Mord im Lager Hohenstein (1933)

Aus Frühe Texte der Holocaust- und Lagerliteratur 1933 bis 1949
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Angaben zum Werk

Titel Mord im Lager Hohenstein.
Autor Becher, Johannes R. (1891-1958), Gles, Sally (1910-1937), Seghers, Anna (1900-1983)
Genre Bericht, Erzählung

Ausgaben des Werks

Ausgabe von 1933, Moskau / Leningrad
Titel Mord im Lager Hohenstein. Berichte aus dem Dritten Reich

Erscheinungsort Moskau, Sankt Petersburg
Erscheinungsjahr 1933
Auflage Erstauflage

Auflagenhöhe Erstauflage 6.000

Verlegt von Verlagsgenossenschaft Ausländischer Arbeiter in der UdSSR
Gedruckt von Internationale Druckerei Moskau
Publiziert von Becher, Johannes R. (1891-1958), Gles, Sally (1910-1937), Seghers, Anna (1900-1983)
Umschlaggestaltung von Griffel
Illustriert von Griffel

Umfang 87 Seiten
Abbildungen 6 Zeichnungen

Zusammenfassung

Die Anthologie enthält zehn Beiträge, die überwiegend den nationalsozialistischen Terror im Jahr 1933 thematisieren. Insbesondere die Erzählungen „Mord im Lager Hohenstein“ von Peter Conrad (Pseudonym von Netty Reiling = Anna Seghers), „Das Vaterunser“, ebenfalls von Anna Seghers unter dem Namen Peter Conrad veröffentlicht, und „Besuch in Oranienburg“ sind in dieser Hinsicht beispielhafte Beschreibungen. Die Berichte „Mord im Lager Hohenstein“ und „Besuch in Oranienburg“ beziehen sich dabei auf zwei sogenannte frühe Konzentrationslager: Hohnstein in Sachsen und Oranienburg bei Berlin. In dem Konzentrationslager Hohnstein in Sachsen beziehungsweise der Sächsischen Schweiz, das von März 1933 bis August 1934 bestand, waren etwa 5.600 den Nationalsozialisten missliebige Personen inhaftiert.

In „Das Vaterunser“ wird einerseits der brutale Terror der sogenannten Sturmabteilung (SA) gegenüber in ‚Schutzhaft‘ genommenen Personen, andererseits der Hass der Nationalsozialisten gegenüber Andersdenkenden, hier am Beispiel von Christen und Anhängern der ‚Freidenker‘, einer nichtreligiösen Glaubensbewegung, eindringlich geschildert. „Gehetzt!“ thematisiert den Kampf zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten in Berlin. „Sammellager“ ähnelt den Beiträgen von Anna Seghers und G. P. Ulrich und beschreibt die Zustände in einem nicht näher spezifizierten „Lager H.“. „Das tönende Haus“ ist eine literarische Erzählung, die verschiedene politische und soziale Aspekte der frühen 1930er Jahre thematisiert, „Rundreise durchs Dritte Reich“ eine scharfsinnige Analyse desnationalsozialistischen Regimes. Der Band enthält Illustrationen beziehungsweise Zeichnungen des unter Pseudonym tätigen Künstlers Griffel, die einige der beschriebenen Ereignisse grafisch darstellen. Die Beiträge verdeutlichen, dass bereits 1933 ein fundiertes Wissen über die Strukturen und Wirkungsmechanismen der nationalsozialistischen Diktatur vorhanden war.

Der Zeitraum der Erzählung „Und darum, Genossen …“ von Johannes R. Becher ist das Frühjahr 1933, Ort der Handlung ist Berlin, unmittelbar nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten. Beschrieben wird die letzte Versammlung der Sozialdemokratischen Partei im Berliner Sportpalast, zu der Wilhelm Pieck als Redner eingeladen ist.

In der ebenfalls in Berlin spielenden Geschichte „Der Ueberläufer“ von G. P. Ulrich geht es um Kurt Rohrbach, einen jungen Mann, der im Jahr 1933 erst kommunistisch aktiv ist, dann aber zunehmend Gefallen an den Nationalsozialisten findet und deren Bewegung noch im Jahr 1933 beitritt. Im weiteren Verlauf wird das brutale Vorgehen der SA nach dem Brand des Reichstagsgebäudes in Berlin in der Nacht vom 27. auf den 28. Februar 1933 beschrieben. Kurt Rohrbach – ein zwischen den politischen Fronten Hin- und Hergerissener – wird schließlich von den Nationalsozialisten verhaftet, nachdem diese herausbekommen haben, dass er heimlich Informationen an seine kommunistischen Freunde weitergegeben hat.

Die nur vier Seiten lange Erzählung „Mord im Lager Hohenstein“ schildert den sich in diesem Lager ereignenden Mord an Fritz Gumpert durch Angehörige der SA. Seghers zeichnet bereits zu diesem frühen Zeitpunkt ein präzises Bild der nationalsozialistischen Schergen, die nach dem Mord drohen: „So wird es jedem gehen, merkt euch das! Unsere SA ist nicht zu zersetzen, ihr Judenknechte“ (S. 25f.). Die Erzählung ist in einem sachlichen, dennoch literarischanspruchsvollen Stil verfasst.

In „Besuch in Oranienburg“ von G. P. Ulrich werden in sachlicher, knapper Form die Verhältnisse in dem Konzentrationslager Oranienburg, das die SA im März 1933 auf einem früheren Brauereigelände in Oranienburg bei Berlin eingerichtet hatte, beschrieben. Bis Juli 1934 wurden in diesem Lager 3.000 Menschen inhaftiert. Der Verfasser beschreibt Erfahrungen völliger Absurdität und Erniedrigung im Konzentrationslager: „Die Arbeit – nennen wir es einmal so – ist für Wächter und Bewachte so ziemlich das Sinnloseste, was sich denken läßt. Drei junge Arbeiter treiben sechs ihrer bisherigen Stempelkollegen an, Grashalme beschleunigt aus der Erde zu zupfen. Die Sechs kriechen in völlig zerlumpter Kleidung herum […] Handwerkszeug gibt es nicht. Auch würde das Gras, wüchse es ruhig weiter, niemanden stören“ (S. 31). Hierbei existiert weder Respekt noch Rücksichtnahme: „SA-Männer treiben Arbeiter an, die ihre Großväter sein könnten. ‚Alte Sau‘, ‚rotes Schwein‘, ‚Eier schleifen‘ – die Ausdrücke sind dem Wortschatz der kaiserlichen Armee entnommen. Nur sind sie noch häufiger und noch gemeiner“ (S. 32). Stellenweise beschreibt der Autor die nationalsozialistischen Schergen mit treffendem Sarkasmus. Des Weiteren thematisiert er propagandistische Indoktrination, mangelhaftes, unappetitliches Essen und schwer erträgliche hygienische Bedingungen in den Häftlingsbaracken: „Nicht zu beschreiben ist aber die Luft, die durch den Aufenthalt von fünfzig Menschen oder mehr, deren ungewaschene Kleider, deren verschwitzte Körper hier ausdünsten, erzeugt wird“ (S. 34). Der Bericht schließt dennoch mit einem hoffnungsvollen Ausblick, der eine Verortung des Autors in der kommunistischen oder sozialistischen Bewegung ermöglicht.

Die Erzählung „Das Vaterunser“, der zweite Beitrag von Anna Seghers, beginnt mit der Verschleppung zahlreicher, bereits von den Nationalsozialisten in ‚Schutzhaft‘ genommener Personen aus einer Haftanstalt in eine SA-Kaserne. Der Satz „An den Bäumen war erst wenig Laub, es war niemand im Schulgarten, weil die Osterferien verlängert waren“ (S. 35) ermöglicht eine zeitliche Einordnung im Frühjahr 1933. Das „wir“ des Berichts scheint sich zumindest teilweise auf Mitglieder des sogenannten Deutschen Freidenker-Verbands zu beziehen: „Ich wurde im Hof gelassen, Jussitzka, der Kassierer von den Freidenkern ist, Adolf und Franz aus unserer Zelle. Die anderen habe ich auch gekannt“ (S. 36). Die SA befiehlt den Gefangenen, nachdem sie sich in einem „Karo aus vier Viererreihen“ (S. 36) aufgestellt haben, die Hände zu falten. Es folgt eine Verhöhnung des christlichen Gebetes ‚Vaterunser‘ durch den befehlenden SA-Standartenführer, der die Häftlinge zwingt, das Gebet im Kasernenhofton aufzusagen. Seghers gibt die sich in der Sprache widerspiegelnde zynische Haltung der Schergen gegenüber dem christlichen Glauben realitätsgetreu wieder: „Der Standartenführer schrie: […] ‚Hände falten!‘ […] ‚Beten lernen!‘“ (S. 36). Hierauf werden alle Häftlinge, die ihre Hände nicht gefaltet haben, einer brutalen Behandlung unterzogen: Es kommt zu weiteren grausamen Misshandlungen. Die unmenschliche Tortur gipfelt in folgender Szene: „‚Amen! Amen!‘ hat der Standartenführer gerufen, der Kleine hat auch: ‚Amen! Amen!‘ gerufen, man hat auf uns herumgeschlagen, bis wir auf dem Pflaster lagen, und auch da waren wir denen noch nicht flach genug. Sie haben noch getreten“ (S. 40).

In „Gehetzt!“ irrt der Protagonist Ernst Kämpfer – der Name gibt bereits Anlass zu der Annahme, dass er gegen die Nationalsozialisten kämpft – „ziellos zwischen dem Gemäuer des Labyrinths Berlin“ (S. 41) und führt ein wörtlich wiedergegebenes Selbstgespräch: „‚Nun mal endlich zu Ende denken! Wieviel Möglichkeiten bestehen? Wenn ich noch lange in diesem Anzug hier durch den Westen renne, falle ich auf! Dann ist alles zu Ende! Nach Hause – unmöglich! Bei Karl – unmöglich! […] Nimm dich zusammen, du fällst auf! Wie der mich anstarrt!‘“ (S. 41). Der innere Monolog wirkt beklemmend und verdeutlicht die Schutzlosigkeit des Protagonisten. Ernst Kämpfer ist Mitglied einer Widerstandsorganisation: Schließlich begegnet Kämpfer vier jungen, nationalsozialistisch gesinnten Männern, die ihn verfolgen und unter dem Beifall von Passanten erschießen.

In Hans Scheers Bericht „Sammelbaracke“ erfährt Max, der Protagonist, die Verhältnisse in einem „Lager H.“: „Am vorderen Fenster der Holzbaracke sitzt eine Gruppe des SA-Wachkommandos […] sie kloppen einen Skat. Vier andere vom Dienst patrouillieren, mit Karabinern unter dem Arm, draußen und drinnen. Etwa achtzig Gefangene hocken an schmalen Tischen und Bänken, schlafen in kauernder Haltung, sprechen leise, spielen mit Knöpfen und Steinchen Mühle. In diesem Lager wird nicht gearbeitet, sondern morgens und nachmittags je zwei Stunden exerziert, ‚gebimst‘. Die Kost ist […] ohne Fett, dafür mit viel Soda. […] Die meisten sehen schon grau aus, müde, verquollen, Magenkrämpfe, Sodakotzen“ (S. 47). Die Ernährung ist ebenso schlecht wie die Schlafbedingungen: „Jede Minute schreit einer nachts auf im Schlaf oder redet“ (S. 47). Des Weiteren benennt der Autor Isolationshaft und Prügel. „Das tönende Haus“ ist eine literarische Auseinandersetzung mit den politischen und sozialen Verhältnissen in Deutschland in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Der Protagonist heißt Zinke, „war Maschinensetzer bei Scherl, ein alter Gewerkschaftler, schon seit 1894 gehörte er den Gewerkschaften an. Er war 50 Jahre alt“ (S. 50). Einerseits beschreibt Becher Zinkes private und berufliche Lebensumstände, andererseits die politischen und sozialen Verhältnisse zur Zeit der Weimarer Republik. Dank ungeheurer Sparsamkeit ist das Sparguthaben so angewachsen, dass Zinke ein Haus zu erwerben imstande ist, das, wenn die Familie Besuch empfängt, von den Nachbarn „das tönende Haus“ genannt wird (S. 58). Im weiteren Verlauf erfährt der Leser von den politischen Unruhen, den Auseinandersetzungen zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten, der Wirtschaftskrise und der sogenannten Machtergreifung Adolf Hitlers. Zinkes Sohn Hermann äußert: „‚Es wird schlimm kommen, ganz schlimm …‘“ (S. 64). Kurz darauf ist der Terror da: „Die Wohnungseinrichtungen der kommunistischen Funktionäre wurden in Klump geschlagen, die Bücher auf die Straße geworfen, mit Petroleum begossen und verbrannt“ (S. 65). Auch für die Hauptfigur kommt es zum Schlimmsten, als „drei Mann, Totenköpfe an den Mützen“ (S. 67) um „kurz vor vier Uhr morgens“ (S. 66) gewaltsam in Zinkes Haus eindringen und ihn, als er sich wehren will, erschießen. Stilistisch fällt auf, dass Becher dramatisiert, indem er bestimmte Imperative in kurzer Reihenfolge wiederholt, so taucht „Sparen!“ in einem elf Zeilen umfassenden Absatz sechsmal (S. 55f.), „Lüge!“ innerhalb von neun Zeilen siebenmal auf (S. 64).

Der letzte Beitrag „Rundreise durchs Dritte Reich“ ist eine weitere Auseinandersetzung mit den politischen und sozialen Verhältnissen in Deutschland im Frühjahr 1933. Beleuchtet werden etwa die Unterdrückung der Arbeiterschaft und die Einführung des Hitlergrußes. Außerdem thematisiert der Bericht die Wirtschaftspolitik der Regierung: „Herr Hitler […] läßt sich seine Villa bei Berchtesgaden ein wenig umbauen. Aber er hat – als gutes Beispiel – dem Baumeister die Bedingung gestellt, daß nach Möglichkeit keine Maschine verwendet wird. So soll die Arbeitslosigkeit behoben werden“ (S. 77). Den unbedingten politischen Machtanspruch der Nationalsozialisten erlebt die Bevölkerung unter anderem durch den Zwang der Hausbeflaggung. Nicht viele haben den Mut, sich dem zu verweigern.

Werkgeschichte

Die in der Sowjetunion publizierte Sammlung wird auf S. 97 der von den Nationalsozialisten zusammengestellten ‚Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums‘, Stand vom 31. Dezember 1938, erwähnt.

Quellen:

  • Baganz, Carina: Erziehung zur „Volksgemeinschaft“? Die frühen Konzentrationslager in Sachsen 1933/34–37. Berlin: Metropol, 2005.
  • Diekmann, Irene A. / Wettig, Klaus (Hrsg.): Konzentrationslager Oranienburg. Augenzeugenberichte aus dem Jahre 1933. Gerhart Seger und Max Abraham. Potsdam:  Verlag für Berlin-Brandenburg, 2004.
  • Haase, Norbert / Schmeitzner, Mike (Hrsg.): Peter Blachstein. „In uns lebt die Fahne der Freiheit.“ Zeugnisse zum frühen Konzentrationslager Burg Hohnstein. Dresden: Stiftung Sächsische Gedenkstätten, 2005.
  • Morsch, Günter: Konzentrationslager Oranienburg. Berlin: Edition Hentrich, 1994.
  • Morsch, Günter: Von der Sachsenburg nach Sachsenhausen. Bilder aus dem Fotoalbum eines KZ-Kommandanten. Eine Ausstellung der Gedenkstätte und des Museums Sachsenhausen/Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten. Berlin: Metropol, 2006.



Bearbeitet von: David Lambrecht