Goethe in Dachau (1948)

Aus Frühe Texte der Holocaust- und Lagerliteratur 1933 bis 1949
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Angaben zum Werk

Titel Goethe in Dachau
Autor Rost, Nico (1896-1967)
Genre Erinnerungsbericht

Ausgaben des Werks

Ausgabe von 1948, Berlin
Titel Goethe in Dachau
Untertitel Literatur und Wirklichkeit

Erscheinungsort Berlin
Erscheinungsjahr 1948

Verlegt von Verlag Volk und Welt
Gedruckt von Herbert Zippel GmbH
Publiziert von Rost, Nico (1896-1967)
Umschlaggestaltung von Kreische, Gerhard (1905-1974)

Umfang 314 Seiten

Lizenz 141, 2711/48-2468/48

Bibliotheksnachweise UBGI-icon.gif UB Gießen (Print-dnb-icon.gif gedruckte Ausgabe)
UBGI-icon.gif UB Gießen (Online-dnb-icon.gif elektronische Ausgabe)


Zusammenfassung

Als politischer Häftling war Nico Rost von Mai 1943 bis April 1945 hauptsächlich im Konzentrationslager Dachau inhaftiert. In den während seiner Haftzeit dort auf „verschiedenartigsten Papieren und Zetteln gemachten Tagebuchaufzeichnungen“ (S.11) beschäftigt sich der Niederländer und Kommunist in der Hauptsache ausführlich mit deutscher Literatur als Überlebenshilfe. In seinen kurzen Vorbemerkungen zum Text, die er in den Ardennen schreibt und auf den 1. August 1946 datiert, legt er dar, dass nebensächliche oder rein persönliche Ereignisse nicht mit aufgenommen wurden. Es bedürfe wohl ebenfalls keiner Erklärung, führt er aus, dass viele Notizen nicht in der publizierten Form geschrieben wurden, „sondern mit einigen nur mir verständlichen Kennworten“ (ebd.). Auch sei das regelmäßige Führen des Tagebuchs ein riskantes Unternehmen gewesen, das nur mithilfe einiger Freunde habe durchgeführt werden können.

Das Tagebuch beginnt am 1. Juni 1944 mit einem Zitat Goethes aus den „Gesprächen mit Eckermann“: „,Die alte Erde steht noch, und der Himmel wölbt sich noch über mir!‘“ (S. 13). So lange es noch so sei, wie Goethe sage, sei nichts verloren, kommentiert Rost. Solange habe er noch einen Halt und könne mit Vertrauen der Zukunft entgegensehen. Einen großen Teil seiner Haftzeit in Dachau verbringt er wegen einer schlecht heilenden Wunde am Bein im Häftlingskrankenbau, später gehört er dort zum Revierpersonal. Dies ermöglichte ihm das Lesen von Büchern, die er aus der Häftlingsbibliothek des Lagers oder von Mithäftlingen ausleiht, und auch das Führen eines eigenen Tagebuchs. In den nahezu täglichen – gegen Ende sogar mehrmals täglich –, jeweils kurzen Einträgen beschreibt er nur am Rande das Lagerleben und den Alltag der Häftlinge. Diese Entscheidung begründet er in einem Eintrag vom 19. September 1944. Das Tagebuch sei an erster Stelle ein Mittel, um die Gedanken und Energien auf die Literatur zu konzentrieren, „um gerade dadurch nicht immer an Edith, an Tyl oder an mich selbst zu denken, nicht an Essen, Ungeziefer, Appell und so weiter. Eine Art Selbstschutz also, der mir bis heute viel und oft geholfen hat“ (S. 108). Er wolle also gerade nicht über seine Hoffnungen und Wünsche, über seine Sorgen und das Elend sprechen, sondern „Herr bleiben über die gesamte hiesige Materie, das heißt die Materie der SS, einer Brotkruste und der Wassersuppe, der Läuse und der Flöhe...“ (ebd.). Er zitiert Goethes Gedicht „Feiger Gedanken“, das die Zeile „,Allen Gewalten zum Trotz sich erhalten“ (S.109) enthält. Schon bald – am 27. Juni 1944 – stellt er fest: „Es stimmt also doch: klassische Literatur kann helfen und stärken“ (S. 25). Und auch am 11. Februar 1945 kommt er angesichts des grassierenden Flecktyphus im Lager zu der Erkenntnis: „Konstatiere stets aufs neue, wie gut es ist, so viel wie möglich zu lesen und zu schreiben. Wer vom Essen spricht, bekommt stets größeren Hunger. Und diejenige die am meisten vom Tode sprachen, starben zuerst. Vitamin L (Literatur) und Z (Zukunft) scheinen mir die beste Zusatzverpflegung...“ (S. 223).

Lebenserhaltend und sinnstiftend wirken auch die zahlreichen Gespräche, die er mit Mithäftlingen über verschiedene Autoren und deren Werke führt. Immer wieder begegnen ihm im Lager auch Schriftsteller und Gelehrte, mit denen Rost das Gespräch sucht. Neben einem Austausch von Gedanken geht es ihm auch darum, neue Erkenntnisse und Ideen zu entwickeln, er möchte sich weiterbilden und Wissenslücken schließen – in literarischer Hinsicht, aber auch in Bezug auf andere Disziplinen, etwa der Biologie. Denn er erkennt durchaus auch die Grenzen der Literatur. Gegen Flecktyphus etwa, so Rost, dürfte auch Goethe kein wirksamer Schutz sein. Seine Entwicklung, so seine Überlegung, sei vielleicht zu einseitig: „Wohl weiß ich etwas von Literatur, vielleicht auch noch von einigen anderen Dingen, aber bestimmt nichts von Läusen – jetzt unser Feind Nr. 1. [...] Und doch hängt unser Leben davon ab: Läuse können Flecktyphus übertragen – Flöhe nicht“ (S. 211).

Seine Überzeugung ist, dass die bleibende deutsche Literatur Goethes, Schillers, Herders und Hölderlins noch leben wird, während die Vertreter der Naziliteratur, wie etwa Binding, Johst, Dwinger und Blunck, verschwinden werden. Die Beschäftigung mit der deutschen Literatur ist für ihn zudem literarischer Widerstand. Dennoch fragt er sich am 12. Juli, ob diese Form des Widerstands genug sei: „Ich weiß, daß ich auch andere Dinge getan habe, aber bin ich nicht doch zu sehr ... Literat geblieben?“ (S. 36, Hervorhebung im Original) Am 15. Juli ist er sich sicher, das literarischer Widerstand alleine nicht ausreiche: „[D]enn wenn die geistigen Werte mit Hilfe materieller Waffen vergewaltigt werden, müssen sie auch mit Hilfe materieller Waffen wieder befreit werden“ (S. 39).

Von der Auswahl der Lagerbibliothek in Dachau ist Rost überaus angetan. Er entdeckt neue Autoren für sich, liest aber auch alte Klassiker erneut und bestätigt oder revidiert angesichts der einschneidenden Lagererfahrung ihr Urteil über sie. So verursachen etwa Rousseaus Schriften ihm nun physisches Unbehagen. Sie erscheinen ihm unecht, scheinheilig und selbstvergötternd: „Ich bin mir voll und ganz bewußt, daß mein Urteil durch die Umstände höchst einseitig beeinflußt ist, aber hier in dieser Atmosphäre, ständig den Tod vor Augen – ist Aufrichtigkeit geboten. [...] Ein literarischer Maßstab, den ich früher natürlich niemals angelegt habe, der sich hier aber gleichsam aufdrängt“ (S. 32). Immer wieder kommt er auf Goethes Werke zu sprechen, etwa „Wilhelm Meisters Lehrjahre“. Es ist für ihn „eines der genialsten Bücher, die ich kenne“ (S. 168). Er vergleicht zudem andere Schriftsteller mit Goethe. So stellt er am 17. August 1944 fest, dass Grillparzer ihn wahrhaftig dazu verführen könne, Goethe untreu zu werden. Auch für ein Spiel, dass sich die Häftlinge am 1. Weihnachtsfeiertag 1944 ausdenken, um nicht an Zuhause denken zu müssen, ist Goethe die Grundlage. Es beginnt mit der Frage: „Wie würde sich Goethe wohl benommen haben, wenn er hier bei uns in Dachau säße?“ (S. 179). Das Resultat: Goethe, der verhaftet worden sei, weil er sich in einem Artikel abfällig über die Theorien der Rassenforschung geäußert habe, sei in Dachau wahrscheinlich Revierkapo oder Kapo der Totenkammer, „auf jeden Fall aber sehr prominent“ (S. 180, Hervorhebung im Original). „Sicherlich hätte er nicht nur ausgezeichnete Beziehungen zu den Polen unterhalten, sondern auch zu den Kommunisten! Im Umgang mit der SS würde er sehr diplomatisch und zuvorkommend gewesen sein, doch so, daß letzten Endes auch von unserer Seite nichts dagegen einzuwenden wäre. Und natürlich hätte er Sondererlaubnis, um sein Haar wachsen zu lassen“ (ebd.). Schiller dagegen hätte es im Lager schwer, er stünde mit den meisten Kapos und Blockältesten auf schlechten Fuß und liefe stets Gefahr ‚auf Transport‘ geschickt zu werden. In ähnlicher Weise stellen sie Überlegungen über Georg Büchner, Heinrich von Kleist, Hölderlin, Schopenhauer, Nietzsche und Gerhart Hauptmann an.

Neben Klassikern der Literatur enthält die Bibliothek des Lagers auch zeitgenössische Ausgaben, wie etwa Auswahlbände aus den Werken Jean Pauls. Die Auswahl sei so aktuell, dass sie bestimmt keine Minute länger in der Lagerbibliothek bleiben würde, wenn die SS eine Ahnung von dem Inhalt der harmlos aussehenden Bändchen hätte, stellt Rost fest. Glücklicherweise seien diese jedoch nicht so intelligent. Er thematisiert auch das Buch „Die Hölle von Dachau“ - eigentlich „Im Mörderlager Dachau, 1933 - Hans Beimlers über das KZ Dachau. Er sei der erste, der über Dachau geschrieben habe, bemerkt Rost, viele von denen, die damals behaupteten, dass in dem Buch nur ‚Greuelpropaganda’ stehe, müssten inzwischen die Wahrheit seiner Worte am eigenen Leibe spüren.

Auch wenn die Tagebucheinträge sich in erster Linie mit Literatur und Autoren beschäftigen, finden durchaus auch Szenen des Lagerlebens sowie aktuelle politische Ereignisse (so weit Rost im Lager davon Kenntnis erhält) Platz darin. Vor allem berichtet er immer wieder vom Tod seiner Weggefährten und Mithäftlinge. Häufig beginnen die Einträge mit einer Nennung der Todeszahlen für den aktuellen Tag. Wiederholt thematisiert er, dass das Lagerleben keinen Raum für Trauer lasse. Er nimmt sich jedoch vor, diesen Menschen nach dem Krieg ehrend ein Denkmal zu setzen, dies stärkt auch seinen Überlebenswillen: „Ich habe mir geschworen, alles zu tun, meine ganze Kraft dafür einzusetzen, um diese Toten später wieder lebendig werden zu lassen – in allem, was ich schreiben werde! Diese Gestorbenen müssen leben, damit die Lebenden, die nach ihnen kommen, nicht sterben müssen. Ich will am Leben bleiben, um sie wieder leben zu lassen“ (S. 237). Dieses Versprechen löst er mit der Publikation des Tagebuchs schließlich ein, indem er die Personen namentlich nennt und ihrem Leben, Wirken und Sterben würdigend Raum im Tagebuch einräumt. Ebenso thematisiert er wiederholt sein angespanntes Verhältnis und Misstrauen den polnischen Häftlingen gegenüber. Am 8. Juli schreibt er: „Die Polen sind hier verhaßt. Ich kann das nachempfinden, denn ich selbst kenne auch nur sehr wenige polnische Häftlinge, die mir sympathisch erscheinen. Die meisten sind mitleidslos und eingebildet, herrschsüchtig und dünkelhaft. Die besten Helfer der SS“ (S. 31). Die meisten Polen in Dachau seien darüber hinaus sehr reaktionär, antisemitisch und antirussisch eingestellt. Er gesteht ihnen jedoch zu, dass ihr Benehmen darauf zurückzuführen sei, dass ihr Vaterland am schwersten gelitten habe und viele schon lange im Lager seien und auch dort schwere Zeiten haben durchstehen müssen. Dies habe sie wohl so hart werden lassen. Er geht außerdem davon aus, dass nicht das ganze polnische Volk in seiner Gesamtheit so sein könne.

Im April 1945 mehren sich in den Einträgen Überlegungen über die kurz bevorstehende Befreiung durch die Amerikaner. Die Abstände zwischen den Einträgen werden immer dichter. Rost schreibt nun mehrmals täglich – auch nachts –, oft sogar stündlich, um die aktuellsten Entwicklungen festzuhalten. Auch jetzt noch versucht er, sich auf seine literarischen Studien zu konzentrieren, was jedoch zunehmend schwerer gelingt. Die Überlegungen zur Literatur nehmen stetig ab, verschwinden jedoch nicht ganz. Hoffnung und Ängste wechseln sich ab, das Tagebuch wird zunehmend zu einem detaillierten Protokoll der letzten Tage des Lagerlebens sowie schließlich der Befreiung. Denn obwohl die SS in Scharen das Lager verlässt und Flieger der Amerikaner über das Lager kreisen, ist unklar, was mit den in Lager verbliebenen Häftlingen geschehen wird. Am 24. April werden die Juden ‚evakuiert’ und in Waggons verladen, die tagelang auf den Rangiergleisen stehen bleiben. Erst nach der Befreiung können die wenigen Überlebenden aus den Waggons befreit werden. Rost fragt sich, ob die SS auch noch Waggons für die restlichen Häftlinge habe: „Für fünfunddreißigtausend Mann? Das kann ich unmöglich glauben. Also uns hier ... liquidieren?“ (S. 285) Sorge bereitet ihm die Vorstellung, jetzt noch Flecktyphus zu bekommen. Am 26. April werden auch ein Teil der Deutschen und Russen ‚evakuiert’: „’Zeit gewinnen! – Zeit gewinnen!’ ist unsere Losung. Denn mehr als je ist Zeit – nun Leben“ (S. 294), notiert Rost.

Je mehr SS aus dem Lager verschwindet, desto mehr ‚Nationale Komitees’ entstehen unter den Häftlingen, die die Ordnung im Lager erhalten wollen. Am 29. April hisst die SS eine weiße Fahne am Eingang des Lagers: „Die Aufregung bei uns ist unbeschreiblich!“ (S. 302). Schließlich beginnt am 29. April ab 3 Uhr mittags der Befreiungskampf: „Es war genau 5.28 Uhr – nach der Uhr der Kommandantur – als sich das große Tor öffnete“ (S. 304). Zu seiner Verwunderung bleibt bei Rost die große Freude zunächst aus. Um 10 Uhr abends konstatiert er: „Die große, echte Freude, die ich doch empfinden müßte, ist noch nicht da – will noch nicht in mir aufkommen. Als ich die ersten Amerikaner im Lager sah, dachte ich nur: So, da seid ihr also; endlich; es wurde auch verdammte Zeit ... Sonst eigentlich nichts“ (S. 305). So wie das Tagebuch mit Goethe beginnt, schließt es auch – beinahe – mit ihm. Um 3 Uhr nachts bekommt Rost zufällig seinen „Egmont“ in die Hände und beschließt – obwohl es ihm sehr schwer fällt: „Ich werde mich noch einmal – und hoffentlich das letztemal hier in Dachau bemühen, mich mit aller Kraft auf Goethe zu konzentrieren“ (S. 308).

Im Anhang des Textes befindet sich der Inhalt eines Dokuments von Heinrich Himmler, der am 14. April 1945 den Lagerkommandanten von Dachau und Flossenbürg den Befehl erteilt, die Lager nicht zu übergeben sondern sofort zu evakuieren, damit kein Häftling lebend in die Hände des Feindes falle. Ebenfalls angehängt ist der Bericht des Deutschen Karl Riemer, der am 28. April 1945 zusammen mit anderen Deutschen und Österreichern versucht, die Evakuierung des Lagers und den Massenmord der Häftlinge zu verhindern. Der Bericht ist unter Mitarbeit von Rost am 9. Mai 1945 auch in der holländischen Lagerzeitung „De Stem de Lage Landen“ erschienen.

Rost widmet den Text seiner Frau Edith mit einigen Gedichtzeilen von Konstatin Simonow: „Und wer nicht gewartet hat, / begreifet nie und nimmer / wie du, mit deiner Standhaftigkeit, / mein Heil warst und meine Rettung / inmitten dieser Hölle“ (o.S.). Der deutschen Ausgabe des Tagebuchs ist ein Vorwort von Anna Seghers vorangestellt, die gleich zu Anfang ihre Begeisterung für das Buch deutlich macht: „Das ist das Buch, auf das ich gewartet habe“ (S. 7). Sie lobt, dass die Gefangenen im Buch trotz ständiger Todesdrohung dadurch am Leben bleiben, dass sie in jeder Lage auf dem Recht des Denkens beharren: „Manchmal wird der Leser so tief in den literarischen oder philosophischen Streit hineingerissen, daß er selbst die Leichen vergißt, die sich um die Streitenden häufen, wie die Streitenden selbst ihre Umgebung vergessen müssen, um von Todesahnungen nicht infiziert zu werden. Das ganze Gewicht des Berichtes liegt aber darauf, daß jeder Wortstreit, jede Seite Lektüre, jede Zeile des Buches dem Tod schwer abgerungen war“ (S. 9). An einigen Stellen wird außerdem ihre persönliche Bekanntschaft und Zuneigung zu Nico Rost deutlich. Sie wendet sich direkt an den Autor und dankt ihm für das Buch: „Die großen Namen, die in deinem Buch aus den Gesprächen gequälter und sterbender Menschen klingen, sind dir ein Teil von dem, was am Leben geliebt werden kann. Du bist auch dadurch am Leben, weil du es verstanden hast, daran festzuhalten. Das ist ein Grund mehr, für den man dir dankt, wenn man das Buch beendet hat“ (S. 10).


Biografie

Nico Rost (geb. 21.06.1896 in Groningen/Niederlande, gest. 01.02.1967 in Amsterdam/Niederlande) verließ nach einer nicht abgeschlossenen Schulausbildung am Praedinius Gymnasium in Groningen sein Elternhaus, um Schriftsteller zu werden. Auf Einladung der Internationalen Arbeiterhilfe reiste er 1923 erstmals in die UdSSR, ein Jahr später folgte der zweite Besuch. Er schrieb daraufhin auch über das Kunst- und Kulturleben in der Sowjetunion. Zwischen 1923 und 1933 lebte er in Berlin und war dort als Übersetzer und als Korrespondent der Zeitung „De Telegraaf“ und des Wochenblatts „De Groene Amsterdammer“ tätig. In deutscher Sprache publizierte er im Monatsheft „Der Querschnitt“(1923–1933). Schon früh sah sich Rost auch als geistiger Mittler zwischen seinem Heimatland, den Niederlanden, und Deutschland. So übersetzte er Werke von Egon Erwin Kisch, Ernst Toller, Alfred Döblin, Anna Seghers, Hans Fallada, Lion Feuchtwanger, Gottfried Benn und Arnold Zweig.

Er wurde Mitglied der KPD und kurz nach der nationalsozialistischen Machtübernahme im Februar 1933 im Konzentrationslager Oranienburg inhaftiert. Nach drei Wochen wurde er wieder entlassen und veröffentlichte seine Erlebnisse in seinem Buch „Brief uit een concentratiekamp“ (deutsch: „Bericht aus einem Konzentrationslager“). Er zog nach Brüssel und schrieb 1933 seinen „Open brief aan Gottfried Benn“ (deutsch: „Offener Brief an Gottfried Benn“, in: Groot Nederland, 1933). Von Brüssel ging er nach Spanien, wo er im Spanischen Bürgerkrieg gegen Franco kämpfte. Nach Francos Sieg kehrte er nach Brüssel zurück, wo er im Juli 1941 die Jüdin Edith Blumberg heiratete. Am Widerstand gegen die Nationalsozialisten beteiligte er sich vor allem in literarischer Form, indem er unter dem Pseudonym Abel Eppens die Werke von R.C. Bakhuizen van den Brink und Pieter Corneliszoon Hooft übersetzte. Unter dem Namen N. de Praetere veröffentlichte er Gedichte des deutschen Philosophen und Physikers Georg Christoph Lichtenberg. In Briefen an W. Sternfeld vom 28.11.1950 und 17.05.1960 legt er dar, er habe zwischen 1933-1945 etwa 40 Bände von deutscher Emigrantenschriftstellern ins Niederländische übersetzt und hunderte Artikel über moderne deutsche Literatur geschrieben (Deutsche Nationalbibliothek, Deutsches Exilarchiv, Nachlass W. Sternfeld, EB 75/117). Unter anderem übersetzte er das 1935 zum KZ Börgermoor publizierte Werk „Die Moorsoldaten“ von Wolfgang Langhoff ins Niederländische. Nico Rost wurde Anfang Mai 1943 von der Gestapo verhaftet und zuerst nach Scheveningen gebracht. Später wurde er ins KZ Herzogenbusch und schließlich ins KZ Dachau überstellt, wo er am 29. April 1945 von amerikanischen Soldaten befreit wurde. Nach seiner Befreiung veröffentlichte er seine in Dachau aufgezeichneten Tagebuchaufträge unter dem Titel „Goethe in Dachau : Literatuur en werkelijkheid ; Dagboek 1944-45“. Das Buch wurde auch ins Deutsche und Tschechische übersetzt, die deutsche Ausgabe erschien unter dem Titel „Goethe in Dachau. Literatur und Wirklichkeit“ 1948 im Verlag Volk und Welt. Anna Seghers schrieb dafür das Vorwort.

Nach seiner Befreiung lebte Rost mit seiner Frau in Brüssel. Er war Mitglied des niederländischen P.E.N.-Centers. In der Bundesrepublik war er als Schriftsteller zwar erfolgreich, als Kommunist jedoch vor allem in der DDR, Ungarn und der Tschechoslowakei hoch angesehen. Ihm wurde angeboten, das literarisches Archiv der DDR im Schloss Wiepersdorf, dem Wohnsitz von Achim und Bettina von Arnim zu leiten. Dazu kam es jedoch nicht. Rost wurde von der Niederländischen Kommunistischen Partei (CPN) als Mitglied gestrichen, da er dem Parteiführer nicht sympathisch war und in Folge dessen aus Ost-Berlin ausgewiesen. Er kehrte in die Niederlande zurück, wo er in einer unbedeutenden kleinen Partei aktiv wurde, die sich „Socialistische Werkers Partij“ (deutsch: „Sozialistische Arbeiterpartei“) nannte.

1955 veröffentlichte er sein Buch „De vrienden van mijn vader“ (deutsch: „Die Freunde meines Vaters“, 1955), das ein Porträt der Juden, die im Groninger Judenviertel um die Folkingestraat gelebt haben, enthält. In den Nachkriegsjahren setzte er sich außerdem für die Anerkennung der Roma und Sinti als Kriegsopfer ein. Nico Rost schrieb zudem zahlreiche humorvolle oder informierende Beiträge in Prospekten, Vereinszeitungen und für Fremdenverkehrszentralen. Er war Mitglied sowohl im Niederländischen als auch im Internationalen Dachau-Komitee und beteiligte sich daran, aus dem ehemaligen KZ Dachau eine Gedenkstätte zu machen. Nach 1955 hat Nico Rost nur noch wenig publiziert. Im Jahre 1958 wurde er für sein literarisches Schaffen mit dem „Marianne-Philips-Preis“ ausgezeichnet. 1966 erhielt er den „Kulturpreis der Provinz Groningen“, im gleichen Jahr wurde ihm zu Ehren in Israel ein Baum gepflanzt.

Quellen:

  • „Brief von Nico Rost an W. Sternfeld vom 28.11.1950“. In: Deutsche Nationalbibliothek, Deutsches Exilarchiv, Nachlass W. Sternfeld, EB 75/117.
  • Fiero, Petra S.: „Remembered Literature in the Camps: The Cases of Jean Améry, Primo Levi, Ruth Klüger, Cordelia Edvardson and Nico Rost“. In: Germanic Notes and Reviews (1997), Nr. 28, Heft 1, S. 3-11.
  • „Rost, Nico“. In: Munzinger Online/Personen - Internationales Biographisches Archiv. Online: http://www.munzinger.de/document/00000003361 (Stand: 17.09.2019).


Werkgeschichte

Die Tagebuchaufzeichnungen, die Nico Rost 1946 erstmals auf Niederländisch in Amsterdam im Veen Verlag unter dem Titel „Goethe in Dachau“ veröffentlichte, erschienen 1948 in der deutschen Übersetzung seiner Frau Edith Rost-Blumenberg unter dem Titel „Goethe in Dachau. Literatur und Wirklichkeit“ im Verlag Volk und Welt. Bereits während seiner Haftzeit im Konzentrationslager Dachau hatte er diese auf „verschiedenartigsten Papieren und Zetteln“ (S. 11) niedergeschrieben, wie er in seinen kurzen Vorbemerkungen zum Text, die er in den Ardennen schreibt und auf den 1. August 1946 datiert, darlegt. Er führt ebenfalls auf, dass viele Notizen nicht in der publizierten Form geschrieben wurden, „sondern mit einigen nur mir verständlichen Kennworten“ (ebd.). Neben weiteren Auflagen im Verlag Volk und Welt – zuletzt 1999 – erschienen weitere deutsche Ausgaben im Münchner Weisman Verlag (1949), im Münchner List Taschenbuchverlag (2001), im Hamburger Konkret Literaturverlag (1981) sowie im Frankfurter Fischer Taschenbuchverlag (1983). Weitere Ausgaben erschienen 1964 und 1984 auf Niederländisch in Den Haag im Kruseman Verlag. Übersetzt wurde das Werk außerdem ins Tschechische, wo es 1950 im Mir Verlag unter dem Titel „Goethe v Dachau“ erschien sowie 1949 in der Slowakei im Dukla Verlag unter dem Titel „Goethe“.

Gerhart Pohl besprach das Buch 1949 in „Welt und Wort“ überschwänglich. Mit Rosts schlichten Tagebuch sei diesem ein „großartiges Tagebuch der Zeitgeschichte gelungen“ (Welt und Wort (1949), Nr. 4, S.257.), heißt es in der Besprechung. Auch als Häftling bliebe Rost dem deutschen Geist untrennbar verbunden: „Während seine verbitterten Landsleute im Lager alles Deutsche als ‚Moffenwerk‘ schmähen, hält Rost sich an Goethe“ (ebd.). Das Tagebuch stelle mit leidenschaftlicher Überzeugungskraft den Triumph der Idee über die Gewalt her, so sein Urteil. Rost sei es gelungen, den „gefährliche[n] Titel“ zu rechtfertigen, in dem er die Kluft, „zwischen dem vollendeten Geist in der deutschen Form und der vollkommenen Gewalttat in der deutschen Spielart des Nazismus – zwischen den Begriffen Goethe und Dachau ohne Vorbehalt“ ausgefüllt habe (ebd.). Eine Besprechung in den „Frankfurter Heften“ im September 1949 erwähnte ebenfalls den ‚verblüffenden Titel’ und stellte fest: „Der holländische Schriftsteller schildert seine Erfahrungen im Konzentrationslager; aber nicht Grausamkeit und Elend sind das Thema, sondern die Frage: was ist der Sinn der geistigen Überlieferung in einer Welt, die den Menschen zur bloßen Nummer degradiert; was bleibt von Goethe im Lichte dieser Erfahrung? Mit Bewunderung und Erschütterung werden wir gewahr, wie für den Verfasser und für viele seiner Kameraden die Auseinandersetzung mit dem geistigen Erbe des Abendlandes auch im KZ nicht verstummte, und wie die Tapferkeit des Geistes immer wieder den brutalen Terror besiegte. Ein Buch der Tröstung und ein gültiges Dokument der Hoffnung“ (Frankfurter Hefte (1949), Nr. 9. S.895). Eine Rezension von Robert Rie. (Nachname nicht ausgeschrieben) im „Aufbau“ vom 01.09.1950 betonte das ‚Erbauliche‘ des Werks: „Seine Beschreibungen sind lebhaft und grauenhaft zugleich, aber niemals verlassen ihn die zwei Kräfte der grossen, nur physisch Gefangenen: Hoffnung und Sinn für Menschenwürde. Umgeben von verwesenden Leichen, Ungeziefer und vertierten Feinden finden Gespräche von einer Höhe des Niveaus, einer Tiefe der Erkenntnis und einem Adel der Gesinnung statt, die den Leser erschüttern und im wahrsten Sinne ‚erbauen‘, denn Zerstörungen, geistige Zerstörungen vor allem, sind nicht nur in den Kampfzonen des letzten Krieges oder in den Schreckenslagern der Nazis vorgekommen. […] Der Verfasser lehnt den engherzigen Nationalismus mancher Mitgefangener gegen das deutsche Kulturgut ab. Immer wieder werden die gemeinsamen Besitztümer des menschlichen Geistes als Lichtquellen in der braunen Nacht angerufen und benutzt. Einmal liest Rost ‚Egmont‘, den er irgendwo gefunden hat. Der Abschiedsruf des zum Tode schreitenden Goethschen Helden bedeutet Stärkung nicht nur den Gefangenen von Dachau, sondern allen Menschen guten Willens in verzweifelter Zeit: ‚Freunde – höhern Mut!‘“ (Aufbau, 01.09.1950, S. 15) Otto Salomon bescheinigt Nico Rost 1950 in der Zeitschrift „Weltstimmen“, sein "weiter Blick" (Weltstimmen (1950), Nr. 6, S. 287.) bewahre ihn davor, zu verallgemeinern, "für das Unrecht, das ihm Deutsche angetan haben, machte er nicht die Deutschen verantwortlich. Er vertraut und hofft auf die geistigen Kräfte Goethes“ (ebd.).

Rost selbst legte in einem Brief an Walter Fabian vom 24.07.1964 seine differenzierte Sicht auf das deutsche Volk dar, wie er es auch in „Goethe in Dachau“ zum Ausdruck bringt: „Eigentlich hätte ich gedacht – aber es stellte sich heraus, dass das sehr leichtsinnig war – dass es nicht schwer sein würde, für mich Vorträge zu bekommen, weil ich als ausländischer Schriftsteller trotz allem, was vorgefallen ist, eine Liebe zur deutschen Literatur habe und zu grossen Teilen des deutschen Volkes und unterscheide zwischen Hitler-Deutschland und – wie ich es nenne – ‚Das andere Deutschland’. Ich habe den Unterschied auch im Krieg gemacht, auch im KZ, wie ja auch aus meinem Buch ‚Goethe in Dachau’ hervorgeht, aber das Alles scheint ja im Grunde doch nur wenig Eindruck gemacht zu haben“ (Deutsche Nationalbibliothek, Deutsches Exilarchiv, Nachlass Walter Fabian, EB 87/112). Er räumt jedoch ein: „Mit Vorträgen über ‚Goethe in Dachau‘ hatte ich bis jetzt bei der Jugend immer großen Erfolg“ (ebd.).


Quellen:

  • „Brief von Nico Rost an Walter Fabian vom 24.07.1964“. In: Deutsche Nationalbibliothek, Deutsches Exilarchiv, Nachlass Walter Fabian, EB 87/112.
  • National-Zeitung Basel vom 13.02.1967, o.S.
  • o.A.: „o.T.“. In: Frankfurter Hefte (1949), Nr. 9, S. 895.
  • Pohl, Gerhart: „o.T.“. In: Welt und Wort (1949), Nr. 4, S. 257.
  • Rie., Robert: „Nico Rost: Goethe in Dachau“. In: Aufbau vom 01.09.1950, S. 15.
  • Rost, Nico: Goethe in Dachau. Literatur und Wirklichkeit. Berlin: Volk und Welt, 1948.
  • Salomon, Otto: „Nico Rost. Goethe in Dachau“. In: Weltstimmen (1950), Nr. 6, S. 287.



Bearbeitet von: Charlotte Kitzinger