Die Karwoche (1948)

Aus Frühe Texte der Holocaust- und Lagerliteratur 1933 bis 1949
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Angaben zum Werk

Titel Die Karwoche
Autor Andrzejewski, Jerzy (1909-1983)
Genre Erzählungen

Ausgaben des Werks

Ausgabe von 1948, Wien
Titel Die Karwoche
Untertitel Erzählung

Erscheinungsort Wien
Erscheinungsjahr 1948
Auflage 1

Verlegt von Zwei Berge Verlag
Gedruckt von Globus II
Publiziert von Andrzejewski, Jerzy (1909-1983)
Umschlaggestaltung von Paar, Ernst (1906-1986)

Umfang 217 Seiten

Bibliotheksnachweise UBGI-icon.gif UB Gießen (Print-dnb-icon.gif gedruckte Ausgabe)


Zusammenfassung

Jerzy Andrzejewski erzählt die Geschichte der Jüdin Irena Lilien und des Polen Jan Malecki, die sich in der Karwoche 1943 vor dem Hintergrund des Aufstands im Warschauer Getto zuspitzt. Hauptthema der Erzählung ist weniger die Verfolgung und Ermordung der Juden als vielmehr das polnisch-jüdische Verhältnis im Schatten des Holocaust sowie die Haltungen zum und Reaktionen der nichtjüdischen Bevölkerung Polens auf den Massenmord. Im Mittelpunkt steht die Jüdin Irena Lilien, die in wohlhabenden und behüteten Verhältnissen aufgewachsen ist. Ihr Vater, ein angesehener Wissenschaftler, betreibt auch nach der deutschen Besatzung weiter Studien und nimmt die neuen Realitäten kaum wahr. Irena hingegen registriert diese durchaus, trotzt den Gefahren jedoch bewusst: Sie geht in Cafés, trifft sich mit Freunden und begegnet der Verfolgung mit heiterer Leichtlebigkeit. Lange Zeit kann sich die Familie einem Umzug ins Getto entziehen und lebt, als Juden unerkannt, in der Nähe Warschaus. Als sie schließlich doch entdeckt werden, können sie sich durch Bestechung freikaufen, müssen jedoch mehrfach umziehen.

Irena ist eng befreundet mit dem Polen Jan Malecki, doch im Laufe der Zeit reißt der Kontakt ab. Während sie und ihre Familie den Verfolgungsdruck immer stärker spüren, verläuft sein Leben in glücklichen Bahnen. Er ist erfolgreich im Beruf, hat geheiratet und seine Frau erwartet ein Kind: „Und nichts errichtet eine größere und unüberwindlichere Scheidewand zwischen zwei Menschen als das Glück des einen und das Leid des anderen. Viele große und kleine Dinge können Anlaß zur Entfremdung sein, aber keines so fühlbar wie die Ungleichheit der Schicksale“ (S. 16).

Nach einem Zeitsprung von fast zwei Jahren setzt die Handlung am 19. April 1943 mit dem Beginn des Aufstands im Warschauer Getto wieder ein. Jan kommt am Getto vorbei, wo sich bereits viele Neugierige versammelt haben, die sich über die Schwierigkeiten der Deutschen bei der Bekämpfung der jüdischen Aufständischen freuen, aber kein Mitleid mit den Juden im Getto zeigen. Jan gerät in einen Schusswechsel und trifft, als er sich in einen Hof rettet, zufällig auf Irena. Die beiden haben sich entfremdet: Sie haben die Verfolgungen härter gemacht und er leidet allgemein unter Schuldgefühlen wegen des Schicksals der Juden und speziell auch ihr gegenüber, weshalb er sie, weniger aus Überzeugung, als vielmehr aus einem Pflichtgefühl heraus, mit zu sich nimmt.

In Jans Nachbarschaft wird Irenas Anwesenheit bald bemerkt und argwöhnisch betrachtet. Frau Piotrowska, eine Nachbarin, ahnt bald, dass Irena Jüdin ist. Auch ihr Mann weiß Bescheid und beobachtet die Wohnung der Maleckis genau, da er sexuell an Irena interessiert ist. Diese gerät darüber in Panik und will fliehen, kann aber von Jans Frau Anna zum Bleiben überzeugt werden.

Unterdessen spitzt sich zwischen Frau und Herrn Piotrowska ein Konflikt zu. Frau Piotrowska macht den im gleichen Haus lebenden Vermieter auf Irena aufmerksam. Ihr Mann weist sie deswegen brutal zurecht, was seine Frau nur noch mehr in Rage bringt: „Krepieren soll diese jüdische Schlampe, diese verfluchte Saujüdin“ (S. 170f.). Am Tag darauf, es ist Karfreitag, nutzt Herr Piotrowski die Abwesenheit von Jan und Anna aus und dringt in deren Wohnung ein. Er bedrängt Irena und will sie vergewaltigen, sie kann sich jedoch wehren. Nun kommt es zu einer Verkettung unglücklicher Umstände: Ein Kind stürzt, als es sich beim Spielen zu weit aus dem Fenster beugt, herunter, überlebt aber. Frau Piotrowska sieht daraufhin Irena auf dem Balkon, beschimpft sie und gibt ihr die Schuld an dem Unfall. Sie stürmt wutentbrannt in die Wohnung der Maleckis, zerrt Irena heraus und verjagt sie. Bevor Irena jedoch geht, verflucht und beschimpft sie die neugierig versammelte Nachbarschaft: „Und ihr, ihr sollt alle wie die Hunde verrecken! [...] Ausgeräuchert sollt ihr werden – wie wir! Niederschießen sollen sie euch! Umbringen“ (S. 216f.).

Die Erzählung enthält auch eine Reihe von Episoden, die den Antisemitismus und die Haltung der polnischen Bevölkerung auch abseits der Nachbarschaft der Maleckis thematisieren. Auf Jans Arbeitsstelle zum Beispiel entspinnen sich Gespräche über die Juden und ihr Schicksal. Kollegen von Jan quittieren die Ermordung der Juden mit Genugtuung. Einer von ihnen meint, Hitler nehme ihnen nur die Arbeit ab.

Auch innerhalb der Familie Malecki kommt es zum Konflikt. Jans Bruder Julek, der im Untergrund aktiv ist, wirft Jan vor, nur allgemeine, unverbindliche Phrasen gegen den Antisemitismus zu äußern. Er sei genau wie die vielen, die nur die Methoden der Nationalsozialisten, nicht aber die grundsätzliche Richtung ihrer Politik ablehnten. Im Gegensatz zu Jan will er mit seinen Kameraden aktiv werden und den Gettokämpfern von außen zur Hilfe eilen. Im Gespräch mit seiner Schwägerin Anna sagt er über seine Motive: „Glaube nicht, daß wir dies tun, um verschiedene Verfehlungen und Verbrechen unserer Landsleute wettzumachen. Kein Sühnopfer! Das ist nichts für uns. Alles ist viel einfacher. Dort gehen Menschen zugrunde, die um das Gleiche kämpfen wie wir: um die Freiheit, um die Zukunft. Also muß jemand von uns bei ihnen sein. Das ist doch klar, nicht? Einfach Solidarität, sonst nichts“ (S. 124).

Die Erzählperspektive im Roman wechselt zwischen einer auktorialen und einer personalen Erzählsituation. Durchgehend wird jedoch eine distanzierte, nüchterne Erzählhaltung eingenommen, die bisweilen der eines dokumentarischen Chronisten gleicht, der sich jeden Kommentars enthält, sodass manche Figuren etwas farblos oder gar stereotyp erscheinen.


Biografie

Siehe Andrzejewski, Jerzy (1909-1983)


Werkgeschichte

Andrzejewski hat die Erzählung „Die Karwoche“ in unmittelbarer zeitlicher Nähe zum Getto-Aufstand in Warschau und dessen Niederschlagung geschrieben. Als der Aufstand ausbrach, begann er mit dem Schreiben und schloss die Erzählung kurz nach dessen Ende ab. Sie gehört damit neben Czesław Miłosz' Gedicht „Campo di Fiori“ zu den wohl frühesten literarischen Zeugnissen des Aufstands und der Ermordung der Juden, die von unbeteiligten Dritten geschrieben wurden. Im Juni 1943 las er bei einem Autorenabend aus dem Manuskript vor; bereits einmal zuvor hatte er anderen daraus vorgetragen. Die Kollegen waren konsterniert; der Schriftsteller Jarosław Iwaszkiewicz spricht in seinem Tagebuch von einer „Grabesstille“ (nach Literatura 2012, S. 408), die geherrscht habe. Er verspürte eine große Unruhe angesichts der Geschwindigkeit, mit der Andrzejewski die furchtbare Realität literarisierte: „Die Asche des Gettos ist noch nicht abgekühlt und er hat schon eine Erzählung darüber geschrieben. Er hat diese schreckliche Wirklichkeit in irgendeine organisierte, komponierte Welt transponiert. Das kann vielleicht nie gelingen“ (ebd.). Diese zeitnahe Entstehung der Erzählung hat, so eine verbreitete Meinung in der Literaturwissenschaft, erheblich dazu beigetragen, dass die Figuren stereotyp und die Welt nur schwarz-weiß gezeichnet werde.

Erstmals publiziert wurde die polnische Originalversion 1945 in einem Band mit Andrzejewskis Erzählungen. Hierfür hatte er den Text im Sommer 1945 erheblich überarbeitet und einzelne Passagen ganz neu geschrieben. Die Ursprungsfassung von 1943 ist nicht überliefert. In Polen wurde „Die Karwoche“ meist gemeinsam mit den anderen Erzählungen des Bandes kursorisch besprochen. In einer Sammelbesprechung geht Mieczysław Suchocki nur knapp auf die Erzählung ein, indem er schreibt, sie biete einen Querschnitt durch die polnische Bevölkerung in Bezug auf ihre Haltung zum Getto-Aufstand und zu versteckten Juden. Mieczysław Markowski lobt die Erzählung ungeachtet seiner Kritik an Einzelheiten; es sei kein überflüssiges Wort vorhanden und Andrzejewski gelinge eine überzeugende Darstellung menschlicher Konflikte vor historischem Hintergrund. „Wielki tydzień“, hebt Markowski über den polnischen Originaltitel hervor, „soll das polnische Gewissen aufrütteln, uns zur Gewissensprüfung hinsichtlich unserer Haltung zur Vernichtung der Juden im Generalgouvernement zwingen“ (Markowski 1946, S. 5). In der Zeitung „Tygodnik Warszawski“ kritisierte Edward Jastrząb, die Erzählung werde von einem utilitaristisch-propagandistischen Ziel dominiert, was sich in der Gestaltung einzelner Figuren niederschlage. Deren Charakterisierung ergebe sich nicht aus ihren Handlungen, sondern nur aus einer summarischen Aufzählung ihrer Eigenschaften, die sich nicht entwickeln.

Schon in den Jahren 1948 bis 1950 war die Erzählung Schullektüre in Polen und damit der erste Text an polnischen Schulen, in dem eine Jüdin und ihr Schicksal im Mittelpunkt stehen, auch wenn ein nichtjüdischer Pole aus einer Außenperspektive darüber schreibt. Allerdings wurden durch die ausgewählten Auszüge die Akzente verschoben, indem in ihnen weniger das Schicksal der jüdischen Protagonistin, als vielmehr der Entschluss von Julek Malecki, den Gettokämpfern gemeinsam mit Kameraden des sozialistischen Untergrunds von außen zur Hilfe zu kommen, im Vordergrund stand.

1948 erschien im Wiener Zwei Berge Verlag erstmals eine deutsche Übersetzung der Erzählung, die 1950 auch in Dresden publiziert wurde. Andrzejewski hatte seinerzeit schon einen gewissen Bekanntheitsgrad erlangt. Der Wiener Verlag warb daher auf dem Schutzumschlag mit der farblich hervorgehobenen Aufschrift „Das preisgekrönte Meisterwerk des polnischen Dichters!“. Im Klappentext hob er die über das historische Ereignis hinausgehende aktuelle Bedeutung der Erzählung hervor: „Das Buch ist ein zeitnaher Beitrag zum zeitlosen Thema der Menschlichkeit und Menschenwürde; ein Beitrag zur Gesittung und Befriedung der Völker und daher nicht nur ein Ehrenblatt für das junge polnische Schrifttum, sondern auch für die zeitgenössische Weltliteratur; eine Kampfansage gegen den Antisemitismus, wie sie gerade von einem Nichtjuden geschrieben werden mußte, von einem Vertreter der europäischen Jugend, von dem Angehörigen des Landes, das am schwersten unter dem Kriege gelitten hat, von einem echten Dichter – von Jerzy Andrzejewski“ (Andrzejewski 1948, o.S.). In späteren Jahren folgten weitere Ausgaben, zum Teil auch Neuübersetzungen wie Renate Lachmanns Übersetzung von 1964, die 1966 auch unter dem Titel „Warschauer Karwoche“ bei dtv erschien. Überdies wurde das Werk in zahlreiche weitere Sprachen übersetzt, unter anderem ins Tschechische, Englische, Japanische, Bulgarische, Niederländische und Französische. Nach der Erstveröffentlichung 1945 wurde „Wielki tydzień“ in Polen im Laufe der Jahre in weiteren Ausgaben publiziert, nun aber meist nicht mehr in einem Sammelband, sondern als eigenständige Erzählung.

1994/95 verfilmte Andrzej Wajda die Erzählung, nachdem er bereits 1968 ein erstes Drehbuch dazu geschrieben hatte. Wegen der seinerzeit betriebenen antisemitischen Politik der polnischen Kommunisten konnte er den Film jedoch nicht realisieren.

Quellen:

  • Breysach, Barbara: Schauplatz und Gedächtnisraum Polen. Die Vernichtung der Juden in der deutschen und polnischen Literatur. Göttingen 2005.
  • Detka, Janus: Przemiany poetyki Jerzego Andrzejewskiego. Kielce 1995.
  • Karolak, Sylwia: Doświadczenie Zagłady w literaturze polskiej 1947-1991. Kanon, który nie powstał. Poznań 2014, S. 104-115.
  • Macużanka, Z.: „O nowelach Jerzego Andrzejewskiego”. In: Polonistyka (1959), Nr. 6, S. 58.
  • Markowski, Mieczysław: „Andrzejewski segreguje dusze”. In: Odra (1946), Nr. 3, S. 5.
  • Suchocki, Mieczysław: „Rezension”. In: Przegląd Zachodni I (1946), S. 100-103.



Bearbeitet von: Markus Roth