Vergangenes nicht Vergessenes (1947)

Aus Frühe Texte der Holocaust- und Lagerliteratur 1933 bis 1949
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Angaben zum Werk

Titel Vergangenes nicht Vergessenes
Autor Wentscher, Dora (1883-1964)
Genre Erzählungen

Ausgaben des Werks

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Ausgabe von 1947, Weimar
Titel Vergangenes nicht Vergessenes

Erscheinungsort Weimar
Erscheinungsjahr 1947

Verlegt von Thüringer Volksverlag

Publiziert von Wentscher, Dora (1883-1964)

Umfang 162 Seiten

Lizenz Lizenz-Nr. 220 der Sowjet. Militärverwaltung in Deutschland

Bibliotheksnachweise UBGI-icon.gif UB Gießen (Print-dnb-icon.gif gedruckte Ausgabe)
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Zusammenfassung

Dora Wentscher versammelt in dem Band sieben Erzählungen. Die überwiegende Anzahl stammt aus den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg und der Weimarer Republik und stellt Zeit- und Typenporträts mit teilweise ungewöhnlichen Ortssettings und markanten Figurenkonstellationen dar, die Titel lauten „Der Landstreicher“, „Der Kamerad des Heldenjungen“, „Die Milch ist eingeteilt“ und „Der Typ“.

Weitere Erzählungen thematisieren den Nationalsozialismus und dessen Gewalt und Brutalität anhand von Einzelschicksalen. Die Erzählung „Bubi in Prag“ ist im Herbst 1938 angesiedelt und handelt von dem 22-jährigen Juden Bubi Elger aus Berlin, der nach „grausigen zwei Nächte[n] und drei Tage[n] im SA-Keller“ (S. 75) mit „vollständig sinnlose[n] Beschimpfungen, Erniedrigungen, viehische[r] Rohheit und Gewalt“ (S. 76) trotz der Misshandlungen wie ein Held geschwiegen hat, bis er das Bewusstsein verlor und nun auf dem Weg nach Prag ist. Von dort aus will er weiter emigrieren, möglichst nach New York. In Prag stößt er jedoch aufgrund seines Aussehens und Auftretens – „echt teutsch-selbstbewußt, so sichtlich nur mit sich selbst beschäftigt, blond, blauäugig, schlank und groß, mit dem hohen, schmalen Schädel, dem hellen Stutzbärtchen über dem Mund – alle waren einig, daß er wie ein waschechter Nazi aussah und kein bißchen wie ein Jude“ (S. 77f.) – bei den Leuten vom Flüchtlingskomitee auf Misstrauen. Vergeblich versucht er eine Unterkunft zu finden, überall begegnen ihm Vorbehalte, Wut und Hass gegenüber den Deutschen. Immer wieder wird er als Nazi beschimpft, niemand schenkt seinen Beteuerungen, ein Jude und Verfolgter zu sein, Glauben. Schließlich nimmt ihn eine freundliche alte Frau auf. Sorgen macht er sich um seine Mutter, die in Deutschland zurückgeblieben ist und von der er bisher kein Lebenszeichen hat. Schließlich taucht auch sie in Prag auf. Die Mutter musste für die Flucht den Familienschmuck verkaufen, empfindet dies jedoch als geringes Opfer. Vielmehr bedauert sie diejenigen, die nicht aus Deutschland herauskönnen, gehetzt und beraubt werden. „Damals konnte sie noch nicht ahnen, daß es sechs Millionen sein würden“ (S. 92), kommentiert der Erzähler.

„Die Schule der Grausamkeit“ beginnt mit der Schilderung der beiden siebzehnjährigen Arbeiter und Hitlerjungen Edwin Steeger und Hans Warnke, die kurz nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten in einem nicht näher erwähnten Konzentrationslager einen Häftling bei einem Verhör schwer misshandelt haben. Dafür bekommen sie großes Lob vom zuständigen Kommandanten Klemm. Warnke leidet jedoch sehr unter den Gewalttätigkeiten, die er ausüben muss. Sein Versuch, seine Bedenken mit seinem Freund Steeger zu teilen, nimmt dieser ihm sehr übel, obwohl auch er insgeheim zweifelt. Während Steeger bei Verhören immer eifriger, grausamer und unbarmherziger wird, damit niemand seine Zweifel ahnt, versucht Warnke eines Abends, nachdem beide Jungen Alkohol getrunken haben, Steeger dazu zu überreden, einen Plan zu schmieden, wie sie all dem entkommen können. Dieser rät ihm lediglich, sich seine ‚lächerlichen‘ Gefühle abzugewöhnen: „Das Volk muß der Führer lenken wie ein Tankist seinen Tankwagen. Die hinten drin sitzen, brauchen nichts zu sehn oder zu hören. […] Dreiviertel von Europa wird Deutschland sein, Hans. Und dann geht’s gen Osten. Und dann gehören wir, die von Anfang an dabeigewesen sind, zu den ersten. Dafür muß man eben leiden können“ (S. 116). Die beiden Jungen bemerken dabei nicht, dass sie von Kommandant Klemm belauscht werden. Außer sich vor Wut lässt er die Jungen verhören. Obwohl klar ist, dass Klemm vieles missverstanden hat, werden beide zur Erziehung als Gefangene in unterschiedliche Konzentrationslager verbracht. Warnke wird wiederholt verhört und so schwer misshandelt, dass er schließlich an seinen Verletzungen stirbt. Steeger ergeht es dagegen ganz anders: „Jener Edwin Steeger, der in Gefahr gewesen war, aufzubegehren, war für immer tot und begraben. Ein neuer Edwin Steeger war mit Erfolg erzogen worden“ (S. 121). Er versteht es, sich im Konzentrationslager Achtung zu verschaffen und im Herbst 1936 wird er – protegiert vom Lagerkommandanten Klemm – „Stellvertreter des Lagerkommandanten in einem der größten deutschen Konzentrationslager“ (S. 122). Gefühlsäußerungen duldet er weder bei sich noch bei anderen, leidet jedoch im Herbst 1938 zunehmend unter Gemütsverstimmungen und Reizzuständen. In Berlin verliebt er sich in die einzige Tochter Klemms, die diese Zuneigung nicht erwidert. Steeger ahnt, dass diese Ablehnung mit seinem Beruf zu tun hat: „Hatte sie nicht recht? Hatte dieser Beruf nicht alles in ihm ertötet?“ (S. 130). Steeger beginnt zu trinken und verkommt mehr und mehr. Mit Kriegsausbruch bekommt sein Leben jedoch neue „Spannungen und Erregungen“ (S. 139). „Der Gestapo-Mann Steeger, vor große Aufgaben gestellt, fühlte sich allen gewachsen. Er war einer der Organisatoren der Vorbereitung der faschistischen Einbrüche in Belgien, Holland und Frankreich“ (S. 139). Sein Beruf macht ihm nun wieder Freude, er reist in die eroberten Gebiete, leitet Sonderkommandos. In einem russischen Dorf sollen Einwohner erhängt werden, einer der Bauernjungen, die unter einer Schlinge stehen, erinnert ihn stark an Hans Warnke. Während Steeger sich über diese Assoziation ärgert, stürmt ein Partisanentrupp das Dorf und überwältigt gemeinsam mit den befreiten Bauern die Deutschen. „Der große Gestapomann, Edwin Steeger, endete unter den erbarmungslosen Schlägen der Bauern und Bauernweiber von Ch.“ (S. 148).

In „Tante Tina“ geht es um die Hinrichtung der 61-jährigen Berliner Gasthausbesitzerin Tina Kerndl im Herbst 1937. 1933 verhaftet, wird ihr nach vier Jahren „fast ständiger Einzelhaft der Prozeß“ (S. 149) gemacht. Sie wird zur Enthauptung verurteilt. Es „ging alles wie geölt, bis der rasierte, totenähnliche Kopf, Tante Tinas einst so schöner Kopf, zu Boden fiel. Der Kopf stand, und die Henkersknechte schrien entsetzt: ‚Sie guckt‘“ (S. 149).

Von Tante Tina müsse man reden, so der Erzähler. Man müsse aufzeichnen, was man wisse, und das sei leider nicht viel. „Aus ihrer Haftzeit nur das eine, daß sie furchtbar litt und niemand verraten hat. Von früher können wir erzählen“ (S. 151). Damals war Tante Tina eine geachtete Kneipenbesitzerin, die nach dem Tod des Mannes und drei Söhnen mit ihrer verwitweten Tochter hinter der Gaststube lebte. Da ab 1933 bei ihr viele ‚Politische‘ ein- und ausgingen, wurde sie schnell zur Bedrohung für die Nationalsozialisten. Im März 1933 randaliert ein Sturm von Nationalsozialisten in der Gaststätte. Als die Tochter Leni die Gaststätte betritt, eskaliert die Situation. Der Sturmführer erschießt Leni. Tina bedroht den Sturmführer mit einem Brotmesser und verwundet ihn dabei leicht, was zu ihrer Verhaftung führt, die im Herbst 1937 mit der eingangs beschriebenen Hinrichtung endet.


Biografie

Dora Wentscher, geb. am 6. November 1883 in Berlin, gest. am 3. September 1964 in Erfurt, wurde als Tochter des Landschaftsmalers Julius Wentscher geboren. Von 1903 bis 1905 absolvierte sie ein Schauspielstudium und war danach bis 1913 an verschiedenen Bühnen verpflichtet, etwa von 1905 bis 1909 in Trier, 1906 bei den Festspielen im Düsseldorfer Apollo-Theater, 1910/11 beim Märkischen Wandertheater und 1911/12 am Berliner Theater. 1913/14 machte sie eine Ausbildung zur Bildhauerin. Außerdem war sie ab 1918 als freie Schriftstellerin für mehrere Zeitungen wie z. B. „Die Schaubühne“ und „Die Weltbühne“ tätig. 1928 wurde sie Mitglied im Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller und 1929 in der KPD.

1933 emigrierte sie nach Prag und 1934 weiter in die Sowjetunion, wo sie dann vorwiegend in Moskau als Übersetzerin und ab 1941 auch als Sonderkorrespondentin im Rundfunk, unter anderem für Radio Moskau, wirkte. Sie wurde nach Nowosibirsk bzw. Iskitim evakuiert, kehrte jedoch 1945/46 wieder nach Moskau zurück. Nach dem Krieg lebte sie ab 1946 in Weimar. Hier wurde sie Mitglied im Deutschen Schriftstellerverband sowie der SED. 1950 heiratete sie den Schriftsteller Johannes Nohl. Sie schrieb Erzählungen, Romane, Novellen, Hörspiele und Essays, teils auch autobiographisch.

Quelle:

                           



Bearbeitet von: Charlotte Kitzinger