Rassenschande (1935)

Aus Frühe Texte der Holocaust- und Lagerliteratur 1933 bis 1949
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Angaben zum Werk

Titel Rassenschande
Autor Westheim, Paul (1886-1963)
Genre Novelle

Ausgaben des Werks

Ausgabe von 1935, Paris
Titel Rassenschande

Erscheinungsort Paris
Erscheinungsjahr 1935

Verlegt von Éditions du Phénix

Publiziert von Westheim, Paul (1886-1963)

Umfang 59 Seiten

Bibliotheksnachweise UBGI-icon.gif UB Gießen (Print-dnb-icon.gif gedruckte Ausgabe)
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Zusammenfassung

Die unerhörte Begebenheit der Novelle von Westheim ist ein Fall von vorgetäuschter ‚Rassenschande‘ kurz nach der nationalsozialistischen Machtergreifung im März 1933 in der beschaulichen Kleinstadt Eggernburg im Westerwald. Sowohl auf der Sprach- als auch auf der Handlungsebene zeigt die Novelle in verdichteter und zugespitzter Form anhand einiger weniger Akteure die Auswirkungen des um sich greifenden Nationalsozialismus und Antisemitismus.

Die Novelle beginnt mit einer Zugfahrt von Frankfurt am Main nach Eggernburg. Einige Herren unterhalten sich über die vermeintliche Schuld der Juden am Ausgang des Ersten Weltkriegs. Betreten schweigen sie, als ein am Stock gehender Zugestiegener sich als Veteran des Ersten Weltkriegs und als Jude zu erkennen gibt. Gemeinsam mit den übrigen Herren verlässt er zum Leidwesen der Übrigen den Zug ebenfalls im beschaulichen Eggernburg. Hier ist die Welt klar geordnet und die Positionen verteilt. Man trifft sich abends zum Stammtisch in Kühls Bierhallen, lässt bei Kilsheim tapezieren und sich beim einzigen Fotografen Fentschke fotografieren. Vor allem Fentschke steht im Mittelpunkt der Novelle. Der „nationale Mann“ (S. 14) ist Hoffotograf und „d e r Fotograf“ (S. 8, Hervorhebung im Original) der Stadt. Er bildet sich außerdem ein, „der einzige Künstler“ (ebd.) am Ort zu sein. Das Geschäft läuft jedoch zunehmend schlechter: „‘Kein Schwein’ wollte sich mehr fotografieren lassen“ (S. 13). Fentschke macht die Juden verantwortlich für die schlechte wirtschaftliche Lage Deutschlands: „Ob Tributvertrag und Judenrepublik auch daran schuld waren, dass auf einmal jeder dumme Junge seinen Fotoapparat hatte und selbst knipste, steht nicht so genau fest“ (S. 13), so führt der Erzähler den Fotografen vor. Die Fotoapparatfabriken, die es jedermann ermöglichten, eigene Fotos zu machen, dienten jedenfalls nur dem „Fotobolschewismus“ (S. 14) und stellen ihre Volksfremdheit unter Beweis, da ist sich Fentschke sicher.

Vor allem am Beispiel der Figur des Fotografen Fentschke entlarvt der auktoriale Erzähler die rein egoistischen und persönlichen Motive hinter den vermeintlich politischen Zielen und der großen nationalen Sache. Mit ironischen, bisweilen sarkastischen Bemerkungen kommentiert der Erzähler die Handlungen und Aussagen der beteiligten Figuren: „Atavistisch war er [Stammtischbruder Heyne] wohl noch befangen in einer überlebten ‚Mitleidsmoral‘, die darin gipfelte, möglichst viele Menschen möglichst glücklich zu machen“ (S. 43). Die Distanz und Überlegenheit des Erzählers wird immer wieder durch die wörtliche Rede der handelnden Figuren durchbrochen. Diese Reden sind oft von starkem Dialekt sowie vulgären Ausdrücken und Beschimpfungen durchsetzt.

Der Jude Loebel, der einen neu renovierten und gut gehenden Delikatessenladen eröffnet hat, ist für den wirtschaftlich angeschlagenen Fentschke eine Bedrohung: „Dass ein Mann wie Loebel überhaupt in der Lage war, in diesen Zeiten mit so einem Laden-Umbau anzukommen, stand überdies in vollkommenem Widerspruch zu Fentschkes politischer und wirtschaftspolitischer Ueberzeugung, nach der durch Versaille und Judenrepublik dem selbständigen Mittelstand gar nichts anderes übrig blieb, als ruiniert zu werden“ (S. 12f.). Schnell erscheint auch der zugereiste ‚Jude‘ aus dem Zug zur Bedrohung. Denn es stellt sich heraus, dass er, Hans Charon, Begründer und Inhaber eines neuen Verlags, des ‚Eggernburg-Verlags‘ ist, der Heimatbilder mit Abbildungen vom Westerwald herausbringen will. Als bekannt wird, dass er die Fotografin Hurly Budde, eine Schülerin des Weimarer Bauhauses, für den Auftrag kommen lässt, anstatt mit Fentschke zu fusionieren, tritt dieser der NSDAP bei. Bis zu diesem Zeitpunkt waren die Nationalsozialisten, angeführt vom SA-Führer Kwielicki, für ihn nur „hergelaufenes Pack, Zuchthäusler, Anstreicher und Anstreichergesellen“ (S. 15). Nun gefällt ihm die neue Rolle als selbsternannter ‚Führer‘ von Eggernburg zusehends.

Als Hurly Budde denunziert wird, da einige ihrer künstlerischen Aktaufnahmen bei einer Ausstellung in Stuttgart Empörung ausgelöst haben, ist dies der Auftakt für eine Diffamierungskampagne gegen den ‚fremdstämmigen‘ Charon. Nach dem Reichstagsbrand und dem „Tag der nationalen Erhebung“ (S. 27) ordnet Fentschke die Durchsuchung des Verlags an. Alle ‚zersetzenden‘ Schriften werden verbrannt, der Verlag gleichgeschaltet. Fentschke setzt einen Kommissar im Verlag ein und legt fest, dass er künftig die Fotos exklusiv liefern wird. Bei einem ‚Judenboykotttag‘ wird auch der Delikatessenladen Loebels beschmiert und beschädigt. Unerwartet bekommt Loebel als Tscheche jedoch Hilfe von der tschechischen Botschaft. Man solle ihn unbehelligt lassen, so wird von offizieller Seite nach Eggernburg gefunkt. Fentschke schäumt vor Wut angesichts dieser „Schlappe der nationalen Erhebung“ (S. 32). Der Jude scheint nun als Sieger dazustehen: „‚Wenn die Eggernburger sehen, dass wir vor dem kapitulieren, wer, sage ich, wird sich dann noch von der nationalen Bewegung unterdrücken lassen wollen?! Kein Schwein, sage ich. [...] Dann will wieder jeder sein Recht haben‘“ (S. 34). Ein Haß auf die Tschechen entbrennt, die „niederrassische Slaven“ (S. 42), Bolschewiken und Blutsbrüder von Moskau seien: „Auf Bolschewistenbrut verstehen wir uns, das haben wir ja wohl bewiesen. Wird einfach ausgerottet“ (S. 42). Kurz erwägt der Stammtisch auch das tschechische Bier „streng national gleichzuschalten“ (S. 38) und durch Eggernburger Sternbräu zu ersetzen. Da das ‚schlapprige heimische Zeug‘ jedoch nicht schmeckt, trinkt man weiterhin das tschechische Bier, allerdings nur noch unter dem Siegel strengster Verschwiegenheit.

Aus Rache gegen den Juden Loebel planen Fentschke und seine Stammtischbrüder, ihm ein Verbrechen anzuhängen. Er habe sich bestimmt ohnehin bereits eines Verbrechens schuldig gemacht: „‚Der Jude, der kein Verbrecher ist, muss erst noch geboren werden‚“ (S. 44), tönt Fentschke. Die Idee, ihn eines Steuerbetrugs zu überführen – denn der „Jude lebt ja bloss von Betrug“ (ebd.) – scheitert, da sich bei Loebel einfach keine Steuerhinterziehung finden lässt. Dies bringt die Stammtischbrüder nun erst recht in Rage: „‚So ein verdammter Jude [...], nicht mal einer Steuerhinterziehung hatte er sich schuldig gemacht!! Es war wirklich allerhöchste Zeit, dass dem heimtückischen Halunken das Handwerk gelegt wurde‘“ (S. 45). Stattdessen vereinbart man, ihn der Vergewaltigung zu bezichtigten. Ulla, „ein rothaariges Luder“ (S. 16), die bereits intime Kontakte mit einem „leidlichen Prozentsatz der männlichen Bevölkerung Eggernburgs“ (S. 16) gepflegt hat und für die besonders Kwielicki eine Schwäche hat, muss als ‚Opfer‘ für die „Vergewaltigung eines arischen Mädchens! Rassenschande!“ (S. 46) herhalten. Die etwas einfältige und stark Dialekt sprechende Ulla versteht nach einer Weile und willigt ein: „Also Hitlern zu Liebe soll er mir verjewaltigen, der olle Knopp“ (S. 49).

Der Plan wird in die Tat umgesetzt und Ulla erstattet Anzeige. Der aufgebrachte Mob in Form von einer Rotte SA-Männer stürmt daraufhin die Wohnung Charons und bringt dem „Judenpack einen Begriff von deutscher Gesittung“ (S. 50) bei: „Die ‚Sara‘, die ‚stinkige Mistsau’, die protestierte, sich auf den Konsul berief, sogar nach der Polizei verlangte, wurde ‚erledigt‘ durch einen Komisstiebel-Tritt in den Bauch, dass sie wimmernd in irgendeine Ecke flog“ (S. 50). Loebel wehrt sich, ist aber chancenlos. Er wird misshandelt und bewusstlos geschlagen. Am nächsten Tag will man sich einen „grossartigen Fez“ (S. 53) mit dem Juden machen und treibt ihn mit einem ihn als ‚Rassenschänder’ kenntlich machenden umgebundenen Plakat durch die Straßen von Eggernburg. Auch Ulla wird kahlgeschoren und ihr wird ein Plakat mit der Aufschrift ‚Judenliebchen‘ umgehängt. Kurz beschleicht Kwielicki der Gedanke, ob man nicht wenigstens bei Ulla intervenieren solle. Dann aber sieht er es als ein weiteres Opfer Ullas für die große Sache: „War es nicht herrlich und beispiellos zugleich, wie ‚die Bewegung’ es verstand, den gesunden Instinkt des Volkes für ihre Idee einzusetzen ?!“ (S. 54) Ulla jedoch ist mit dem Vorgehen nicht einverstanden und wehrt sich heftig gegen diese Demütigung. Aus Angst, dass der ganze Schwindel auffliegen könnte, nimmt Kwielicki Ulla kurzerhand in ‚Schutzhaft‘, um sie vor den ‚Übergriffen des Volkszorns‘ zu schützen: „So ein bisschen Schutzhaft. [...] Würde man ihr schon ganz nett einrichten und konnte überhaupt ganz gemütlich werden“ (S. 57). Im ‚Braunen Haus‘ wird ihr ein Zimmer „tipptop hergerichtet“ (ebd.). Ulla kommt sich vor wie eine Prinzessin. Dennoch bleibt bei Kwielicki die Angst, das Ganze könne durch die „Greuelmärchenlüge“ (S. 58) Loebels auffliegen. SA-Mann Quellwurst, ein Mann ‚fürs Grobe‘, und Kwielicki entscheiden, den Juden unversehrt zu entlassen und ihn das schriftlich bestätigen zu lassen. Quellwurst lässt den Satz unvollendet, was passieren solle, wenn Loebel erst mal entlassen sei.

Die Novelle endet mit dem Tod Loebels durch einen Straßenbahnunfall in der Nacht nach seiner Entlassung. Eine Untersuchung fördert nichts zutage. Der Erzähler kommentiert sarkastisch: „Dass irgendwo mal irgendeiner lag, der zufällig nicht mehr lebte, das kam jetzt öfters vor. Begleiterscheinung der nationalen Erhebung. Und ausserdem: doch bloss eine Marxistenbestie“ (S. 59).


Biografie

Paul Westheim (geb. 07.08.1886 in Eschwege, gest. 21.12.1963 in Berlin) wuchs in einer Familie jüdischer Kaufleute auf. Nach einer kaufmännischen Lehre wurde er 1904 zunächst Feuilletonmitarbeiter der Frankfurter Zeitung und begann dann ein Studium der Kunstgeschichte an der Technischen Universität Darmstadt und 1906 an der Universität Berlin. Er veröffentlichte Kunstkritiken in den „Sozialistischen Monatsheften“, ab 1909 in „Deutsche Kunst und Dekoration“, und ab 1911 in „Die Kunst“. Er stand dem Deutschen Werkbund nahe und war mit Theodor Heuß befreundet. 1917 gründete er mit der Zeitschrift „Das Kunstblatt“ eine der einflussreichsten Kunstzeitschriften der Weimarer Republik. Hier veröffentlichte er etwa Beiträge der expressionistischen Maler Wilhelm Lembruck, Oskar Kokoschka, Otto Dix und Pablo Picasso. Sie wurde bis 1932 als eigenständige Zeitschrift und in ihrem letzten Jahr 1933 nur noch als Beilage der Zeitschrift „Die Form“ herausgegeben. Paul Westheim verfasste auch zahlreiche grundlegende Monographien über die moderne Kunst des 20. Jahrhunderts und sammelte selbst bedeutende Werke unter anderem von George Grosz, Oskar Kokoschka, Ernst Ludwig Kirchner und Erich Heckel. 1920 erschien seine Monographie über Oskar Kokoschka. Ein Buch über Wilhelm Lehmbruck folgte 1922. Durch seine kunstkritischen Rundfunkbeiträge wurde er zu einem der führenden Kunstkritiker in Deutschland. Er förderte vor allem junge Künstler durch Ausstellungen in seiner Berliner Galerie. Als Förderer und Repräsentant des Expressionismus und ‚Symbolfigur der entarteten Kunst’ musste Paul Westheim im August 1933 nach Paris emigrieren, wo er ab 1936 im Kollektiv deutscher Künstler und ab 1937 im „Freien Deutschen Künstlerbund“ mitarbeitete. 1935 wurde ihm aufgrund seiner Tätigkeit und seiner jüdischen Herkunft die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt. Er verlor seine umfassende Kunstsammlung und seine Bücher. Zwischen 1939 und 1941 wurde er in fünf verschiedenen französischen Internierungslagern festgehalten. 1941 gelang ihm die Flucht aus einem Internierungslager und das Emergency Rescue Commitee (ERC) verhalf ihm zur Flucht über Spanien nach Mexiko. In Mexiko blieb er weiter politisch und kulturell aktiv. Er war fasziniert von der mexikanischen Kunst, insbesondere von den mittelamerikanischen präkolumbischen Kulturen. In der 1938 gegründeten Menorah (Vereinigung deutschsprachiger Juden) gilt er neben Paul Mayer und Charles Rooner als eines der aktivsten Mitglieder. Anfang 1942 hielt er Vorträge zum Thema ‚entartete Kunst’ für die Menorah und die Universidad Obrera. Im selben Jahr lernte Paul Westheim im Heinrich-Heine-Klub in Mexiko-Stadt die verwitwete Hispanistin Mariana Frenk kennen, die er 1959 heiratete. Ab 1943 übernahm er die kunstkritische Berichterstattung in der „DP“. Insgesamt erschienen in seiner Zeit im Exil in Mexiko über 100 Aufsätze in unterschiedlichen Zeitschriften, von denen viele noch unerforscht und nicht übersetzt sind. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs verwehrten beide deutschen Staaten dem als linksliberal eingestuften Paul Westheim die Rückkehr. 1954 erhielt der bis dahin Staatenlose die mexikanische Staatsbürgerschaft. Paul Westheim verstarb während eines Besuchs 1963 in Berlin.

Quellen:





Bearbeitet von: Charlotte Kitzinger