Psychologie des Lebens im Konzentrationslager Theresienstadt (1948)

Aus Frühe Texte der Holocaust- und Lagerliteratur 1933 bis 1949
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Angaben zum Werk

Titel Psychologie des Lebens im Konzentrationslager Theresienstadt
Autor Utitz, Emil (1883-1956)
Genre Erinnerungsbericht

Ausgaben des Werks

Ausgabe von 1948, Wien
Titel Psychologie des Lebens im Konzentrationslager Theresienstadt

Erscheinungsort Wien
Erscheinungsjahr 1948

Verlegt von Continental Edition Verlag A. Sexl
Gedruckt von Schölers Buchdruckerei
Publiziert von Utitz, Emil (1883-1956)

Umfang 80 Seiten
Abbildungen 1 Plan (Theresienstadt aus der Vogelschau), 2 Zeichnungen, 2 Fotos
Lizenz Papierzuweisung 47/551 (Neusiedler)

Bibliotheksnachweise UBGI-icon.gif UB Gießen (Print-dnb-icon.gif gedruckte Ausgabe)
DNB-icon.gif Deutsche Nationalbibliothek (Print-dnb-icon.gif gedruckte Ausgabe)


Zusammenfassung

Der Prager Psychologe Emil Utitz, der selbst fast drei Jahre im Getto Theresienstadt gelebt hat, entwirft ein Psychogramm der Menschen in Theresienstadt und der Wirkung der dortigen Zustände auf diese. Dabei zeichnet sich Utitz‘ Darstellung durch das Bemühen um eine nüchterne und professionelle Distanz aus; es spricht weniger der ehemalige Gettobewohner als vielmehr der Wissenschaftler Utitz. Hierin sieht er die besondere Legitimation seines Berichts, für den er einen gewissen Rechtfertigungsdruck spürt: „Ueber Konzentrationslager im Allgemeinen ist sehr viel geschrieben worden. Wage ich es, die Zahl dieser Veröffentlichungen zu vermehren – wenn auch nur um eine in bescheidenem Umfange – so aus dem Grunde, weil ich, dank meines Berufes als Psychologe und Philosoph glaube, einiges mitteilen zu können, das wissenschaftlich interessant erscheint“ (S. 5). Utitz gliedert seinen Versuch in systematische Kapitel, in denen er Themen wie Gerüchte, die Flucht in die Vergangenheit, Zukunftsbilder, Arbeitsmoral, Erotik und Liebe, Eitelkeit und Größenwahn und andere mehr in den Blick nimmt. Ein grundlegendes Merkmal vieler Menschen in Theresienstadt sieht er in einer Schizophrenisierung, dem entscheidend durch die Umstände des Gettolebens beeinflussten ständigen Wechsel zwischen Stumpfheit und äußerster Gereiztheit. Davon ausgehend untersucht er die weiteren Themenfelder, etwa die sich rasend schnell verbreitenden Gerüchte, die immer neue Nahrung finden, gerade weil es an verlässlichen Informationen von außerhalb mangelte. In den Gerüchten sieht er eine „unentbehrliche Nahrung“ (S. 18) der Gettobewohner und stellt nüchtern fest: „Es kam nicht auf Wahrheitsfindung an, sondern auf den erlösenden Glauben“ (S. 19). Die meisten spotteten, so Utitz, „mit gespielter Erhabenheit über die Gerüchte und klammerten sich doch an sie“ (S. 20). Für die Psychologie des Lebens in Theresienstadt waren seiner Auffassung nach zwei Erscheinungen charakteristisch: Eine ständige Flucht in die Vergangenheit, die mit jedem Tag im Getto immer prachtvoller erschienen sei, sowie Zukunftsbilder von einer „Rückkehr im eigentlichen und übertragenen Sinne“ (S. 26), in denen man endlich nicht mehr ausgestoßen aus der Gemeinschaft wäre.

Die Menschen im Getto bildeten keine einheitliche Gemeinschaft, vielmehr existierten auch hier Gruppentrennungen nach Herkunft oder Weltanschauung fort und verstärkten sich zum Teil noch. Desgleichen sieht Utitz Eitelkeit und Größenwahn, denen er ein eigenes Kapitel widmet, in Theresienstadt grassieren. Er deutet dies psychologisch als eine Kompensationshandlung angesichts der Degradierung durch die Nationalsozialisten. Titel, Abzeichen und noch so kleine, unbedeutende Posten erscheinen als hohe Auszeichnungen und es entsteht „eine neue soziale Struktur“ (S. 67), eine Art Kleinstaat mit vielen Wichtigtuereien. Kühl urteilt Utitz darüber: „Dieser Scheinstaat war ja in Wirklichkeit nur ein Riesenhaufen leidender Gefangener, die letzthin nach der Pfeife ihrer brutalen Wärter zu tanzen hatten, bis zum Totentanz. Das gerade wollte man im eigenen Bewußtsein verdrängen: Eitelkeit und Größenwahn zauberten Potemkinaden vor“ (S. 68).

Obwohl Utitz in seine Überlegungen auch Beispiele aus seiner eigenen Arbeit als Bibliothekar im Getto einbezieht, wahrt er immer die Perspektive des analysierenden Wissenschaftlers, der seinen Gegenstand mit einer gewissen inneren Distanz betrachtet und so zu erhellenden Einsichten in die Psychologie der Zwangsgemeinschaft im Getto kommt. Er schildert jedoch weder einzelne Persönlichkeiten, noch die geschichtliche Entwicklung Theresienstadts.


Biografie

Dr. Emil Utitz (geb. 1873 in Prag, gest. 1956 in Jena) besuchte in Prag das Gymnasium und war ein Mitschüler Franz Kafkas. Er studierte in Prag, München und Leipzig und lehrte anschließend in Rostock und Halle. Später wurde er Professor für Psychologie und Ästhetik in Prag. 1942 deportierten die Nationalsozialisten ihn gemeinsam mit seiner Frau nach Theresienstadt, wo er die Bibliothek leitete. Nach der Befreiung arbeitete er wieder an der Universität Prag.

Quelle:

  • Benz, Wolfgang: Theresienstadt. Eine Geschichte von Täuschung und Vernichtung. München 2013, S. 102f.


Werkgeschichte

Bereits 1947 ist eine tschechische Ausgabe des Berichts von Emil Utitz erschienen.



Bearbeitet von: Markus Roth