Ich war Nr. 10291 ….

Aus Frühe Texte der Holocaust- und Lagerliteratur 1933 bis 1949
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Angaben zum Werk

Titel Ich war Nr. 10291 …. . Tatsachenbericht einer Schreiberin der politischen Abteilung aus dem Konzentrationslager Auschwitz
Autor Spritzer, Jenny (1907-?)
Genre Erinnerungsbericht

Ausgaben des Werks

Ausgabe von , Zürich
Titel Ich war Nr. 10291 …. . Tatsachenbericht einer Schreiberin der politischen Abteilung aus dem Konzentrationslager Auschwitz

Erscheinungsort Zürich
Erscheinungsjahr

Auflagenhöhe Erstauflage 1

Verlegt von Jack Schumacher
Gedruckt von K. Scheuch
Publiziert von Spritzer, Jenny (1907-?)

Umfang 96 Seiten
Abbildungen 1 Porträt

Bibliotheksnachweise UBGI-icon.gif UB Gießen (Print-dnb-icon.gif gedruckte Ausgabe)
DNB-icon.gif Deutsche Nationalbibliothek (Print-dnb-icon.gif gedruckte Ausgabe)


Zusammenfassung

Der Tatsachenbericht der Niederländerin Jenny Spritzer über ihre Haftzeit im Konzentrationslager Auschwitz und ihre Tätigkeit als Schreiberin in der politischen Abteilung des Lagers beginnt mit einem Fluchtversuch der Autorin und ihrer Familie aus den Niederlanden. Über Brüssel soll die Familie – der Ehemann und der kleine Sohn der Autorin sowie die Familie des Bruders ihres Mannes – nach Paris geschmuggelt werden. Die Flucht misslingt jedoch, in Paris werden sie denunziert und Frauen und Männer getrennt voneinander im Gefängnis von Angoulȇme eingesperrt. Die Bedingungen sind hart, die Autorin, die überwiegend in der Vergangenheitsform und aus der Ich-Perspektive schreibt, fürchtet, die angekündigte 14-tägige Haft nicht zu überleben. Das Angebot, ihr Kind herauszugeben, nimmt sie daher an. Der Sohn kommt bei der Schwester des Fluchtbegleiters unter, die ihn zusammen mit dem Kind der Schwägerin schließlich nach Marseille zu ihren Eltern schmuggelt.

Nach sechzehn Wochen Haft werden die beiden Frauen gemeinsam mit ihren Männern in das ‚Camp des Nomades‘ verlegt. Hier werden ausschließlich ausländische Familien interniert, die in Frankreich gelebt haben. Bei einer Selektion durch die Gestapo werden die Männer erneut von den Frauen getrennt und in ein anderes Lager überführt. Die Autorin ahnt noch nicht, dass es ein Abschied für immer von ihrem Mann ist. Im Juli 1942 kommt die Gestapo erneut ins Lager und nun werden die Frauen in einer knapp fünftägigen Zugfahrt nach Auschwitz deportiert. Mit Stockhieben werden die Menschen dort aus den Waggons getrieben und die Autorin in das Frauenlager gebracht, zusammen mit fünfhundert anderen Frauen. Gepäck und alle Besitztümer werden ihnen abgenommen, auch der Ehering. Anschließend werden den splitternackten Frauen die Haare abgeschnitten.

Die Autorin beschreibt den zermürbenden Appell, die grauenhaften hygienischen Zustände und die völlig unzureichende Verpflegung im Lager. Besonders schockiert sie auch der schlechte Zustand der anderen Häftlinge, die „zerkratzen und zerschundenen Leiber“ (S. 24). Unmöglich zu glauben ist es für die Autorin, dass sie „alle einmal gepflegt, schön und guterzogen gewesen waren“ (S. 27).

Zusammen mit der Ukrainerin Dunia, die sie bereits im Camp des Nomades kennengelernt hat und von der sie seither unzertrennlich ist, muss sie in einem Außenkommando einen Damm um einen Fischteich ausbaggern. Die Arbeit ist sehr hart und bereits am vierten Tag der Arbeit wünscht sie sich den Tod. „Das Lager machte schlecht und egoistisch und wer sich nicht mit den Ellbogen half, ging, unweigerlich zugrunde, es sei denn, dass man grosses Glück hatte und einem durch Protektion geholfen wurde“ (S. 27f.), stellt Spritzer fest. Nach zehn Tagen ist die Autorin so gleichgültig und abgestumpft allem gegenüber, dass sie befürchtet, nicht mehr lange durchzuhalten. Es gelingt ihr jedoch, die Blockälteste davon zu überzeugen, dass sie eine gute Bürokraft sei und so darf sie – neu eingekleidet – in der Schreibstube die Transporte registrieren helfen. Bald schon wird sie der Politischen Abteilung als Schreibkraft zugeordnet. „Damit begann ein ganz neues Leben für mich. Es wurde hier das Höchste von unseren Nerven verlangt. Aber hiervon später“ (S. 30), kommentiert die Autorin. Auch Dunia gelingt es, als Dolmetscherin in die Politische Abteilung zu kommen, während Spritzers Schwägerin mit ihrer Tochter schon bald vergast werden.

Als letzte aus dem Frauenlager Auschwitz werden auch die Autorin und Dunia eines Tages nach Birkenau überstellt. Die Verhältnisse sind hier sehr viel schlechter als in Auschwitz, dennoch ist ihre Baracke im Vergleich zu den übrigen „ein Paradies“ (S. 33). Der Zustand der Toiletten ist grauenhaft, „voll Schmutz und Dreck, ewig vollgedrängt von kranken Frauen, der Boden schlammig und glitschig, sodass manche schon in die furchtbare Jauche hineingefallen war“ (S. 33). Nahezu alle leiden an der Ruhr. Für Juden gibt es keinen Tropfen Wasser, weder zum Waschen, noch zum Trinken. Das Revier ist überfüllt mir Kranken und Sterbenden, die nackt vor die Tür geworfen und vom ‚Leichenkommando‘ weggetragen werden. Ständig beobachtet sie erschütternde Szenen. Dicht neben ihr im Graben hört sie „tierische Laute und ein Bein erhob sich in die Luft, dick mit Schlamm bedeckt und dann ein Arm“ (S. 37). Niemand eilt der Sterbenden zu Hilfe, die Aufseherin kommentiert den Vorfall mit den Worten: „Blödes Luder, warum geht sie auch zum Draht?“ (S. 37)

Schon bald darauf werden die Schreiberinnen in das ‚Stabsgebäude‘ in Auschwitz verlegt, in dem auch die Aufseherinnen, die SS-Nähstube, die SS-Waffenkammer sowie Flickstube, Waschküche und Bügelanstalt untergebracht sind. Unter den hier privilegiert untergebrachten Frauen sind vor allem ‚Bibelforscherinnen‘, die die Autorin für ihren standfesten Glauben bewundert, Jüdinnen in der Flickstube und den Büros sowie Prostituierte und Zuchthäuslerinnen in der Waschküche und Bügelstube tätig.

Spritzer erläutert detailliert die Aufgaben und die verschiedenen Bereiche der Politischen Abteilung sowie die verschiedenen Leiter der Abteilungen. In der Registratur etwa wird für jeden Häftling eine Karteikarte angelegt, auch für die Häftlinge die für die ‚Sonderbehandlung‘, also der Ermordung in der Gaskammer, ausgewählt wurden. Im Standesamt II werden die Todesfälle registriert und mit einer natürlichen Todesursache beurkundet. Die Autorin selbst arbeitet in der Krematoriumsverwaltung unter den SS-Männern Kristan und Quackernack und muss Listen von Exekutierten und Todesmeldungen vom Krankenbau in das Krematoriumsbuch eintragen. Bald schon macht sie diese Eintragungen ganz mechanisch. Um die häufigen Irrtümer und Fehler auf den Listen zu vermeiden, wird den Häftlingen schließlich eine Nummer in den Unterarm tätowiert.

Spritzer berichtet ebenfalls von den grausamen Foltermethoden Wilhelm Bogners, der Häftlinge auf der ‚Schaukel‘ quält, oder Karl Brochs, der bei Vernehmungen brutale Gewalt anwendet: „Solche Szenen mussten unsere Nerven jahrelang ertragen“ (S. 51).

Im Oktober müssen sich die Häftlinge der Stabsabteilung bei Eiseskälte einer Entlausung unterziehen. Bespritzt und eingerieben mit einem stinkenden Öl müssen die Frauen zwei Stunden nackt in der Kälte und Nässe herumstehen. Verwundert ist die Autorin von ihrer eigenen Widerstandskraft, da sie niemals erkrankt, obwohl sie vieler ihrer kranken Kameradinnen pflegt. Immer wieder berichtet Spritzer über einzelne oder auch außergewöhnliche Begebenheiten, etwa der unerwarteten Milde des Chefs der Politischen Abteilung, Grabner, der den Schreiberinnen durchgehen lässt, dass sie eine Flasche Schnaps der SS ausgetrunken haben, oder aber auch von Fredy, dem einzigen Kind, das mit seiner Mutter 1943 nach Auschwitz kommt, und gegen jede Regel von der Selektion zur Gaskammer verschont wird. Als einziges Kind im Lager wird der Junge „verwöhnt und verhätschelt“ (S. 69) und bis zur Liquidierung des Lagers im Januar 1945 – danach verliert die Autorin seine Spur – erfreut er sich bester Gesundheit. Ebenso schildert sie die Flucht des jüdischen belgischen Mädchens Malla mit ihrem polnischen Geliebten. Beide werden jedoch nach drei Wochen wieder eingefangen und Malla begeht kurz vor ihrer Hinrichtung durch den Galgen Selbstmord. Ihr Freund wird einige Wochen später erhängt.

Auch den ‚alltäglichen‘ Geschehnissen und Abläufen, den immer wiederkehrenden Transporten, den Vergasungen und dem Sonderkommando widmet sie sich, ebenso wie dem Zigeunerlager, dem Bordell und den Transporten aus Theresienstadt, die in einem extra eingerichteten ‚Familienlager‘ untergebracht werden bis auch sie vergast werden. Sie beschreibt, nach welchen Kriterien Selektionen – vornehmlich aus dem Krankenbau – im Lager ablaufen und welch grundlegende Bedeutung für das Überleben das ‚Organisieren‘ hat.

Im Stabsgebäude leben die Frauen verhältnismäßig sehr privilegiert, so dass auch einige Geburtstagsfeiern organisiert werden können und die Frauen aus dem wenigen, was zur Verfügung steht, Geschenke „aus dem Nichts zaubern“ (S. 91), darunter auch Gedichte, die allerdings nicht aufbewahrt, sondern sofort nach dem Lesen vernichtet werden müssen, da das Dichten streng verboten ist. Auch die Autorin selbst erhält zu ihrem Geburtstag ein liebevoll gebasteltes Geschenk. Von besonderer Bedeutung ist für die Autorin, dass sie ab dem Winter 1942 hin und wieder Briefe verschicken und Post erhalten kann. So erhält sie auch Nachricht über ihren Sohn Poldi, der inzwischen bei den Geschwistern der Autorin in der Schweiz lebt.

Der Bericht endet mit der abenteuerlichen Flucht der Autorin im Januar 1945. Die russische Armee nähert sich und das Lager soll evakuiert werden. Auf dem extrem beschwerlichen Marsch durch Schnee und Kälte überlegt die Autorin fieberhaft, wie die Flucht gelingen könnte. Schließlich überredet sie Dunia, sich bei einer Rast in einer Scheune mit ihr im Heu zu verstecken. Der Plan gelingt und die beiden Frauen werden nach einigen Tagen von drei deutschen Kommunisten, die ebenfalls sieben Jahre Konzentrationslager hinter sich haben und auf der Flucht sind, entdeckt und mit Lebensmitteln versorgt. In einem Bürohäuschen einer verlassenen Ziegelei findet die Gruppe einige Tage gemeinsam Unterschlupf, bis eine Gruppe deutscher Soldaten zu ihnen stößt. Mit knapper Not können die Frauen entkommen und bei einer Bäuerin Unterschlupf finden, deren Mann im Konzentrationslager Mauthausen ums Leben gekommen ist. Zunächst dort gefangen zwischen flüchtenden deutschen und herannahenden sowjetischen Soldaten, legen sie Anfang Februar dann hunderte Kilometer bis Kattowitz zu Fuß zurück, wo sie im Haus eines polnischen Juden unterkommen, der selbst jahrelang im Versteck gelebt hat. Dunia kehrt schließlich nach Paris zurück und die Autorin fährt über Prag, Pilsen und München nach Bregenz, wo sie auf die Einreise in die Schweiz wartet. Hier findet sie ihr Kind und den Jungen ihrer Schwägerin gesund vor. Sie erhält jedoch Nachricht vom Tod ihres Mannes und der Mutter. Auch ihre Schwägerin, der Schwager und deren Tochter haben nicht überlebt. Es bleibt, so macht der letzte Satz deutlich, eine Enttäuschung über das Leben und die Freiheit. „Woran liegt das? Haben wir uns das Leben in unserer Phantasie zu schön vorgestellt?“ (S. 157)

Im Vorwort des Verlegers Jack Schumacher heißt es, es sei es die Pflicht aller, den „tieferen Gründen nachzugehen, die solche Menschenscheusale und Methoden hervorgebracht haben“ (S. 7), da die nationalsozialistischen Konzentrationslager und die dort begangenen Verbrechen so ungeheuerlich und grauenhaft gewesen seien. Einen Beitrag dazu leiste dieser Bericht, heißt es weiter. Er gehöre „wohl zum Wirklichkeitsechtesten was uns zu Handen steht“ (S. 7f). So decke er etwa die Zusammensetzung der Gefangenenwärter auf, die – abgesehen von der SS – aus „Elementen“ (S. 8) bestanden habe, „die die Nazis selber in Deutschland und in den von ihnen unterjochten Staaten als Volksfeine und Schmarotzer aufgegriffen und strafhalber dahin versetzt hatten, wie politische Gegner, asoziale Elemente, Dirnen, Zuhälter und dergleichen“ (ebd.). Diese hätten, so Schumacher weiter, zuerst die Nazis als ihre Feinde ansehen müssen und die ihnen unterstellten Gefangenen als „Mitleidgenossen“ (ebd.). Dies sei jedoch nicht der Fall gewesen und die Gefangenen selbst seien diejenigen gewesen, die in den Lagern Menschen folterten, erhängten, vergasten und verbrannten. Nun schwebe erneut ein nicht mehr zu steigerndes „Zerstörungsinstrument“ (S. 10) – die Atombombe – über allen und es könnte eine noch schlimmere Zeit kommen und das Nazitum gar nicht Höhepunkt und Abschluss der Vernichtung auf der Erde sein. An der ‚jüdischen Frage‘, an Jerusalem und der Palästinafrage, an der Frage der „gegenseitigen Duldung, der inneren Einkehr und des friedlichen Zusammenlebenwollens“ (S. 11) könne sich das Schicksal der Welt entscheiden.  

Der Bericht enthält ein Porträt Jenny Spritzers, das die Verfasserin ein Jahr nach ihrer Befreiung zeigt.


Biografie

Jenny Schaner (geb. Ertel), geb. 1907 in Baligród, wuchs in Berlin auf. Zusammen mit ihrem Ehemann Moritz Spritzer zog sie aus beruflichen Gründen 1931 in die Niederlande. Nach der Machterlangung der Nationalsozialisten 1933 entschlossen sich beide, in den Niederlanden zu bleiben. Nach der Besetzung der Niederlande durch deutsche Truppen im Mai 1940 floh Jenny Schaner mit ihrem Mann und dem kleinen Sohn nach Frankreich. Beim Versuch, in den unbesetzten Teil Frankreichs zu gelangen, wurden sie jedoch im Oktober 1941 verhaftet. Im Sommer 1942 wurde sie vom Durchgangslager Angers (bei Nantes) als Jüdin nach Auschwitz deportiert und dort mit der Nummer 10.291 registriert. Sie wurde zunächst im Frauenkonzentrationslager im Stammlager Auschwitz I inhaftiert, bis sie Häftlingsschreiberin im ‚Standesamt‘ der Politischen Abteilung wurde. Dort wurden ausschließlich die Todesfälle im Lager registriert. Schaner musste hier von Juli 1942 bis Dezember 1944 auf der Grundlage der Todesmeldungen aus den Häftlingskrankenbauten die Sterbeeinträge schreiben, die dann in sogenannten Sterbebüchern gesammelt wurden. Im Januar 1945 konnte sie während eines Todesmarsches fliehen und es gelang ihr, sich bis zur Befreiung durch die Rote Armee in Oberschlesien durchzuschlagen.

Im April 1964 und Februar 1965 sagte sie im Frankfurter Auschwitz Prozess unter anderem gegen ihren Chef im Standesamt der Politischen Abteilung in Auschwitz, SS-Oberscharführer Walter Quakernack, aber auch gegen Wilhelm Boger aus, der an den Häftlingen sadistische Foltermethoden ausübte. Schaner lebte damals in Zürich.

Quelle:



Bearbeitet von: Charlotte Kitzinger