Die letzte Station (1947)

Aus Frühe Texte der Holocaust- und Lagerliteratur 1933 bis 1949
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Angaben zum Werk

Titel Die letzte Station
Autor Schröder, Karl (1884-1950)
Genre Autobiografische Erzählung

Ausgaben des Werks

Ausgabe von 1947, Berlin
Titel Die letzte Station

Erscheinungsort Berlin
Erscheinungsjahr 1947
Auflage Erstauflage

Auflagenhöhe insgesamt 5000
Verlegt von Verlag Gebrüder Weiss
Gedruckt von Druckhaus Tempelhof
Publiziert von Schröder, Karl (1884-1950)

Umfang 206 Seiten

Lizenz Lizenz der Amerikanischen Militärregierung Nr. B 212

Bibliotheksnachweise UBGI-icon.gif UB Gießen (Print-dnb-icon.gif gedruckte Ausgabe)
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DNB-icon.gif Deutsche Nationalbibliothek (Online-dnb-icon.gif elektronische Ausgabe)

Zusammenfassung

Karl Schröder beschreibt in seiner autobiografischen Erzählung seine Gestapohaft und mehrjährige Schutzhaft in Gefängnissen und den sogenannten Emslandlagern, die jedoch nicht explizit namentlich genannt werden. Zentrales Thema ist für ihn neben der Schilderung der erlittenen Gräuel und dem Wunsch des Zeugnis Ablegens vor allem der Prozess des Verarbeitens durch das Schreiben über die Ereignisse.

An Schröders Werk zeigt sich deutlich die Vermischung von Bericht und literarischen Elementen. Schröder war bereits vor dem Nationalsozialismus Autor von Sachtexten und Romanen, diese Erfahrung merkt man seinem Werk an. Er berichtet weitgehend chronologisch, springt aber hin und wieder zwischen einzelnen Stationen seines Leidenswegs hin und her. So reflektiert Schröder in hohem Maße den Erinnerungs- und Schaffensprozess seines Schreibens, zeigt also die nachträgliche Auswahl und Zusammensetzung dieser Erinnerungen mit einem bestimmten Ziel – Gehör zu finden und den Leser zu überzeugen – auf. Bereits zu Beginn macht er auf die Schwierigkeit der Kunst nach dem Holocaust aufmerksam: „Die auf den folgenden Blättern erzählten Vorgänge sind ‚Wirklichkeit‘, aber keine Photographie und keine Biographie. In einer Zeit, in der auch die Kunst ihre Grundlagen erst wieder aus Trümmern befreien muß, um an ihnen weiter zu bauen, ist es notwendig glaube ich, dies zu sagen“ (o.S.).

Auf der Ebene des Berichts erfährt der Leser von Schröders Verhaftung und den qualvollen Verhören mit schwerster Folter und seelischer Zermürbung, vermutlich im Jahr 1937. Er beschreibt ausführlich und detailliert die Momente der Dissoziation bei der körperlichen Folter und das Schwanken zwischen Hoffnung, Verzweiflung und Gleichgültigkeit angesichts der ungewissen Zukunft. Dabei stellen die Verhaftung und das Abführen in Handfesseln einen Initialschock und den Übertritt in eine neue Realität für ihn dar: „Von da ab ist der Mensch kein Mensch mehr. Ich fühle es heute noch und werde es immer fühlen. Nichts von allem, was ich erlebt, hat so viel Qual, so lang empfundene Qual gelöst, wie dieses furchtbare Instrument, das in einer Sekunde dem Menschen zum wehrlosen Tier erniedrigt“ (S. 23, Hervorhebung im Original).

Wegen ‚Vorbereitung zum Hochverrat‘ angeklagt, wird er schließlich nach drei Monaten ‚Schutzhaft‘ in das Gefängnis nach Moabit in Untersuchungshaft überstellt. Hier erhält er die Erlaubnis, Besuch von seiner Frau zu erhalten, der ihn sehr verstört. Kaum kann er ein Wort mit seiner geliebten Frau sprechen, ist die Sprechzeit auch schon wieder vorbei: „[I]ch bleibe dabei: Auch die Sprechstunde ist ein Scheingeschenk. In der Wahrheit ist sie ein Teil des Systems, das den Menschen zerstört, aber ihn nicht bessert“ (S. 99).

Monate später, Zeit die er nutzt, um ein Tagebuch zu führen, das ihm später als Hilfe bei seinen Aufzeichnungen dient, beginnt der Strafprozess. Die Ungewissheit beginnt ihn zu zermürben und löst physisch und psychisch Beschwerden aus. „Ein scheußlicher Tag ist vorüber. Ein stundenlanger Druck im Hirn, ausstrahlend bis unter die Augen. Eine unentrinnbare Schwermut, dazu ein Gefühl der Unwirklichkeit“ (S. 107).  

Schließlich wird er vor dem Volksgericht Anfang November 1937 zu Zuchthaus und Zwangsarbeit im Moor verurteilt. Hier erlebt er den Kriegsausbruch im September 1939. Schröder berichtet von dem sinnlosen und unwürdigen Tod der Kameraden, der harten qualvollen Arbeit und dem Hunger: „Doch plötzlich packt dich wieder der Gast und bohrt und krampft in deinen Gedärmen, daß du des Nachts verzweifelt stöhnst, die Fäuste gegen den Magen pressend“ (S. 145). Das Grauenhafte und Zerstörerische an der Schutzhaft sei die Ungewißheit, so Schröder, die einen panisch werden und verzweifeln lasse: „Aber gerade dann – beim letztenmal – da richtet sie sich wieder auf, da steht sie auf einmal wieder vor dir: die grauenhafte Ungewissheit. Du ringst mit ihr, du stößt sie beiseite, du schleuderst sie in den letzten Winkel; und wirklich, es scheint, du hast sie besiegt. Da kommt sie nächtens angekrochen, so wie ein Alp sich schleichend naht. Deine Glieder sind gefesselt, gelähmt, die Brust wie in stählerne Klammer gepreßt“ (S. 203).

Schröder reflektiert auch die Authentizität und Realitätsnähe von Gefangenenliteratur wie etwa dem „Graf von Monte Christo“ oder Oscar Wildes „Zuchthausballaden“ oder Dostojewskis „Aus einem Totenhause“.

Nach sechs Jahren Haft wird er schließlich entlassen, es ist jedoch alles andere als ein triumphales Gefühl. „Dann war – die Ungewißheit wieder zu Ende. Am Tor zur Freiheit standen die Spitzel, die neuen Greifer der alten Gestapo. Du gehst in die neue Ungewißheit!“ (S. 204, Hervorhebung im Original)

Vor allem prägen den Text Schröders wiederholte und sehr ausführliche Reflexionen über die Schwierigkeit über seine mehrjährige Gefängnis-, Zuchthaus- und Konzentrationslagerhaft und über einzelne erschütternde Details und Erinnerungen zu sprechen. Bereits im ersten Satz stellt er fest: „Gestern habe ich zum ersten Male darüber gesprochen. Da – rü – ber. Wovon ich drei Jahre nicht sprechen wollte. Oder nicht konnte? Ich weiß es nicht“ (S. 7)“. Wiederholt bittet er den Leser, den er direkt anspricht, um Geduld und Nachsicht für die hinauszögernde, immer wieder Erinnerungs- und Sprachhürden überwindende Art seiner Erzählung: „Vom Hundertsten komme ich ins Tausendste, muß alles in Stücke reißen und kann aus den Fetzen da Kleid nicht weben. Nein, nein! so geht es nicht. Es hängt doch alles zusammen, und eins ist nicht denkbar ohne das andere. […] Das ist’s, und so wollen wir beginnen. Wo wir enden werden, weiß ich noch nicht. Aber ausweichen ist nicht möglich“ (S. 10).

Es gebe Wirklichkeiten, so muss Schröder erkennen, die stärker seien als alle Worte, für die nicht einmal die Kraft eines großen Dichters ausreiche, vor der alle Sprache verstumme, der nur armseliges Gestümper bleibe. Der Mensch sei unfähig, bestimmte Grenzen zu überschreiten, ein Übermaß an Leid werde nicht mehr erfasst. Trotz allem wolle er, so gut er vermöge, das wiedergeben, was ihn erfüllte. Dass dies kein leichter Prozess ist, wird immer wieder deutlich. Schröder schweift ab, verliert sich in Details und bittet den Leser wiederholt, ihm für seine vermeintlich erzählerische Unzulänglichkeit zu verzeihen, nimmt Anlauf, um die Hürden der Erinnerung zu überwinden und zwingt sich immer wieder selbst, sich ihnen doch zu stellen. „Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, aber wenn ich es jemand erzählte, dann möchte ich eine Pause machen, eine lange Weile schweigen, am besten die Augen schließen, weil mir das Bild vor Augen kommt, das ich damals in mich aufgenommen“ (S. 25f.). Alles sträube sich in ihm, das alles niederzuschreiben. Aber Tausend andere hätten gelitten wie er, er dürfe es um ihretwillen nicht vergessen und müsse es dem fühlenden Leser erzählen, auch wenn es ihm Qual bereite. Mit seinem Schreiben, so formuliert er klar, verbindet sich eine Verpflichtung und die Hoffnung, dass „[v]ielleicht … vielleicht, daß dann – aus der Hölle der letzten Station – der Phönix wieder die Flügel spreitet und rauschend – lichtüberstrahlt – zum neuen Fluge gen Himmel steigt“ (S. 10). Denn trotz allem sei die Sprache allein „eines der Mittel und wohl das gewaltigste von allen, die das Leiden der Welt vermindern können“ (S. 143). Ihre Heilkraft sei wunderbar, fährt er fort, ein Mensch ohne Sprache müsse zerspringen und Schweigen führe zum Amoklauf.

Am Ende des Textes blickt er zurück auf das, was er „der Sprache abgerungen“ (S. 201) hat und hat das starke Gefühl, er müsse aufhören weiter zu reden, obwohl es noch so vieles zu sagen gebe. Und dennoch, so richtet er sich an seine Kameraden: „Sagt mal, wenn wir alles in allem bedenken, was wir erlebt und erlitten haben – in dieser letzten Station, möchtet ihr es aus eurem Leben missen? […] Um keinen Preis gebe ich es hin; was andere immer denken mögen. Und wäre es nur um dessentwillen – wenn wir jetzt nun wieder ins Leben treten –, daß wir im Käfig begreifen lernten was Mensch und Menschlichkeit sein können und werden und tiefer werden müssen als jede Dogmatik und jede Partei“ (S. 205).

Biografie

Karl Bernhard Fritz Schröder, geb. am 13. November 1884 in Bad Polzin, gest. am 6. April 1950 in West-Berlin, Pseudonym Karl Wolf, wurde als Sohn eines Lehrers geboren. Nach dem Besuch des humanistischen Gymnasiums in Köslin, studierte er in Berlin Philosophie, Literaturwissenschaften, Geschichte und Kunstgeschichte. 1912 wurde er in Marburg mit einer literaturgeschichtlichen Dissertation promoviert. Zurück in Berlin trat er 1913 der SPD bei, wo er sich ab 1914 als wissenschaftliche Hilfskraft im Zentralbildungsausschuss der SPD für die Arbeiterbildung engagierte. Schröder nahm am Ersten Weltkrieg teil und wurde 1917 Mitglied der USPD und des Spartakusbundes sowie 1918/19 Gründungsmitglied der KPD. Wenig später wurde er Redakteur des KPD-Zentralorgans ‚Rote Fahne‘. 1919 war er einer der Leiter der linken Opposition der KPD, deshalb wurde er nach dem II. Heidelberger Parteitag im Oktober 1919 mit Dreiviertel der Berliner KPD-Organisation ausgeschlossen. Im April 1920 war er ein Gründungsmitglied der Kommunistischen Arbeiter-Partei Deutschlands (KAPD) und gab die „Kommunistische Arbeiter-Zeitung“ sowie „Proletarier“ heraus. Daneben publizierte er politische Bücher wie „Vom Werden der neuen Gesellschaft“ (1920) und „Wesen und Ziele der revolutionären Betriebsorganisation“ (gemeinsam mit Friedrich Wendel, 1920). Im November 1920 reiste er mit einer Delegation im November 1920 nach Moskau. Dort erreichte er in zähen Verhandlungen mit Lenin, Trotzki und Bucharin, dass die KPD am 5. Dezember 1920 provisorisch in die Komintern aufgenommen wurde. Nach dem 3. Weltkongress der Komintern 1921 ging er jedoch auf Distanz zu ihr und wurde 1922 aus der KPD ausgeschlossen. Daraufhin kehrte er 1924 zur SPD zurück und war Lektor für sozialdemokratische Verlage und in der Arbeiterbildung, etwa bei der Sozialistischen Arbeiterjugend, tätig. Im Jahr 1928 übernahm Schröder die Leitung der Berliner Buchgemeinschaft „Der Bücherkreis“, dem damals größten Lesering für Arbeiter, die er bis 1932 innehatte. Als Schriftsteller veröffentlichte Schröder außerdem einige Zeitromane, darunter „Der Sprung über den Schatten“ (1928) oder„Die Geschichte Jan Beeks“ (1929). Ebenfalls ab 1928 begann Schröder gemeinsam mit Alexander Schwab, einen Kreis Gleichgesinnter um sich zu sammeln, aus dem 1931/32 die rätekommunistischen Roten Kämpfer hervorgingen.

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten arbeitete Schröder in Berlin-Neukölln als Buchhändler und setzte seine politische Tätigkeit in der Illegalität fort. 1936 zerschlug die Gestapo die Widerstandsgruppe Rote Kämpfer und Schröder wurde am 29. November 1936 verhaftet. Am 20. Oktober 1937 wurde er vom Volksgerichtshof wegen ‚Vorbereitung zum Hochverrat‘ zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt und danach in mehreren Emslandlagern, unter anderem ab 1943 im Konzentrationslager Börgermoor, inhaftiert. Über die Zeit als Gefangener berichtet Schröder in seinem autobiographischen Erlebnisbericht „Die letzte Station“, den er 1947 veröffentlichte.

Nach dem Krieg war er als Lehrer im Volksbildungswesen tätig. Durch Lager und Zuchthaus gesundheitlich schwer geschädigt, arbeitete er am Wiederaufbau des Berliner Schulwesens und der Erwachsenenbildung mit. 1945 trat er wieder in die SPD ein und leitete bis 1948 die Volkshochschule in Berlin-Neukölln. Während der Berliner Blockade trat Schröder 1948 der SED bei und wurde von der Volkshochschule entlassen. Er wurde dann Lektor im Ostberliner Schulbuchverlag Volk und Wissen. Gleichzeitig versuchte er, in West-Berlin einen Kreis ehemaliger Roter-Kämpfer-Mitglieder um sich zu sammeln.

Quellen:


Werkgeschichte

Schröders autobiografische Erzählung „Die letzte Station“ erschien 1947 erstmals in einer Auflage von 5000 Exemplaren im amerikanischen Sektor in Berlin. Eine weitere Ausgabe des Werks wurde 1995 von Fietje Ausländer mit ergänzenden biografischen Beiträgen von Habbo Knoch, Ursula Lamm und Heinrich Scheel in der Schriftenreihe des Dokumentations- und Informationszentrum (DIZ) Emslandlager in der Edition Temmen (Bremen) herausgegeben.



Bearbeitet von: Charlotte Kitzinger