Der Schattenmann (1947)

Aus Frühe Texte der Holocaust- und Lagerliteratur 1933 bis 1949
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Angaben zum Werk

Titel Der Schattenmann
Autor Andreas-Friedrich, Ruth (1901-1977)
Genre Tagebuch

Ausgaben des Werks

Ausgabe von 1947, Berlin
Titel Der Schattenmann
Untertitel Tagebuchaufzeichnungen 1938-1945

Erscheinungsort Berlin
Erscheinungsjahr 1947

Verlegt von Suhrkamp Verlag
Gedruckt von Broschek & Co.
Publiziert von Andreas-Friedrich, Ruth (1901-1977)

Umfang 305 Seiten

Bibliotheksnachweise UBGI-icon.gif UB Gießen (Print-dnb-icon.gif gedruckte Ausgabe)


Zusammenfassung

In ihren Tagebuchaufzeichnungen vom 27. September 1938 bis zum 28. April 1945 berichtet die Journalistin Ruth Andreas-Friedrich von ihrem Leben in Berlin, den Verfolgungsmaßnahmen des NS-Regimes vor allem gegen Juden, von Hilfe und Solidarität für die Verfolgten sowie vom Widerstand. Die nachträglich bearbeiteten und gekürzten Tagebucheinträge zeichnen sich durch eine dichte Schilderung nah an den Geschehnissen aus; viele Dialoge und Spannungselemente verleihen dem Text Lebendigkeit. Die Namen der Beteiligten verschlüsselt Andreas-Friedrich, erst in späteren Ausgaben werden die meisten der wahren Namen im Anhang angegeben.

Andreas-Friedrich gehört einem regimekritischen Kreis an, der es sich vor allem ab Kriegsbeginn zur Aufgabe gemacht hat, den verfolgten Juden zu helfen. Ausführlich stellt sie die Lage ihrer jüdischen Freunde und Bekannten dar, die zunehmende Einengung ihrer Lebensmöglichkeiten, die Schwierigkeiten bei der Auswanderung und schließlich die Deportationen. Einen breiten Raum nehmen die Hilfsmaßnahmen des Kreises um Andreas-Friedrich, der Gruppe „Onkel Emil“ ein. Bereits während der Novemberpogrome nehmen sie viele Juden, denen die Verhaftung droht, vorübergehend bei sich auf. In den folgenden Monaten und Jahren unterstützen sie Juden, indem sie sie mit zusätzlichen Lebensmitteln und falschen Papieren versorgen. Sie verstecken zudem zahlreiche Juden und organisieren immer neue Verstecke für sie. Anschaulich beschreibt sie die zunehmenden Schwierigkeiten, vor denen sich die Untergetauchten und ihre Helfer gestellt sehen.

Neben der Hilfe für die Verfolgten spielt der organisierte Widerstand eine große Rolle im Tagebuch. Die Gruppe „Onkel Emil“ beteiligt sich an der Verteilung von Flugblättern, bringt nachts regimefeindliche Parolen an und knüpft Kontakte zu anderem Gruppierungen, unter anderen zum Kreisauer Kreis um Helmuth James von Moltke. Über Verbindungen zu dem Gefängnispfarrer Harald Poelchau bemühen sie sich um Hilfe für die zahlreichen nach dem missglückten Anschlag auf Hitler am 20. Juli 1944 verhafteten Widerständler. Überdies hören sie vom Widerstand der Weißen Rose in München. Sie können sich ein Flugblatt beschaffen, das sie vervielfältigen und unter anderem in die Schweiz und nach Schweden schleusen.

Weitere wichtige Themen des Tagebuchs sind der Bombenkrieg und seine Folgen für die Berliner Bevölkerung sowie die Auflösungserscheinungen des NS-Regimes in der Kriegsendphase. Ein besonderes Augenmerk legt Andreas-Friedrich auf die Reaktionen ihrer Mitmenschen hinsichtlich der NS-Propaganda sowie der Verfolgungsmaßnahmen. Ein Hauptmotiv ihrer Publikation ist es, zu betonen, dass nicht alle Deutschen Nationalsozialisten waren, sondern dass viele die Verbrechen des Regimes abgelehnt haben, wenngleich sie diese nur mit stiller Wut ansehen konnten, ohne etwas dagegen zu unternehmen.

In ihrem Vorwort betont die Autorin: „Dieses Buch will kein Kunstwerk sein. Dieses Buch ist Wahrheit“ (S. 7). Sie will nicht von Heldentaten und vom Widerstand berichten, sondern von jenen, die das Regime ablehnten, aber blieben und den Verfolgten halfen, soweit es unter den Bedingungen der Diktatur möglich gewesen ist. Explizit wendet sie sich gegen eine pauschale Verteufelung der Deutschen: „Dieses Buch kann seinen Zweck nur dann erfüllen, wenn es Wort für Wort ehrlich ist. Möge es als Zeugnis in die Welt hinausgehen, daß auch unter Hitlers Regime in Deutschland Menschen gelebt haben, die es nicht verdienen, daß man um einer verantwortungslosen Regierung willen sie und ihr ganzes Volk verachtet! Dann werden diese Aufzeichnungen – und das ist ihr Ziel – vielleicht in bescheidenem Maße dazu beitragen, das tiefgesunkene Ansehen des deutschen Volkes in der ganzen Welt um ein winziges wieder zu heben“ (S. 8).


Biografie

Ruth Andreas-Friedrich (geb. 23.09.1901 in Berlin, gest. 17.09.1977 in München) war in der Wandervogelbewegung aktiv. Anfang der zwanziger Jahre absolvierte sie eine Ausbildung zur Wohlfahrtspflegerin und 1922/23 zur Buchhändlerin. 1924 heiratete sie den Fabrikdirektor Otto A. Friedrich; ein Jahr später wurde ihre gemeinsame Tochter geboren. Schon in den zwanziger Jahren begann sie für verschiedene Zeitungen und Frauenzeitschriften zu schreiben, auch über den Regierungsantritt der Nationalsozialisten hinaus, vor allem für die Zeitschrift „Die junge Dame“. Nach der Scheidung lebte Ruth Andreas-Friedrich mit dem Dirigenten Leo Borchardt zusammen, dem 1933 ein Auftrittsverbot auferlegt wurde.

Ruth Andreas-Friedrich und ihr Lebensgefährte waren Teil der Widerstandsgruppe „Onkel Emil“, die sich vor allem um Verfolgte des NS-Regimes kümmerte, Juden falsche Papiere, Unterkünfte, Lebensmittelkarten usw. beschaffte, Männer mit Attesten vor dem Wehrdienst bewahrte und schließlich auch Parolen an Häuser malte, Flugblätter verteilte sowie Sabotage etwa in der Rüstung oder auch der NS-Propaganda betrieb.

Nach dem Krieg arbeitete Ruth Andreas-Friedrich weiter als Journalistin, sie wurde Herausgeberin von zwei Frauenzeitschriften, unter anderem der Wochenzeitung „sie“. 1948 zog sie nach München, wo sie vor allem zahlreiche erfolgreiche Ratgeber verfasste. Im September 1977 nahm sie sich das Leben.

Quellen:

  • Drews, Jörg: "Nachwort". In: Andreas-Friedrich, Ruth: Der Schattenmann. Tagebuchaufzeichnungen 1938-1945. Frankfurt am Main 1986, S. 291-313.
  • Friedrich, Karin: Zeitfunken. Biographie einer Familie. München 2000.


Werkgeschichte

Laut ihres Vorworts zur Neuausgabe von 1964 fasste Ruth Andreas-Friedrich im Spätsommer 1938 den Entschluss, Notizen anzufertigen und Material zu sammeln, um nach dem Ende des NS-Regimes Zeugnis darüber ablegen zu können, „daß nicht jeder, der in Deutschland blieb, ein Nazi sei“ (zitiert nach Drews 1986, S. 294). Kurz darauf entschied sie sich für tägliche Aufzeichnungen: „Als dann, wenige Wochen später, die Synagogen brannten, entschloß ich mich, meine Aufzeichnungen sofort so niederzuschreiben, daß ich sie am ‚Tage X‘ unverzüglich denen vorlegen könne, um deren Verständnis es mir ging. Das geschah. Tag für Tag schrieb ich auf, was ich hörte, sah, erlebte. […] So lag mein Tagebuch, notiert bis zum 28. April 1945, fertig da, als am 8. Mai 1945 der Krieg zu Ende war“ (ebd.).

Nach Kriegsende fertigte sie bis September 1945 eine um sehr Privates und Berufliches deutlich gekürzte Maschinenabschrift an, die sie einer Freundin in New York schickte. Carl Zuckmayer setzte sich stark für eine Übersetzung ins Englische ein, die schließlich im Jahr darauf erschien.

1947 publizierte der Suhrkamp Verlag die Aufzeichnungen in der Originalsprache. Das Buch war recht erfolgreich und rasch vergriffen. 1962 brachte der Münchner Verlag Georg Lentz eine um die Tagebuchaufzeichnungen bis 1948 erweiterte Neuausgabe unter dem Titel „Schauplatz Berlin. Ein deutsches Tagebuch“ heraus, die 1964, mit einem neuen Vorwort der Verfasserin, im Rowohlt Verlag als Taschenbuch erschien. Das Rowohlt-Taschenbuch aber lässt die Tagebuchaufzeichnungen erneut mit Kriegsende abbrechen. In der DDR erschien das Tagebuch von Andreas-Friedrich 1972, in zweiter Auflage 1977. Auch die ostdeutsche Ausgabe lässt die Aufzeichnungen im April 1945 enden. 1983 veröffentlichte der Suhrkamp Verlag das Buch erneut unter seinem ursprünglichen Titel und setzte innerhalb kurzer Zeit über 10.000 Exemplare ab, sodass 1984 eine weitere Ausgabe gedruckt wurde. Die Nachkriegsaufzeichnungen von Ruth Andreas-Friedrich veröffentlichte Suhrkamp daraufhin unter dem Titel „Schauplatz Berlin. Tagebuchaufzeichnungen 1945 bis 1948“ in einer gesonderten Ausgabe. In späteren Jahren folgten weitere Auflagen und eine einbändige Sonderausgabe der beiden Bücher.

Neben den zahlreichen deutschen Neuausgaben erlebte das Buch auch Übersetzungen ins Englische (1946), Französische (1966), Niederländische (1966), Hebräische (1967) und Ungarische (1975). Elisabeth Wöllmer rühmte Andreas-Friedrichs Aufzeichnungen und las sie in erster Linie als ein Zeugnis aufrechter Deutscher „aus der Zeit der Not“ (Wöllmer 1948, S. 317) gegen eine undifferenzierte Anklage der Deutschen von außen, denn sie schreibt weiter: „[E]s fehlt erfreulicher Weise auch die in derartigen Berichten so oft verstimmende tendenziöse Ausrichtung“ (ebd.). Das Buch sei aber nicht nur für das deutsche Lesepublikum geeignet für die „Aufrichtung seines Selbstgefühls“ (ebd.), es solle „auch die das deutsche Volk anklagenden Ausländer belehren“ (ebd.).

Quellen:

  • Drews, Jörg: "Nachwort". In: Andreas-Friedrich, Ruth: Der Schattenmann. Tagebuchaufzeichnungen 1938-1945. Frankfurt a.M. 1986, S. 291-313.
  • Wöllmer, Elisabeth: „Rezension“. In: Welt und Wort (1948), Nr. 3, S. 317.



Bearbeitet von: Markus Roth