeitzeuge Karl Alt begleitet die zum Tode Verurteilten bis zu ihrer Hinrichtung (Texte, Briefe, Gespräche)

Erscheinungsort München
Erscheinungsjahr 1994

Verlegt von Verlag Ökologie und Pädagogik

Publiziert von Alt, Karl Dr. (1897-1951)

Herausgegeben von Reuter, Werner
Umfang 112 Seiten

Zusammenfassung

In „Todeskandidaten“ beschreibt Karl Alt seine Tätigkeit als evangelischer Seelsorger im Gefängnis Stadelheim in München von 1934 bis 1945. Hierbei erfüllt der Bericht zwei Funktionen: Auf der einen Seite dokumentiert Alt das Gefängnis und die dortigen Zustände, insbesondere die Misshandlungen der Häftlinge durch die Wärter, und belegt dies durch Berichte von Häftlingen, die er als „Augen- und Ohrenzeugen“ (S. 5) bezeichnet. Auf der anderen Seite jedoch setzt sich der Verfasser ebenfalls intensiv mit dem Schicksal einzelner Gefangener und seiner Rolle als Seelsorger auseinander. So integriert und kommentiert er Gedichte und Abschiedsbriefe zum Tode verurteilter Häftlinge, der „Todeskandidaten“ (S. 5). Die sich dadurch eröffnenden dokumentarisch-kritischen als auch emotionalen Perspektiven auf das Gefängnis und die Gefangenen gehen mithilfe von verschiedenen Erzählerstimmen und -perspektiven ineinander über.

Was die erste dokumentarische Ebene anbelangt, äußert sich Alt nicht nur kritisch gegenüber den Misshandlungen in Stadelheim, sondern auch gegenüber dem NS-Regime. Seine Position als vehementer Gegner und Kritiker prägt hierbei seinen Sprachgebrauch: In hyperbolischer, pathosreicher Sprache kritisiert er den Verlust von Gerechtigkeit zugunsten von Gewalt und Terror als „himmelschreiend[e] Gesetzlosigkeit und Willkür“ (S. 9). Ebenso sprachlich intensiv schildert er die Zustände in Stadelheim. „Überfüllung“ und „Ungeziefer“ (beide Zitate S. 11), „Angst“ (S. 12) und „geistliche Not“ (S. 29) vermischen sich mit einem „grauen, endlos scheinenden Strom jener ‚Unruhetage der Seele‘“ (S. 26). Die Bezeichnung „Unruhetage der Seele“ unterstreicht hierbei auch die dokumentarische Funktion des religiösen Sprachgebrauchs: „Unruhetag“ spielt nicht nur auf die Confessiones I,1,1 von Augustinus an („unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in dir“), sondern auch auf die psychischen Auswirkungen der Misshandlungen, denen die Häftlinge ausgesetzt sind. So werden Hinrichtungen als „Großschlachttage“ bezeichnet, ebenso die Guillotine als „Maschine“ (beide Zitate S. 36), was der sprachlichen Ebene eine weitere Dimension der Gewalt und Brutalität verleiht. Dies wird weiterhin durch Vergleiche, „ein Obergruppenführer trat vor die Zelle [...] und schoß ihn [...] nieder wie einen räudigen Hund“ (S. 8f) sowie Passivkonstruktionen, „[d]ie Todeskandidaten kamen meist umgehend nach ihrer Verurteilung [...] nach Stadelheim, um dort ‚vollstreckt‘ zu werden“ (S. 43) verdeutlicht; die Häftlinge sind der Gewalt und Willkür in Stadelheim buchstäblich ausgeliefert. Alts Position wird hier ebenso ersichtlich, indem er sich durch Anführungszeichen (‚vollstreckt’, vgl. auch S. 10, S. 55 und S. 95) vom Sprachgebrauch distanziert, ohne die Begriffe zu beschönigen oder zu verschleiern. Weiterhin unterstreichen die im Bericht eingefügten Zeichnungen von Eugen Max W. Härtl die dokumentarische Absicht von Alt und eröffnen eine visuelle Perspektive auf das Gefängnis, indem Skizzen der Gebäude in die Berichte integriert werden.

Was das Schicksal der Häftlinge anbelangt, so distanziert sich der Autor jedoch nicht von der emotionalen Not der Gefangenen, insbesondere jener, die zum Tode verurteilt sind. Er integriert hierbei eine Vielzahl hinterlassener Dokumente und anonymisiert die Verfasser als „[e]in Räuber“, ein „Raubmörder“, „[a]ndere Kriminelle“ (S. 46; S. 50; S. 55), um die Schicksale hinter diesen Bezeichnungen zu beleuchten und einen Kontrast zum dehumanisierenden, von NS-Begriffen geprägten, brutalen Sprachgebrauch zu schaffen. Hierbei decken die Dokumente eine Bandbreite an verschiedenen Gattungen ab: So stellen Knittelverse den Versuch dar, mithilfe von schwarzem Humor und Sarkasmus der Gewalt in Stadelheim auf einer entwaffnenden Ebene zu begegnen: „Gar manchem ist die Kost nicht recht / und auch die Aussicht ist sehr schlecht: / Es ist die Burg, euch all’n bekannt: / Sankt Adelheim wird sie genannt“ (S. 14). Im Gegensatz dazu erschaffen Abschiedsbriefe von einzelnen Häftlingen durch die direkte Ansprache des Lesers und den Wechsel der Erzählerstimme eine emotionale, intime Atmosphäre: „Morgen früh ist meine Lebensbahn auf dieser Erde zu Ende. Werde hingerichtet! Habe nicht gedacht, daß ich einmal so enden würde“ (S. 50) sowie „Ich bin ähnlich wie David (2. Samuel, 11 und 12) solche Abwege geführt worden und meine Reue ist echt. Ich bin nun ein anderer geworden und bin sehend geworden, nicht zu spät. Ich schien verloren und kehre als gefundener Sohn morgen früh zum Vater zurück“ (S. 54). Hier unterstreicht die Anspielung auf einen biblischen Intertext sowie die religiös geprägte, metaphorische Sprache, „ich bin sehend geworden [...] ich schien verloren“ nicht nur den Prozess der Reflexion über das eigene Leben, den die Gefangenen in der Verarbeitung des Todesurteils erleben. Basierend auf dem Grundsatz „Kehre in dich selbst zurück“ (S. 32) setzen sich die Gefangenen ebenfalls intensiv mit Glaubensgrundsätzen und dem eigenen Verhalten auseinander, was Alt als Beweis der „Kraft der welt- und todüberwindenden Religion des Christentums“ (S. 39) interpretiert. Auf der anderen Seite erleben Häftlinge diese Phase der Reflexion jedoch auch als Konfrontation mit Glaubensgrundsätzen: „Warum hat Gott mich verlassen? [...] Gibt es keine Gerechtigkeit mehr? [...] Ich will ja gerne Tag und Nacht arbeiten, aber nur leben“ (S. 58f.). Hier tritt die kommentierende Erzählerstimme zurück, um den Häftlingen erzählerisch einen Raum zu erschaffen, den es für sie aufgrund der Überfüllung und Misshandlung in Stadelheim nicht gegeben hat.

Das vorletzte Kapitel, „Politische Todeskandidaten“ weist auf einen letzten Aspekt von „Todeskandidaten“ hin: den der historischen Einordnung. Durch Alts Schilderung, wie er sowohl Hans als auch Sophie Scholl kurz vor ihrer Hinrichtung am 22. Februar 1943 betreut, problematisiert Alt seine eigene Position als Seelsorger, da er sich aufgrund der Kürze des Gerichtsprozesses nicht in der Lage sieht, jene persönliche Bindung zu den Inhaftierten aufzubauen, die er für eine angemessene Betreuung nötig hält. Durch einen erneuten Wechsel der Perspektive, „bebenden Herzens betrat ich die Zelle des mir völlig unbekannten Hans Scholl“ (ebd.) markiert Alt seine Erfahrung auf der erzählerischen Ebene als subjektiv, wodurch das Verhältnis zwischen ihm als Seelsorger und den Geschwistern Scholl eine persönliche, emotionale Dimension erhält. Ebenso unterstreicht Alt auch die Bedeutung, welche der politische Widerstand für ihn hat: „Der Funke hatte gezündet und loderte immer wieder hell auf“ (S. 91). Vor diesem Hintergrund erscheint das letzte Kapitel, „Das Schafott verläßt Stadelheim“ (S. 94), nicht nur wie ein deutliches Bekenntnis gegen die Gewalt und den Mord in Stadelheim, sondern gegen das NS-Regime: „Freilich, die Blutspur, die sie [die Guillotine] hinterließ und das Meer von Tränen, das sie hervorbrachte, werden nie mehr abgewischt werden können. Durch sie ist nicht nur Stadelheim für immer befleckt“ (S. 95).


Biografie

Karl Alt (geb. 12.08.1897 in Nürnberg, gest. 16.06.1951, vermutlich in München) wurde als Sohn des Architekten Friedrich Alt geboren. Nachdem er das Abitur an einem humanistischen Gymnasium abgelegt hatte, wurde er zum Kriegsdienst in den Ersten Weltkrieg berufen, in dessen Folge sein rechter Arm durch Granatensplitter 1915 irreparabel geschädigt wurde. Alt kehrte daraufhin nach Bayern zurück und studierte von 1916 bis 1920 Theologie in Nürnberg und Erlangen. Nachdem er 1923 das Anstellungsexamen für die evangelisch-lutherische Kirche in Bayern bestanden hatte, arbeitete er als Präfekt, Stadtvikar sowie als Pfarrer in Regensburg, Heilig-Kreuz bei Augsburg und Kaufbeuren im Allgäu. 1926 promovierte er über Jakob Brucker an der Philosophischen Fakultät der Universität Erlangen, von welcher ihm auch das Lizentiat erteilt wurde. Von 1920 bis 1934 führte ihn seine Tätigkeit in die „Heil- und Pflegeanstalt“ nach Ansbach, ab 1934 dann in die Lutherskirche in München-Giesing, wo er ebenfalls für die Seelsorge im Gefängnis Stadelheim verantwortlich war. Neben seiner Tätigkeit als Seelsorger und Theologe veröffentlichte Karl Alt mehrere Aufsätze zu den Themenkomplexen Religion, Glaube und Krankheit, so „Willst Du Gesund Werden? Beratung und Betrachtung für Kranke an Leib, Seele und Geist“ (1932) und „Dass Christus Verkündet Wird. Lutherische Zeugnisse aus der bekennenden bayerischen Landeskirche“ (1934).

Quellen:

  • o. A.: „Karl Alt“ und „Veröffentlichungen des Verfassers“. In: Todeskandidaten. Erlebnisse eines Seelsorgers im Gefängnis München-Stadelheim mit zahlreichen im Hitlerreich zum Tode verurteilten Männern und Frauen. Neubau-Verlag: München 1946, S. 97-98.
  • Peitsch, Helmut: Deutschlands Gedächtnis an seine dunkelste Zeit. Zur Funktion der Autobiographik in den Westzonen Deutschlands und den Westsektoren von Berlin 1945 bis 1949. Berlin: Edition Sigmar Bohn 1990, S. 448.
  • Schmidt, Karl: „Der Pfarrer an der Seite von Hans und Sophie Scholl. Film zeichnet authentisches Bild des Gefängnisseelsorgers (Korrespondenzbericht) (mit Bild).“ Online: http://archive.today/kuEQK (Stand: 02.10.2019).



Bearbeitet von: Lisa Beckmann