Weltfahrt ins Herz (1947)

Aus Frühe Texte der Holocaust- und Lagerliteratur 1933 bis 1949
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Angaben zum Werk

Titel Weltfahrt ins Herz
Autor Holt, Heinrich Eduard vom (1913-1947)
Genre Tagebuch

Ausgaben des Werks

Ausgabe von 1947, Köln
Titel Weltfahrt ins Herz
Untertitel Tagebuch eines Arztes

Erscheinungsort Köln
Erscheinungsjahr 1947

Verlegt von Balduin Pick Verlag
Gedruckt von Druckerei des Verlags Balduin Pick
Publiziert von Holt, Heinrich Eduard vom (1913-1947)
Umschlaggestaltung von Schröder, Heinrich

Umfang 289 Seiten

Bibliotheksnachweise UBGI-icon.gif UB Gießen (Print-dnb-icon.gif gedruckte Ausgabe)
DNB-icon.gif Deutsche Nationalbibliothek (Print-dnb-icon.gif gedruckte Ausgabe)


Zusammenfassung

Das Tagebuch des Kölner Arztes vom Holt schildert größtenteils seine mehrmonatige Haft im Konzentrationslager Dachau vom Oktober 1944 bis April 1945. Gewidmet ist es seiner „lieben Frau und allen Müttern unterm Kreuz des Krieges“ (o.S.). Dem Text vorangestellt ist eine Bibelstelle aus 1. Kor., 13: „Für jetzt bleiben Glaube, Hoffnung und Liebe, diese drei; am größten aber von ihnen ist die Liebe“ (o.S.). Wie das Motto schon vermuten lässt, spielen sowohl der christliche Glaube als auch die Liebe – als Liebe zu Gott, Liebe zu seiner Frau und den Kindern sowie als Nächstenliebe – eine zentrale Rolle für den Autor.

Das Tagebuch beginnt am 1. April 1944 in Reiferscheid, wo die Familie wegen der Bombardierungen ihrer Heimatstadt Köln untergekommen ist. Der erst dreißigjährige Ich-Erzähler ist schwer Herz- und Niereninsuffizient, seine Erkrankung ist von Anfang an ein immer wiederkehrendes Thema im Text. Durch sie ist er auch vom Wehrdienst befreit. Dennoch kümmert er sich aufopfernd um seine – nur wenigen und inoffiziellen – Patienten, ihr Schicksal geht ihm nahe, da sein Beruf für ihn auch Berufung ist. Es sei die Liebe, die heile, stellt er fest: „Aller ärztlichen Kunst Anfang ist die Liebe“ (S. 184). Seine Bemühung als Arzt sei es dabei, „die kranken Teile im Menschen durch seine gesunden zu heilen“ (S. 26). Schon früh hat er durch seine eigene Krankheit erkannt, dass „ich nur für zwei Erfüllungen des Mannes berufen bin: für den sinnenden und den heilenden Menschen“ (S. 96).

Naturerlebnisse und Tierbeobachtungen nehmen im ersten Drittel des Werks großen Raum ein, sie werden kontrastiert mit den Schilderungen von Bombeneinschlägen und Zerstörungen durch den Krieg, wie vom Holt sie in Köln erlebt. Der sehr melancholische und poetische Stil des Werks ist durchsetzt von Sprachbildern und Assoziationen. Die Schilderungen sind zunächst nahezu unpolitische Reflektionen seiner inneren Gedanken und Empfindungen als Reaktionen auf die äußeren Begebenheiten. Er analysiert seine Gefühle und bewertet dabei frühere Handlungen und Empfindungen angesichts der Situation um ihn herum neu. Unterbrochen werden die Gedankenschilderungen durch den Einsatz von wörtlicher Rede. Immer wieder werden starke Empfindungen, wie Ängste, Sorgen oder Freude auch im Schriftbild sichtbar gemacht, etwa durch Gedankenstriche, gesperrte gedruckte Wörter und unvollendete Sätze. Dies verstärkt sich im Handlungsverlauf. Ende Mai 1944 beginnt der Tagebuchschreiber eine mehrwöchigen Reise in die Niederlande: „Ich brach auf, um in einer fremden Welt die Heimkehr zu suchen“ (S. 36). Überall, an den Stränden und in den Straßen, stellt er fest, dass der Krieg Spuren hinterlassen und die Natur zerstört hat. Nach seiner Rückkehr finden sich ab dem 20. Juli 1944 auch knappe Hinweise auf vom Holts politische Einstellung zum Nationalsozialismus. Nachdem er Nachricht vom Attentat auf Hitler erhalten hat, kommentiert er seiner Frau Michaela gegenüber: „Wir werden schlecht geführt!“ (S. 77) Und am 16. August 1944 heißt es im Tagebuch: „Wir alle aber, die wir das Leben unserer Frauen und Kinder der Willkür des Despoten ausgeliefert sehen, müssen untätig verharren und dulden, dass alle Leidenschaft der Verantwortung durch eine dumpfe Treupflicht betäubt wird […]. Werden uns nicht die Enkel verfluchen, weil wir nicht die Kraft aufbringen, von einem Spiel abzulassen, für das wir Glück und Leben der noch Ungeborenen verpfänden!“ (S. 81) Am 3. September erfährt er, dass er unter Anklage steht und ein Haftbefehl gegen ihn vorliegt. Er wurde von seinem Nachbarn denunziert und ihm wird vorgeworfen, mit den revoltierenden Generälen zu sympathisieren. Es gelingt ihm, einige seiner Papiere einer Nachbarin zu übergeben und die Aufzeichnungen in sicheres Verwahr zu bringen. Schweren Herzens nimmt er von seiner geliebten Michaela und den Kindern Abschied. Zunächst wird er in das Koblenzer Karmeliter-Gefängnis gebracht. Immer wieder wird er verhört. Ihm wird vorgeworfen, seine Sprechstunde benutzt zu haben, „um Deutsche defaitistisch“ (S. 99) zu beeinflussen und die Moral des Volkes so untergraben zu haben. Er erwidert: „Wenn nicht nur Männer, sondern auch die Mütter fallen und selbst das Ungeborene im Schoß erstickt, dann können nur noch Vermessene wagen, solchem Wüten einen Sinn zu unterschieben“ (ebd.). Seine Reise nach Holland wird als Versuch gesehen, gleichgesinnte Verschwörer zu finden und militärische Geheimnisse zu verraten. Vom Holt beunruhigen vor allem die Drohungen, auch seine Frau Michaela zu inhaftieren.

Am 6. Oktober 1944 berichtet vom Holt, dass er haftunfähig geschrieben worden sei und in den nächsten Tagen entlassen werde. Seine Skepsis über diese Nachricht erweist sich als berechtigt, da er Anfang November statt einer Freilassung in das KZ Dachau überstellt wird. Er ist nun Schutzhäftling 118.867, sein Name ist ausgelöscht. Die Aufnahme in das Lager schockiert ihn, Angst und Grauen beherrschen seine Gedanken. Die Rasur seiner ganzen Körperbehaarung empfindet er als Schändung: „Ich glaubte zu verbrennen – vor Schmerz – und Scham“ (S. 130). Wegen kleinster Verfehlungen wird er wiederholt geschlagen und auf Nahrungsentzug gesetzt. „Ehrlos – wehrlos – rechtlos!“ (S. 135) – diesen Satz wiederholt er in der Beschreibung der ersten Tage im Lager immer wieder wie ein Mantra. Schnell verschlechtert sich sein ohnehin labiler Gesundheitszustand. Ödeme bilden sich, Gesicht und Beine schwellen an. Dennoch will der Häftlingsarzt ihn zunächst nicht in das Krankenrevier aufnehmen. Der Mithäftling Vater Bernhard rettet ihn schließlich, und nimmt ihn im Krankenblock auf, „mit vom Wasser gedunsenen Gesicht, verklebten Augen, dem kahlen Schädel, in Fetzen, nein nackt, ein verworfener Splitter unter Menschentrümmern“ (S. 147). Hier erholt er sich etwas, nur schwer erträgt er jedoch den Hunger. Es gelingt ihm nicht, diesen zu überwinden: „Die Gier sammelt alles Denken auf sich, läßt gar kein andres Denken zu als das furchtbare, drängende, fordernde, schleichende, mordenwollende: ich – habe – Hunger!“ (S. 158) Hunger mache schamlos, verführe zur Bettelei und lasse jedes Ekelgefühl sterben, konstatiert er. Er sei auch der stärkste Feind der Kameradschaft im Lager. Zudem erschüttern ihn Traumbilder von zu Hause und Erinnerungen an seine Kindheit ebenso wie die wenigen Pakete und Post, die er von zu Hause bekommt. Immer wieder sinniert er auch über vergangene Fehler, vor allem in seiner Liebe zu Michaela. Aus den Erinnerungen vom Holts erfährt der Leser, dass das Paar schwere Zeiten durchstanden hat. Das zweitgeborene Kind schwebt nach der Geburt in Lebensgefahr, das dritte Kind stirbt bei der Geburt, etwas später macht sich seine „heimtückische Krankheit“ (S. 223) bemerkbar. Die Liebe gerät in eine Krise: „Die Liebe? – Wir mussten sie leben und leiden“ (S. 220). Vom Holt weiß aber nun sicherer denn je, dass er Michaela liebt: „In Gottes Namen, heute und immerdar ...“ (ebd.).

Vom Holt thematisiert auch das Dilemma der deutschen Häftlinge bei den Fliegerangriffen, da sie einerseits um ihre Familien fürchten, andererseits auf Befreiung hoffen: „Mit jedem Haus, das draußen in Flammen aufgeht, mit jedem Soldatenbruder, der fällt und mit jedem Unschuldigen, der in einem Keller erstickt, nähert sich der Tag unsrer Freiheit. Als Deutsche zahlen wir ein blutiges Lösegeld! Das vervielfacht ihr Verbrechen!“ (S. 226) Immer wieder vergleicht er den Nationalsozialismus mit einer psychischen Erkrankung. Das politische Leben Deutschlands sei nicht anderes „als eine systematische Massenverwirrung durch einige Neurastheniker, Hysteriker, Halluzinanten und Delirierende“ (S. 232). Das Verhängnisvollste dieser Krankheit sei ihr epidemischer Charakter, bei dem am Ende sogar die Gesunden verrückt würden über der Selbstprüfung, ob sie oder die Infizierten sich in einer anormalen Geistesverfassung befinden. Ab Ende November 1944 häufen sich Hinweise im Tagebuch auf den holländischen Schriftsteller Nico, der mit ihm auf dem Krankenrevier liegt. Dabei handelt es sich mit großer Sicherheit um Nico Rost, der 1947 das bekannte Werk „Goethe in Dachau“ über seine Zeit im KZ Dachau schrieb. Immer wieder berichtet vom Holt etwa auch von Büchern, die ihm Nico zusteckt, wie etwa eines des Philosophen und Schriftstellers Kierkegaard. Vom Holt bescheinigt Nico eine Liebe zu Deutschland und Verehrung für dessen Dichtern: „‘Goethe ist eine Weltmacht! Die einzige von Bestand‘, so rühmte er einmal“ (S. 210), erinnert sich vom Holt.

Mitte Januar 1945 erkrankt er schwer an Typhus. Mehrere Wochen schwebt er zwischen Leben und Tod und wird aufopferungsvoll von seinen Kameraden gepflegt. Erst am 7. März schreibt er erneut, inzwischen auf dem Weg der Besserung. Er ist nun als Aushilfsarzt im Typhusblock 21 tätig: „Noch zweifle ich, ob die Metamorphose gelingt. […] Nicht mehr nur ein gefräßiges Tier atmet und schlingt, auch ein Mensch beginnt wieder zu sprechen, zu denken und hier und da zu lächeln“ (S. 242). Im April 1945 beginnt die Räumung des Lagers, auch vom Holts Block 21 wird geräumt. Nachdem er zunächst als Latrinenreiniger auf Block 4 eingesetzt wird, muss er bald als Hilfsgärtner der Plantage arbeiten. Er versteht, wie privilegiert er bisher im Lager gewesen ist: „Nun begreife ich erst, daß ich nur auf dem Oberdeck einer Galeere saß, in deren Leib die Ruderknechte nach dem Gong eines Wächters die Riemen führten, bis das Blut aus ihrem Mund sprang und sie in ihren Ketten starben“ (S. 263). Die Situation im Lager spitzt sich immer weiter zu. Vom Holt irrt durch das Lager und versteckt sich in verschiedenen Blocks aus Angst, in letzter Minute doch noch verschickt zu werden. Schließlich wird er am 26. April wieder im Revier aufgenommen. Drei Tage später verlassen Lagerleitung und Kapos das Lager. Über der Kommandantur weht plötzlich eine weiße Fahne. Im Freudentaumel und im Schock erleben die Häftlinge den Moment der Befreiung.

Am 3. Juni 1945 kann vom Holt die Heimfahrt antreten. Nach bangen Tagen auf der Reise findet er seine Frau und Kinder wohlbehalten vor; auch seine Eltern haben überlebt. Sein Glück wird nur getrübt durch das Wissen, dass seine Krankheit sehr weit fortgeschritten ist und es keine Heilung geben kann. Ihm ist klar, dass er auch kein Arzt mehr sein kann: „‚Ein Mensch, der nächstens zu ersticken droht, kann niemanden mehr Arzt sein‘. […] Ich kenne keine Heilung. Kombiniertes Vitium, dazu dieses Asthma! Wir werden es schwer haben, Michaela“ (S. 283). Seine Fraue bleibt jedoch optimistisch: „Ich glaube an deine Genesung, wie ich an deine Heimkehr glaubte“ (ebd.).

Das Tagebuch endet an Johannis im Juni 1945. Mit den beiden Kindern sitzt der Autor auf einem Hochsitz und blickt in die ländliche Natur. Die Familie hat einen Neuanfang in der Stadt beschlossen: „Oben, überm Talweg winkt Michaela. Wie ein Seraph steht ihre helle Gestalt gegen die dräuende Dämmerung. ‚Wir kom-men …‘ rufen wir im Dreiklang“ (S. 289).


Biografie

Heinrich Eduard vom Holt (geb. 02.10.1913 in Köln als Heinrich Eduard von Miesen; gest. 04.08.1947 in Köln) wurde in eine katholisch geprägte Beamtenfamilie hineingeboren. Schon als Schüler trat er in den Bund Neudeutschland, eine bündische Bewegung für katholische Gymnasiasten, ein. Nach dem Abitur am Realgymnasium studierte er an der Universität Köln Medizin, Philosophie, Geschichte und Germanistik. Aufgrund seiner Herzkrankheit hätte er unter den Nationalsozialisten nicht als Arzt hätte tätig sein dürfen, daher entschied er sich 1938 zur Promotion an der Philosophischen Fakultät. Sein Thema war „Das Problem des Selbstverständnisses in der Philosophie Friedrich Nietzsches“. Zudem arbeitete er als Volontär für die „Kölnische Volkszeitung“, wo er später als Redakteur für das Feuilleton angestellt wurde.

Inzwischen hatte sich Heinrich Eduard Miesen das Pseudonym vom Holt (nach dem Wohnort der von ihm verehrten Großmutter mütterlicherseits, Mönchengladbach-Holt) zugelegt. Er war beim „Westdeutschen Beobachter“ als Auslandsreporter für die Niederlande, Polen und die Ukraine tätig.

In der Nacht zum 10. November 1938 wurde er in ‚Schutzhaft‘ im EL-DE-Haus am Kölner Appellhofplatz genommen, weil er aus seiner Gegnerschaft zum Nationalsozialismus keinen Hehl machte und sein Einsatz zur Verteidigung jüdischer Mitbürger bekannt wurde. Seine Haftdauer ist nicht bekannt. Er kam jedoch wieder frei und schrieb im April 1944 erste Teile seines Buches „Weltfahrt ins Herz. Tagebuch eines Arztes“. Am 3. September 1944 wurde er im Rahmen der Aktion Gewitter in Reiferscheid im Westerwald verhaftet und im Gefängnis des ehemaligen Karmeliterklosters in Koblenz inhaftiert und gefoltert. Unter dem Vorwurf der Zusammenarbeit mit den Attentätern des 20. Juli wurde er in das KZ Dachau deportiert, wo er die Häftlingsnummer 118.867 erhielt. Am 29. April 1945 wurde er aus dem Konzentrationslager befreit. Nach seiner Befreiung arbeitete er als Schriftleiter für die Lagerzeitung „Der Antifaschist“ und stellte sein Werk „Weltfahrt ins Herz“ fertig. Er wurde Lizenzträger, Verlagsleiter und Cheflektor des Kölner Balduin-Pick-Verlags, in dem er auch sein Buch veröffentlichte. Sein durch die Haftzeit verschlimmertes Herzleiden führte im August 1947 zu seinem Tod. 1950 erschien posthum eine von Tokioer Jesuiten übersetzte, japanische Fassung seines Werks.

Quelle:

  • Laqueur, Renata: Schreiben im KZ. Tagebücher 1940-1945. Bearbeitet von Martina Dreisbach und mit einem Geleitwort von Rolf Wernstedt. Bremen 1992, zugl.: New York, Univ., Diss., S. 112ff.





Bearbeitet von: Charlotte Kitzinger