Erlebnisse im KZ Theresienstadt (1946)

Aus Frühe Texte der Holocaust- und Lagerliteratur 1933 bis 1949
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Angaben zum Werk

Titel Erlebnisse im KZ Theresienstadt
Autor Marcuse, Bruno (1878-1948)
Genre Gedichtsammlung

Ausgaben des Werks

Digitalisat in DIGISAM öffnen
Ausgabe von 1946, Ulm
Titel Erlebnisse im KZ Theresienstadt

Erscheinungsort Ulm
Erscheinungsjahr 1946
Auflage 1
Auflagen insgesamt 1

Gedruckt von J. Ebner
Publiziert von Marcuse, Bruno (1878-1948)
Umschlaggestaltung von Mangold

Umfang 47 Seiten
Abbildungen 3 Fotografien des Getto Theresienstadt ohne Bildunterschriften
Lizenz Herausgegeben mit Erlaubnis von Publications Control 6871st DISCC APO 758

Bibliotheksnachweise UBGI-icon.gif UB Gießen (Print-dnb-icon.gif gedruckte Ausgabe)
UBGI-icon.gif UB Gießen (Online-dnb-icon.gif elektronische Ausgabe)
DNB-icon.gif Deutsche Nationalbibliothek (Print-dnb-icon.gif gedruckte Ausgabe)

Zusammenfassung

Bruno Marcuse, der erst nach seiner Inhaftierung im Alter von 65 Jahren schriftstellerisch tätig wurde, verarbeitete seine persönlichen Erfahrungen im Getto Theresienstadt sowie die Schilderungen anderer Augenzeugen in einer Sammlung von Gedichten. Diese durch „Knappheit und Einprägsamkeit […] überlegene Darstellungsart“ (S. 5) der Poesie nutzt Marcuse, um in vergleichsweise schlichten Reimen den Alltag in Theresienstadt in all seinen Facetten zu schildern.

Zunächst beginnt Marcuse jedoch nicht mit einem Gedicht, sondern mit einer Gesamtdarstellung über Theresienstadt. Er beschreibt chronologisch die Entwicklung des Gettos, die Gebäude sowie die Sozialstruktur der Häftlinge, nennt Todeszahlen und hebt das Streben der Bewohner nach Kultur und Wissenschaft hervor. Abschließend betont er durchaus kritisch, dass es keine solidarische Einheit unter den Häftlingen gegeben habe, vielmehr waren „Reizbarkeit, Zanksucht und Eigennutz“ (S. 9) durch das Lagerleben ausgeprägt.

Seine insgesamt 30 Gedichte, die überwiegend mit den Entstehungsdaten (zwischen 1942 und Juli 1945) versehen wurden, sind in ihrer Struktur vergleichsweise schlicht verfasst. Selbst traumatischen Ereignissen gibt Marcuse so eine feste und klare Form. Oft handelt es sich um einfache Paarreime wie „Viele Juden, Männer, Frauen, / Wurden unter Rahm [d.i. der Kommandant] verhauen. / Manchen hatte seine Macht / In die Festungshaft verbracht. / Schroff ist, was er denkt und spricht, / Ein Gemütsmensch ist er nicht! Und es fiel ihm leicht, zu quälen / Uns an Körper oder Seelen“ (S. 34) Literarische Mittel wie Metaphern, Auslassungen oder sonstige rhetorische Figuren nutzt er in seinen realistischen Gedichten kaum. Die Strophenform variiert allerdings von Gedicht zu Gedicht. Oft findet der Leser zudem Dialoge innerhalb der Gedichte, so erhält beispielweise einmal Hitler das Wort. Marcuse benutzt in seinen Gedichten, die zum großen Teil noch während des Kriegs verfasst wurden, Bilder, die später ikonographisch für den Holocaust wurden. So schreibt er zum Beispiel über Deportationszüge: „Im Rattern der Wagen / und Knattern der Gleise / Verklingt der Klagen / Melancholische Weise“ (S. 18). Über den Rauch der Krematorien von Auschwitz heißt es: „Nur hinten rauchen zum Himmel die Schwaden, / Die schwarz sich am Krematorium entladen“ (S. 30). Das Schicksal der Juden in den Vernichtungslagern im Osten war einigen Bewohnern Theresienstadts offenbar bekannt (vgl. das Gedicht „Greisenschicksal“, S. 19).

Thematisch werden viele Aspekte des Gettoalltags angesprochen und verschiedene historische Episoden thematisiert: Der quälende Hunger und seine Auswirkungen, die Ermordung von Häftlingen, die gegen Zensurbestimmungen verstoßen haben, die Einlieferung von Frauen aus Berlin, deren Männer als Geiseln hingerichtet wurden, das Leid eines Vaters, dessen Sohn erschossen werden soll, die Deportation von Kindern nach Auschwitz, die Ankunft einer verwahrlosten Häftlingsgruppe sowie die Todesmärsche und vieles mehr. Immer wieder widmet Marcuse einzelne Gedichte dem Schicksal realer Personen, etwa dem seiner Cousine oder des Prof. Strauß, eines jüdischen Erfinders, der bei Krupp arbeitete, aber auch dem vieler namenloser Alter, Kinder und Kranker. Marcuses Schreiben endete nicht mit seiner Befreiung aus Theresienstadt, sondern er erzählt in weiteren Gedichten von der Suche der Überlebenden nach Verwandten, der chaotischen Rückkehr in die Heimat, der seelischen Lage der Befreiten und den Reaktionen der Juden auf kriegsgefangene deutsche Soldaten.

In zwei Gedichten werden auch der Besuch des Internationalen Roten Kreuzes im Juni 1944 und die Produktion eines Films thematisiert, welcher im Auftrag der Nationalsozialisten das Getto als Idylle darstellen sollte. Um die Öffentlichkeit zu täuschen, wurde Theresienstadt für diese beiden Anlässe umgestaltet, so dass es – laut Marcuse – der Stadt Wien geglichen habe. Marcuse beschreibt dies mit bissiger Ironie im Gedicht „Die Kommision“: „Alles neu und schön geputzt: / – Niemals wurde es benutzt – / Schulen zeigt man für das Kind, / Wenn sie auch geschlossen sind. / Denn die Ferien – sonderbar – / Dauern hier das ganze Jahr“ (S. 25).

Am Ende des Buches versammelt Marcuse in einem Anhang fünf Fabeln, in denen er nicht direkt auf den Holocaust oder seine Zeit in Theresienstadt Bezug nimmt. Wölfen, Tauben, Nachtigallen, Kühen und anderen Tieren verleiht er menschliche Charakterzüge und knüpft moralische Lektionen daran. Die Lehren der Geschichten lauten etwa, dass es die Vielfalt des Lebens nur bei einer Vielfalt der ‚Rassen‘ geben kann, dass Zusammenhalt vor Eigensinn stehen muss oder dass Glück und Pech nur von der jeweiligen Sichtweise abhängen. In den Fabeln wird Marcuses Vorstellung vom gerechten Handeln ebenso deutlich wie in den Gedichten, in denen er darüber hinaus immer wieder anmahnt, die Toten nicht zu vergessen.

Als „Motto“ (S. 3) ist Marcuses Sammlung das unbetitelte Gedicht eines unbekannten Dichters vorangestellt, in dem die Haltung der Juden bei ihrer Deportation thematisiert wird. Mutig, voller Kraft und mit einem Lächeln seien die Juden gegangen, so heißt es in dem Gedicht, welches 1942 „durch Handzettel vertrieben“ (ebd.) worden sein soll.


Biografie

Der Kaufmann Bruno Marcuse (geb. 06.01.1878 in Berlin, gest. 27.12.1948 in Temmenhausen) war in verschiedenen Berliner Firmen tätig, die sich auf Maschinenbau spezialisiert hatten, unter anderem 1914/1915 als Direktor der Maschinenfabrik Montania in der Zweigniederlassung Berlin sowie im selben Jahr als Prokurist in der Aktiengesellschaft R. Dolberg Berlin und 1932 bei Orenstein & Koppel ebenfalls in Berlin (vgl. Handbuch der deutschen Aktiengesellschaften 1914/1915 sowie 1932). Marcuse war zweimal verheiratet: Zuerst ab 1911 mit Katie Stargardt (geb. 14.11.1883 in London, gest. um 1968 in Israel) und ab 1916 mit Hedwig Ettling (geb. 09.05.1884 in Arnstadt, gest. 24.06.1940 in Berlin). Aus der ersten Ehe gingen zwei Kinder hervor – namentlich bekannt ist der 1915 geborene Sohn Adi/Adolf Maroz –, die nach dem Krieg (evtl. auch schon zuvor) in einem Kibbuz in Haifa lebten. Mit seiner protestantischen Frau Hedwig bekam er in zweiter Ehe einen Sohn, Manfred, der während des Krieges zur Arbeit für die Organisation Todt in Lothringen zwangsverpflichtet wurde; 1945 lebte er in Berlin und war bei einer Militärregierung beschäftigt.

Marcuse selbst wurde auf Grund seines jüdischen Glaubens am 21. Januar 1944 nach Theresienstadt deportiert. Nach seiner Befreiung blieb er noch bis zum 10. Juli 1945 dort.

Marcuse begann erst während seiner Zeit in Theresienstadt zu schreiben. In dem von ihm verfassten Gedicht „Persönliches“, mit dem er seine Gedichtsammlung „Erlebnisse im KZ Theresienstadt“ von 1946 beginnt, heißt es in der letzten Strophe: „Sonderbar, höchst sonderbar! / Über 65 Jahr / Gab ich dem Erwerb mich hin, / Hattʼ für Dichten keinen Sinn. / Aber die Natur nicht träge, / Macht die Abwehrkräfte rege, / Die wir brauchen, um den Dingen / Unser Wollen aufzuzwingen“ (S. 10). Zu dieser neuen ‚Berufung‘ passt auch Marcuses Eintrag in einem Nachkriegs-Fragebogen der Israelitischen Kultusvereinigung Württemberg, in dem er als Beruf „Schriftsteller, früher Kaufmann“ angibt (Mitgliedsfragebogen, in: 1236_001, Archiv der Israelitischen Kultusvereinigung, Personenakte Bruno Marcuse).

Nach Kriegsende stellte er im Juli 1945 einen Antrag auf Auswanderung. Dazu kam es jedoch nicht, denn eine im ITS Bad Arolsen überlieferte Aufzählung führt ihn am 15. September 1946 als Mitglied der Israelitischen Kultusvereinigung Württemberg auf. Auf dem Fragebogen, den er für die Gemeinde ausfüllte, antwortete er auf die Frage, ob er auswandern wolle mit „im jetzigen Zustand nicht“ und erbat finanzielle Unterstützung. Er wohnte zu diesem Zeitpunkt in Temmenhausen im Kreis Ulm, wo er Ende 1948 verstarb.


Quellen:

  • Family Search. Online: https://familysearch.org/pal:/MM9.2.1/MW73-H41?view=basic (Stand: 17.09.2019).
  • Handbuch der deutschen Aktiengesellschaften. Darmstadt u.a. 1914/1915, S. 674 sowie 1085-1088.
  • Handbuch der deutschen Aktiengesellschaften. Darmstadt u.a. 1932, S. 3788f.
  • „Liste von Überlebenden des Ghetto Theresienstadt“, 1.1.42.1/4955915/ITS Digital Archive, Arolsen Archives.
  • Manfred Marcuse Papers 2004.35.1. In: United States Holocaust Memorial Museum.
  • „Mitgliedsfragebogen“. In: 1236_001, Archiv der Israelitischen Kultusvereinigung (heute: Israelitische Religionsgemeinschaft Württemberg), Personenakte Bruno Marcuse.
  • „Mitgliederliste der Israelitischen Kultusvereinigung Württemberg“, 3.1.1.3/78792472/ITS Digital Archive, Arolsen Archives (F-18 Liste).


Werkgeschichte

Bruno Marcuse verfasste die Gedichte, so schreibt er in seinem „Vorwort“, zunächst für sich selbst; der größte Teil entstand bereits während seiner Zeit in Theresienstadt. Mit der Publikation übergab er sie „auf Anraten von Freunden hiermit einem weiteren Kreise“ (S. 6), um Aufklärungsarbeit zu leisten. Die gesammelten Gedichte über seine Erfahrungen in Theresienstadt erschienen in einer einmaligen Ausgabe 1946 zeitgleich mit seinem Text über den jüdischen Bauunternehmer Julius Berger („Julius Berger und das Dritte Reich“). Über weitere Publikationen von Bruno Marcuse neben diesen beiden schmalen Bänden ist nichts bekannt. Zwischen den beiden Texten gibt es eine Verbindung: Das Gedicht „Der königliche Kaufmann“ (S. 16) bezieht sich auf Julius Berger, wobei er dessen Namen nicht nennt. Die Schilderung des Lebens Bergers, seiner Frau und der emigrierten Kinder erlaubt jedoch eine eindeutige Zuordnung. Marcuse verarbeitet neben seinen eigenen Erfahrungen in Theresienstadt für seine Gedichte auch die Erlebnisse anderer Holocaustüberlebender. So haben vier Gedichte im Inhaltsverzeichnis den Vermerk: „Nach Berichten aus anderen Lagern“ (S. 4).

Quelle:

  • Marcuse, Bruno. Julius Berger und das Dritte Reich. Ulm 1946.



Bearbeitet von: Christiane Weber