Zeit ohne Gnade (1946)

Aus Frühe Texte der Holocaust- und Lagerliteratur 1933 bis 1949
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Angaben zum Werk

Titel Zeit ohne Gnade
Autor Kalmar, Rudolf (1900-1974)
Genre Erinnerungsbericht

Ausgaben des Werks

Ausgabe von 1946, Wien
Titel Zeit ohne Gnade

Erscheinungsort Wien
Erscheinungsjahr 1946
Auflage 1
Auflagen insgesamt 1
Auflagenhöhe Erstauflage 30.000

Verlegt von Schönbrunn Verlag
Gedruckt von H. Faber, Öffentliche Verwaltung Karl Judl
Publiziert von Kalmar, Rudolf (1900-1974)
Umschlaggestaltung von Bahner, Willi (1906-1981)

Umfang 208 Seiten

Bibliotheksnachweise UBGI-icon.gif UB Gießen (Print-dnb-icon.gif gedruckte Ausgabe)
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DNB-icon.gif Deutsche Nationalbibliothek (Online-dnb-icon.gif elektronische Ausgabe)


Zusammenfassung

Die „menschliche Seite menschlich zu sehen“ (S. 9) ist das Anliegen des bekannten Wiener Journalisten Rudolf Kalmar in seinem Erinnerungsbericht. Er schildert daher nicht nur seine Haft in den Konzentrationslagern Dachau und Flossenbürg zwischen 1938 und 1945, sondern gibt vielmehr einzelne Episoden und deren emotionale und psychologische Bedeutung für die Inhaftierten wieder.

Zunächst beginnt der Bericht jedoch nicht chronologisch mit Kalmars Verhaftung, sondern mit der Schilderung seiner Heimkehr nach Wien nach neunzig Monaten in KZ-Haft. Das Gefühl der Heimkehr stellt sich bei dem beschriebenen Spaziergang durch die Stadt nicht ein: „Ich war zu Hause. War ich zu Hause“ (S. 18)? Die Außenwelt, in der während der sieben Haftjahre Kalmars das Leben und der Alltag weitergegangen sind, verstört den heimkehrenden Kalmar: Plötzlich möchte keiner verantwortlich sein für die Taten, vielmehr verdrehen sie die Geschichten so, dass sie selbst als Opfer dastehen. Kalmar geht es dabei nicht um Rache – als er kriegsgefangene SS-Männer bei der Zwangsarbeit sieht, empfindet er Mitleid – sondern um die Trauer über sieben Jahre Leid, wie er im letzten Kapitel abschließend resümiert.

In den weiteren Kapiteln schildert Kalmar episodenhaft seine Erinnerungen. Die Berichte wurden vor der Drucklegung als Buch zunächst als Serie in der „Wiener Wochenausgabe“ publiziert, was den episodenhaften Charakter der Texte erklärt. Im Buch selbst wird dieser Umstand allerdings nicht thematisiert. Kalmar nutzt Fakten aus der Lagerzeit, aber auch aus der Nachkriegszeit – so schreibt er etwa mit journalistischem Aktualitätsbezug über die Kriegsverbrecherprozesse nach 1945 – dabei lediglich als Rahmen für die Schilderung der Gefühlslage aller Häftlinge. Hierbei hebt er besonders die psychische Folter „am Geist der gefangenen Menschen“ als „Gipfel des Grauens“ (beide Zitate S. 47) hervor. Dennoch wird auch die Struktur des Lagerlebens deutlich: Mit der für ihn typischen Formulierung „[w]as uns im Konzentrationslager am empfindlichsten trifft“ (S. 60), beschreibt er die Zwangsarbeit, die Foltermethoden der SS und Besuche prominenter Nationalsozialisten wie Himmler, den er als „Diva im Revuefinale“ (S. 56) karikiert. Zudem thematisiert er Ereignisse wie das erste Weihnachten in Dachau 1938 und Einrichtungen wie das Lagerbordell. Ein weiteres wichtiges Ereignis, das Kalmar ausführlich beschreibt, ist das Theaterstück „Die Blutnacht auf dem Schreckenstein oder Die wahre Liebe ist das nicht“. Den Häftlingen war es im Sommer 1943 erlaubt worden, das von Kalmar verfasste Stück aufzuführen. Er schildert die große Freude der Häftlinge, als die anwesenden SS-Männer die Anspielungen auf Hitler und die NS-Politik nicht verstehen. Im Text werden Originalpassagen aus dem Stück wiedergegeben.

Neben diesen ‚Äußerlichkeiten‘ schildert Kalmar eindringlich die Folgen für die Menschen im Allgemeinen und seine emotionale Lage im Besonderen: Als besonders hart beschreibt er, „[d]aß du deinen Willen verloren hast, die Fähigkeit, über dich und dein Leben auch nur in den kleinsten Dingen zu entscheiden. Du bist kein Mensch, du bist nur mehr eine Sache“ (S. 34); an anderer Stelle spricht er von „wertlose[m] Menschenfleisc[h] im Konzentrationslager“ (S. 111). Selbstmord wurde so für die Häftlinge „der einzig mögliche Weg[,] aus freiem Entschluß“ (S. 66) zu handeln.

Zwei Kapitel sind hervorzuheben, da sie sich vom Gesamttenor unterscheiden: In „Ein Walzer von Strauß und der Tod tanzt mit“ verwebt Kalmar in einer Art Traumsequenz den Besuch einer Oper nach 1945 mit den Erlebnissen der KZ-Haft; dabei springt er zwischen den Zeitebenen hin und her. In einzelnen Passagen neigt Kalmar zum Metaphysischen, etwa wenn er erzählt, wie ihm sein verstorbener Vater im Lager erscheint, oder er ein Gespräch mit seiner Mutter als Dialog wiedergibt, während er in Einzelhaft ist. Das abschließende Kapitel hingegen beginnt Kalmar mit einem surrealistischen Moment: „Mein Todestag fällt auf den 26. Dezember 1939“ (S. 199). Er beschreibt in diesem Bericht, wie er – an Typhus erkrankt – in der Krankenbarracke in Flossenbürg im Sterben liegt. Er fährt nach der kleinschrittigen Beschreibung seines Zustands fort: „Dann schloß ich die Augen und starb. Am 26. Dezember 1939 gegen neun Uhr abends. Daß ich auch meinen Tod überlebte, ist ein wahrhaftes Wunder“ (S. 200f.). Kalmar, der sich als „Auferstandener“ (S. 201) bezeichnet, hält fest, dass nur diejenigen verstehen können, was in den Konzentrationslagern geschehen ist, die „schon einmal gestorben“ (S. 202) seien.

Kalmar analysiert differenziert in seinem Text das Wesen der SS-Männer, die sowohl aus Willkür als auch aus Pflicht quälen: Oft waren es junge und obszöne „Lümmel aus dem letzten bayrischen Kuhstall“ (S. 42), denen plötzlich Macht verliehen worden war und deren Handeln ohne rechtliche Folgen blieb. Das Morden wurde zum Alltag für sie. Die SS-Frau Pia Wagner hingegen, die den Mädchen im Lagerbordell „im Namen des Führers“ (S. 178) für ihre Tätigkeit dankt, wird zum Spottobjekt der Häftlinge. Einzelne Täter stellt Kalmar besonders vor, etwa den Universitätsprofessor Dr. Klaus Schilling, den er als vollkommen durchschnittlichen Mann mit Kultur charakterisiert, der jedoch – vermeintlich für die Wissenschaft – Häftlinge mit Malaria ansteckt und so für den Tod von 3.000 Menschen verantwortlich ist. Kalmar, der als Augenzeuge bei den Versuchen dabei war, beschreibt ebenfalls die entwürdigenden Luftdruck- und Unterkühlungsexperimente anderer Ärzte. Damit unterstreicht er, wie wenig ein Leben im Lager galt: „Warum Meerschweinchen – Ein Mensch ist billiger“ (S. 141).

Seine atmosphärischen Beschreibungen – auch von den Räumlichkeiten im Lager – sind voller Adjektive, Adverbien und Vergleiche wie zum Beispiel: „Am nackten Eisen der schneeverkrusteten Rollwagen brannten die blutenden Hände wie Feuer“ (S. 27f.). Kalmar nutzt dabei eine hochemotionale, pathosreiche und wortgewaltige Sprache. In den kurzen Zusammenfassungen der Kapitel im Inhaltsverzeichnis heißt es etwa zum Beitrag „Zwischen den Steinen der Mühle“: „Es gibt keine größere Qual, als das Gefühl, niemals allein zu sein. In der erzwungenen Gemeinschaft fällt uns stärker als irgendwo anders die Einsamkeit an. Wir sprechen in der Nacht ohne Barmherzigkeit mit einem Phantom“ (S. 5). Kalmar greift immer wieder auf Metaphern und Vergleiche zurück, so spricht er beispielsweise von sich als ein „Korn unter Millionen“, das sich im „Räderwerk“ der „Todesmühlen“ befand (alle Zitate S. 11). Die Foltermethoden beschreibt er ausführlich in ihrer Grausamkeit, kommentiert sie jedoch nicht, sondern lässt die Beschreibungen für sich stehen. Auch bricht er in vielen Teilen seiner Schilderungen mit der Lesererwartung und schreibt beispielsweise provozierend über die emotionale Abhärtung des Häftlings durch den Lageralltag: Der Gefangene „gewöhnt sich daran, unbewegt durch das Grauen zu gehen […], lernt wieder sprechen, lernt sogar lachen und kennt zuzeiten seinen eigenen Karneval: eine Art Faschingsfest im Krematorium. Der Sekt wird in den Sargnischen serviert“ (S. 20).

Die Texte wirken durch die dichten und präzisen Beschreibungen mit Dialogen fast romanhaft und ziehen den Leser in die Ereignisse hinein. Kalmar nutzt zudem in seinen sehr strukturierten Artikeln – sie sind oft durch Asteriske noch einmal unterteilt – das Präsens, schreibt in der Ich-Form und stellt Fragen, wodurch der Leser noch einmal näher an das Geschehen herangeführt wird. Den Leser spricht Kalmar mit ‚Du‘ an. Besonders auffällig geschieht dies im Kapitel „Zwischen den Steinen der Mühle“, in dem er die Gefühlslage der Häftlinge gänzlich auf den Leser projiziert: „Der Zwang ist auch noch da, wenn du abends zermürbt auf deinen Strohsack kriechst. […] Du stehst Tag für Tag neben diesen gleichen Menschen auf dem gleichen Platz, wenn die Herde gezählt wird, du schleppst dich mit ihnen zur Arbeit, ziehst die Schotterwagen mit ihnen, ißt, an die gleiche Barackenwand gelehnt, den gleichen abscheulichen Fraß und darfst auch nicht einen Gedanken lang für dich allein der sein, der du bist“ (S. 33).

Kalmar hofft, die Zweifel der Leser ausräumen zu können, und zitiert daher bewusst aus Originaldokumenten der Nationalsozialisten und von amerikanischen Nachrichtenagenturen. Er bleibt sich jedoch der Schwierigkeiten des Redens über seine Erfahrungen bewusst und spricht diese direkt an: „Ich redete zu ihnen [= seine Freunde in Wien], aber sie verstanden mich nicht. Die gemeinsame Sprache hörte auf, eine Brücke zwischen zwei Welten zu sein, die ein unübersehbarer Abgrund trennte. Die Phantasie der Menschen versagte, um ein solches Erlebnis als Realität zu erfassen“ (S. 158f.). Sein eigenes Unvermögen, zu verstehen und zu glauben, dass es Todeslager gibt und dass die Ermordung der Juden und der politischen Gegner Teil der nationalsozialistischen Ideologie ist, thematisiert er im Kapitel „Der Weg in den Abgrund“. Dort schildert er ein Gespräch, das er mit einem erfahrenen Mithäftling während des Abtransports von ‚Invaliden‘ führt, der ihn über Auschwitz, Theresienstadt und Majdanek aufklärt: „‚Vielleicht kommen sie wirklich frei, Walter. Es ist doch möglich! Denke einmal nach. Hundert Mann jeden Tag …‘ ‚Du bist ein Idiot!‘ fuhr mein Bettnachbar mich an, war böse und zog die Decke über den Kopf“ (S. 116). Häftlinge, die teils wissend, teils unwissend über das Ziel der Transporte abreisen, bezeichnet er als Helden.

Dem Buch ist ein Vorwort Kalmars von 1946 vorangestellt, in dem er festhält, wie schwer es ist, die Ausmaße des Massenmords und das Leben in den KZ zu verstehen. Er hebt besonders den Zusammenhalt in den Lagern hervor. Keine gesellschaftlichen, religiösen oder nationalen Grenzen hätten die Häftlinge getrennt: „Wir haben vom ersten Tag an den Kampf aufgenommen, alles Trennende beiseite geschoben und das Einigende gesucht. […] Die schönste Frucht des Konzentrationslagers war das gemeinsame Bekenntnis Aller zur Weltanschauung der Menschlichkeit“ (S. 13f.). Als Beispiel führt er an, wie alle seine Mithäftlinge ihr Leben beim Schmuggel riskieren, um ihn während seiner Krankheit zu unterstützen.


Biografie

Dr. Rudolf Kalmar (geb. 18.09.1900 in Wien, gest. 18.01.1974 in Wien) wurde in eine Journalistenfamilie hineingeboren: Sein Vater war Chefredakteur verschiedener österreichischer Zeitungen und später Vizepräsident der Schriftsteller- und Journalistengewerkschaft. Kalmar selbst schlug nach dem Abitur an einer katholischen Schule die Laufbahn als Journalist ein und begann seine Ausbildung beim „Deutschen Volksblatt“, der Zeitung, für die auch sein Vater schrieb. Später arbeitete er als Auslandskorrespondent und wurde als Staatswissenschaftler an der Universität Wien promoviert. Als Chefredakteur des „Wiener Tag“ und als Autor bzw. ab 1934 Eigentümer und Herausgeber der fortschrittlich-demokratischen Zeitung „Der Morgen“ wurde er zu einem bekannten Journalisten in Österreich, der sich aktiv in die Entwicklung des Landes einmischte. In seinen Artikeln vor 1938 wendete sich Kalmar dezidiert gegen Nationalsozialismus, Austrofaschismus und Pressezensur. Nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich wurde Kalmar am 17. März 1938 verhaftet und am 1. April 1938 mit dem ersten Transport von Wien in das Konzentrationslager Dachau gebracht. Am 27. September 1939 wurde er nach Flossenbürg verlegt: „Er hatte sein demokratisches Bekenntnis und den bis zuletzt geführten Kampf gegen den Nationalsozialismus mit einer fast siebenjährigen Haft zu bezahlen“ (Klappentext). Insgesamt neunzig Monate bleibt Kalmar in deutschen Konzentrationslagern. Seine Lage verbesserte sich durch seine Rückkehr nach Dachau im Sommer 1940, da er dort nicht mehr körperlich arbeiten musste, wie noch zuvor im Steinbruch in Flossenbürg. Kalmar war in Dachau als Funktionshäftling in der Buchhaltung des Lagers eingesetzt. So war es ihm auch möglich, gemeinsam mit anderen Häftlingen an dem Theaterstück „Die Blutnacht auf dem Schreckenstein oder Die wahre Liebe ist das nicht“ zu arbeiten, welches insgesamt an sechs Wochenenden 1943 im Lager Dachau aufgeführt wurde. Im November 1944 wurde Kalmar mit dem Strafbataillon „Dirlewanger“ an die Ostfront gebracht, wo die gesamte Gruppe überlief und so im Januar 1945 in sowjetische Kriegsgefangenschaft geriet. Von dieser Zeit berichtet er in seinen Erinnerungen allerdings nicht.

Nach seiner Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft im September 1945 kehrte er nach Wien zurück, wo ihm der Wiedereinstieg in den Journalismus gelang. Kalmar schrieb dazu in einem Brief an einen Freund, dass er „nach 1945 nichts anderes [sei], als vor 1938“ (zitiert nach Maurer 2009, S. 238). Er arbeitete wieder als Journalist und ab dem 6. Dezember 1947 als Chefredakteur für die Zeitung „Neues Österreich. Organ der demokratischen Einigung“ sowie als Autor; zudem war er im österreichischen P.E.N. aktiv. In seinen Artikeln propagierte er als überzeugter Pazifist einen Neuanfang für Österreich, eine Wiedereingliederung ehemaliger Täter in die Gesellschaft und die Ablehnung der Musealisierung von KZ-Gedenkstätten. Mit dieser Einstellung eckte Kalmar an und seine Anstellung als Chefredakteur wurde 1957 nicht mehr verlängert. Kalmar betätigte sich in den folgenden Jahren als Präsident des Presseclubs Concordia und moderierte unter anderem auch die erste Pressediskussion im österreichischen Fernsehen.

Quellen:

  • Kalmar, Rudolf: Zeit ohne Gnade. Wien 1946.
  • Maurer, Stefan: „‚Es bleibt in der Regel nicht mehr als ein Stoss bedrucktes Papier zurück‘. Rudolf Kalmar (1900-1974)“. In: Kalmar, Rudolf: Zeit ohne Gnade. Hg. von Stefan Maurer und Martin Wedl. Wien 2009, S. 229-245.
  • „Rudolf Kalmar“. In: Munzinger Online/Personen - Internationales Biographisches Archiv. Online: http://www.munzinger.de/search/portrait/Rudolf+Kalmar/0/5402.html (Stand: 11.09.2019).
  • „Schreibstubenkarte“, 0.1/26916725/ ITS Digital Archive, Arolsen Archive.


Werkgeschichte

Kalmar hatte seine Artikel – vor der Publikation als Sammlung 1946 – zunächst für die „Wiener Wochenausgabe“ verfasst, in der sie vom 26. Oktober 1945 bis zum 16. März 1946 unter dem Titel „Schutzhäftling Nr. 1042 erzählt“ als Serie erschienen. Der erste Artikel „Heimkehr zum Ich. Nach 90 Monaten Dachau – wieder in Wien“ war auf dem Titelblatt der ersten Ausgabe nach Kriegsende abgedruckt. Dem Artikel ist eine Bemerkung der Redaktion vorangestellt, in der es über die Intention der Serie heißt: „Was Doktor Kalmar in unserem Blatte schreiben wird, ist kein Bericht über das äußerliche Geschehen, sondern der Versuch einer Darstellung des inneren Erlebnisses der Haft im Konzentrationslager. Sie will nicht noch einmal die Greuel der bestialischen Methoden aufzählen, sondern nur von jener Bitterkeit der kleinen Dinge sprechen, in der die rein menschliche Tragödie eines vieltausendfachen Schicksals liegt“ (Wiener Wochenausgabe vom 26. Oktober 1945, S. 1; ebenfalls im Klappentext der Buchausgabe). Der Aufsatz „Die Blutnacht auf dem Schreckenstein“ war zunächst nicht Teil der Artikelserie, sondern wurde separat in der „Wiener Revue“ (Heft 6, Juni 1946) abgedruckt.

Für die Publikation als Sammlung überarbeitete Kalmar die Texte stilistisch, griff aber „kaum in den Sinn des Textes“ (Kalmar 2009: 197) ein. Da die Buchfassung einen größeren Raum einnehmen konnte, nahm Kalmar Passagen, die er für den knappen Zeitungsartikel streichen musste, wieder auf. Die Herausgeber der Neuedition der Erinnerungen Kalmars weisen darauf hin, dass im Beitrag „… und so danke ich auch im Namen des Führers!“ zwischen 60 und 90 Zeilen für die Zeitung gestrichen werden mussten. Zudem wurde das Kapitel „Die menschliche Seite“ speziell für die Buchausgabe verfasst.

Kalmar war spätestens ab März 1946 aktiv in die Drucklegung involviert, da es zunächst Probleme mit der Zulassung des ehemaligen Zentralverlags der NSDAP als neugegründeter Schönbrunn-Verlag gab. Bereits zu diesem Zeitpunkt waren die Drucklegung und die Papierzuteilung bereits bewilligt. Kalmar bekam ein Honorar von 2.000 Schilling und eine Provision von zehn Prozent des Ladenpreises.

Im Ausland schien man sich von den Erinnerungen Kalmars ebenfalls großen Erfolg zu versprechen: Mehrere Verlage erbaten die Übersetzungsrechte und Metro-Goldwyn-Mayer dachte über eine Verfilmung nach – doch dazu kam es nicht. In Österreich hingegen ergab sich eine Diskrepanz zwischen medialer Resonanz und tatsächlich verkauften Büchern: Das Buch war durch Kalmars 20-minütige Lesungen im Radio und durch eine Vielzahl von positiven Rezensionen in der Öffentlichkeit sehr präsent. Er schrieb 1947: „Die Resonanz […] war tatsächlich ungewöhnlich stark. Ich habe ein ganzes Buch voll von Zeitungsausschnitten (auch englischen und amerikanischen) gesammelt, die erstaunlicherweise ausnahmslos positiv sind“ (zitiert nach Wedl 2009, S. 250).

Die Rezensenten lobten vor allem zwei Dinge: die literarische Herangehensweise und der versöhnliche auf dem Diktum der Menschlichkeit beruhende Tenor. So kann er, wie es in der Rezension des „Volkswillen“ vom 7. November 1946 heißt, in dem schon „sehr erheblichen Umfang“ von KZ-Literatur „eine besondere Stellung“ einnehmen. Ehemalige Mithäftlinge, wie etwa Hermann Langbein, gab es viele unter den Rezensenten, zumeist waren sie begeistert von der genauen Darstellung. So schreibt Fred Heller beispielsweise euphorisch im „Argentinischen Tageblatt“ vom 2. März 1948: „Immer wieder müssten freie Menschen nach diesem Buch greifen, nach dieser dantesken Elegie der Unfreiheit“. Oskar Maria Graf vertrat die Meinung, dass Kalmars Buch andere Publikationen über KZ-Erfahrungen in ihrer Qualität weit überrage: „[I]ch kenne nichts Gleichartiges“ (Aufbau, 11. April 1947). Auch Carl Weiselberger war begeistert: „[I] had to read and read on without interruption until, exhausted, I had reached the last page […]“, das Buch sei ein „imagery of a Frankenstein ‚movie‘ [which] appears in the soft light of a novel by Jane Austen!“ In einer Rezension aus „Die Presse“ vom 21. Dezember 1946 heißt es: „Ein Erlebnisbericht also, wie man sich ihn immer erstattet wünschen möchte. In seiner Art beispielgebend“; der Rezensent empfiehlt die Lektüre bewusst auch „jene[m] Leserkreis […], der meint, Schilderungen solcher Art nicht mehr ertragen zu können“. Rezensionen und wirtschaftlicher Erfolg standen allerdings konträr zueinander: Zwar sei das Buch „the talk of the town“ (Alfred Werner in New York Times vom 28. September 1947, S. 20) gewesen, jedoch verkaufte es sich nur schwer.

1965 publizierte Kalmar in der im Österreichischen Bundesverlag herausgegebenen Schrift „Um der Menschlichkeit Willen. Wir schweigen nicht. Dokumentarische und literarische Aussagen zur Zeitgeschichte“ unter der Überschrift „Von der Unmenschlichkeit“ das Kapitel „Warum Meerschweinchen? – Ein Mensch ist billiger!“ erneut. Neben seinen Auszügen wurden in dem Buch Passagen aus den Werken unter anderem von Bertolt Brecht, Theodor Plievier, Anna Seghers, Ernst Wiechert und Gösta Durchham abgedruckt. Der Auszug wird mit dem Original wortgleich abgedruckt, jedoch greift der Herausgeber in die Struktur ein, zieht Absätze zusammen und übernimmt Hervorhebungen aus Kalmars Text nicht. 1988 wurden Kalmars Erinnerungen im Wiener Verlag Jugend & Volk neu aufgelegt, eine kommentierte Ausgabe wurde 2009 publiziert.

Quellen:

  • Graf, Oskar Maria: „Stärker als der Terror“. In: Aufbau vom 11.04.1947.
  • Gross, Wilhelm (Hg.): Um der Menschlichkeit Willen. Wir schweigen nicht. Dokumentarische und literarische Aussagen zur Zeitgeschichte. Wien 1965, S. 105-111.
  • Heller, Fred: „Rezension zu Zeit ohne Gnade“. In: Argentinisches Tageblatt vom 02.03.1948.
  • Kalmar, Rudolf: „Schutzhäftling Nr. 1042 erzählt“. In: Wiener Wochenausgabe vom 26.10.1945, S. 1.
  • Kalmar, Rudolf: Zeit ohne Gnade. Hg. von Stefan Maurer und Martin Wedl. Wien 2009.
  • Maurer, Stefan und Martin Wedl: „Anmerkungen zur Entstehungsgeschichte und Edition“. In: Kalmar, Rudolf: Zeit ohne Gnade. Hg. von Stefan Maurer und Martin Wedl. Wien 2009, S. 197f.
  • o.A.: „Rezension zu Zeit ohne Gnade“. In: Volkswille vom 07.11.1946.
  • o.A.: „Rezension zu Zeit ohne Gnade“. In: Die Woche vom 21.11.1946, S. 6.
  • Polgar, Alfred: „Zeit ohne Gnade“. In: Austro American Tribune vom März 1947.
  • R.B.: „Das neue Buch“. In: Neue Volkszeitung vom 21.02.1948, S. 6.
  • R.W.: „Rezension zu Zeit ohne Gnade“. In: Die Presse vom 21.12.1946, S. 8.
  • Schwarz, Dr. Paul: „Diplomaticus sagt…“. In: N.Y. Staat-Zeitung und Herold vom 29.10.1947.
  • Wedl, Martin: „Rudolf Kalmars ‚Zeit ohne Gnade‘. Berichte ‚von der anderen Seite des Zaunes‘“. In: Kalmar, Rudolf: Zeit ohne Gnade. Hg. von Stefan Maurer und Martin Wedl. Wien 2009, S. 247-262.
  • Weiselberger, Carl: „The Closed Gates Of Mercy“. In: The Evening Citizen vom 03.04.1948.
  • Weiskopf, F. C.: „Books Abroad“. In: University of Oklahoma Press, Summer 1947.
  • Werner, Alfred: „Gemuetlichkeit in Turmoil: A Letter From Austria“. In: The New York Times vom 28.09.1947, S. 18f.



Bearbeitet von: Christiane Weber