Sache Baumann und Andere (1948)

Aus Frühe Texte der Holocaust- und Lagerliteratur 1933 bis 1949
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Angaben zum Werk

Titel Sache Baumann und Andere
Autor Schwalm, Hans Otto Alfred (1906-1969)
Genre Roman

Ausgaben des Werks

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Ausgabe von 1948, Berlin,London,Stockholm
Titel Sache Baumann und Andere

Erscheinungsort Berlin,London,Stockholm
Erscheinungsjahr 1948
Auflage 1
Auflagen insgesamt 4 (2. Auflage „Gestapo Trial“ London 1939, 3. Auflage Stockholm 1943, 4. Auflage Berlin 1963)

Verlegt von Dietz Verlag
Gedruckt von Sachsenverlag, Druckerei- und Verlags-Gesellschaft
Publiziert von Schwalm, Hans Otto Alfred (1906-1969)

Umfang 233 Seiten

Bibliotheksnachweise UBGI-icon.gif UB Gießen (Print-dnb-icon.gif gedruckte Ausgabe)
DNB-icon.gif Deutsche Nationalbibliothek (Print-dnb-icon.gif gedruckte Ausgabe)


Zusammenfassung

In seinem Roman beschreibt Jan Petersen, wie aufgrund einer Lüge des Gestapo-Wärters Baumann das Leben von vier Menschen, die fälschlich des Widerstandskampfes angeklagt werden, aus den Fugen gerät und der Gewalt und Willkür der Gestapo zum Opfer fällt. Selbst nachdem die Lüge aufgedeckt wird und Baumann sich in einem Gerichtsprozess verantworten muss, bleiben die fälschlich Angeklagten ohne eine Entschädigung und einen Ausblick, ihre Existenz wieder aufbauen zu können. Am Beginn der Eskalation der Ereignisse steht die Romanze zwischen Baumann und Eva Wegner. Baumanns Interesse an Eva schlägt in Eifersucht und Wut um, als sie, die weitere Liebhaber hat, ihn zurückweist. Aus Rache zeigt er Eva, ihren Chef Bäcker Heinrich Möller, sowie ihre Liebhaber, den Arzt Georg Kramer und den Rechtsanwalt Reichelt, als Mitglieder der von ihm erfundenen „Widerstandsgruppe K“ bei der Gestapo an. Daraufhin werden die vier Angeklagten als „Staatsfeinde“ (S. 71) von der Gestapo verhaftet und gefoltert. Auch das Haus von Evas Eltern und der Arbeitsplatz ihres Vaters in Glauchau werden durchsucht, der Vater daraufhin entlassen. Bei Baumann allerdings steigern sich die Scham- und Schuldgefühle, als er beginnt, die Tragweite seiner Aussage zu erkennen. Schließlich gesteht er seine Lüge und wird in einem Gerichtsprozess zu einer fünfjährigen Gefängnisstrafe verurteilt. Die berufliche und soziale Rehabilitation der fälschlich Angeklagten findet jedoch nicht statt: Reichelt und Georg Kramer erhalten Berufsverbot, die Bäckerei Möller wird boykottiert und Eva Wegner unternimmt während der Inhaftierung einen Suizidversuch, der von den Wärtern entdeckt wird.

In „Sache Baumann und Andere“ wird das Schicksal der Protagonisten auf der inhaltlichen und formalen Ebene miteinander verwoben. Mithilfe von parallelen Handlungssträngen und wechselnden Schauplätzen zeigt Jan Petersen die Auswirkung der Lüge Baumanns über dessen Tätigkeit bei der Gestapo in der Prinz-Albrecht-Straße in Berlin hinaus. Durch die wechselnden Erzählperspektiven entfaltet sich die Innensicht der verschiedenen Protagonisten. Dies wird besonders während der Inhaftierung von Eva, Bäcker Möller, Reichelt und Kramer deutlich. Die Innenperspektive der vier Protagonisten wird jeweils in erlebter Gedankenrede zum Ausdruck gebracht: „Mit ihrem Chef ist sie [d.i. Eva Wegner] verhaftet worden. Als Staatsfeindin. Warum nur? Warum? Das hat sie sich in der Kellerzelle immer wieder gefragt, und nie eine Antwort gefunden“ (S. 100). Durch den Wechsel der Perspektiven gewinnt der Leser zudem einen Wissensvorsprung, was dem Geschehen Dramatik und Spannung verleiht; so erfährt der Leser von den Wächtern der Gestapo, die auf dem Weg von Berlin nach Glauchau zur Hausdurchsuchung sind. Wegners Nachsinnen über ein Leben nach der Arbeit, über den „ruhigen Lebensabend“ (S. 91) erscheint in diesem Zusammenhang für den Leser besonders dramatisch. Soziale Isolation und Depression als Folgen der Entlassung sowie die Sorge um Eva kehren Wegners Freude auf die Rente und ein besinnliches Leben mit seiner Frau in ihrem „kleine[n] Einfamilienhaus am Rande der Stadt mit dem schmucken, selbstgepflegten Garten“ (ebd.) in Trauer und Verzweiflung um: „[s]ein Leben blieb leer und sinnlos. [...] Er magerte ab, sein Haar wurde weiß, sein Gang schleppend, manchmal zitterten ihm die Hände so stark, daß er den Gegenstand, den sie hielten, niederlegen mußte“ (S. 176f.).

Es werden in „Sache Baumann und Andere“ keine expliziten Zeiträume oder Daten genannt, allerdings erwähnt der Erzähler die Begriffe „Heeresbedarf“ und „Aufrüstung“ (S. 90), was eine zeitliche Einordnung vor 1939 ermöglicht. Die Auswirkungen der Verleumdung werden an vielen Beispielen verdeutlicht: Wegner gerät in finanzielle Not, da ihm aufgrund des Vorwurfs, er sei Vater einer Widerstandskämpferin, kein Arbeitslosengeld zuteil wird und er nur einen festgelegten Betrag von 200 Reichsmark erhält. Damit spielt Petersen auf die Maßnahme, Konten von Juden und Widerstandskämpfern sperren zu lassen, um eine „Flucht ins Ausland“ (S. 175) zu verhindern, an. Die Rechtsprechung in der NS-Ideologie wird, so macht der Roman deutlich, zunehmend von Antisemitismus und Willkür bestimmt. Dies veranschaulicht die Innensicht der Figur Rechtsanwalt Reichelt: „Oh, er wusste das alles nur zu genau. Seit jenem Tag waren alle Paragraphen des Gesetzbuches sinnlos, seit jenem Tag existierte in Deutschland ein Rechtszustand praktisch nicht mehr! Seitdem war die Gestapo Herrscherin über Freiheit und Sicherheit, über Leben und Tod eines jeden Staatsbürgers...“ (S. 77).

Anhand von Personifikationen und Metaphern wird die Grausamkeit der Gestapo weiter in den erzählerischen Fokus gerückt. Die Konditorei Möller wird von der Gestapo als „Wespennest“ bezeichnet, das „ausgehoben“ werden müsse (beide Zitate S. 9). Ebenso werden die Wärter selbst nicht als Menschen, sondern als „ein Kranz Uniformen“ (S. 43) bezeichnet, die Automatismen der Gewalt und Folter seitens der Gestapo als „Maschine “ (S. 164) und „eiserne[r] Zwang“ (S. 199). Baumann sowie weitere Wärter werden zwar explizit mit Namen benannt, dennoch bleiben sie Akteure in einem automatisierten System und veranschaulichen unterschiedliche Aspekte der Gewalt. Neid und Erfolgsdruck stehen Misshandlungen und Alkoholismus gegenüber: Baumanns Vorgesetzter Diebold sieht in Eva Wegners Verhaftung ein „Sprungbrett“ für eine „glänzende Karriere“ (beide Zitate S. 128), während ein weiterer Wärter „die notwendige Portion Alkohol in sich [hatte], ohne die er im Keller des Gefängnisses der Gestapo nicht ‚arbeiten’ konnte“ (S. 150).

Ebenfalls wird ein Rückblick in die Biografie Baumanns geboten, der in ärmlichen Verhältnissen aufwächst, sein Studium aufgrund finanzieller Probleme unterbrechen muss und daraufhin eine Ausbildung als Polizist anfängt. Hier bricht Jan Petersen mit der Sympathie- bzw. Leserlenkung, indem Baumann nicht nur in der Außenperspektive als Teil der grausamen Gestapo geschildert wird, sondern auch Einblicke in sein Innenleben gewährt werden. Mit beginnender Eskalation der Ereignisse nehmen Baumanns Schuldgefühle zu: „Was soll aus mir werden? Aus meiner Karriere?! — Das ist erledigt, aus. Der Möller auch verhaftet — die Konditorei von oben bis unten durchsucht! Warum ziehen die das alles bloß so groß auf?! Warum bloß? Das konnte ich doch nicht ahnen! — War ja alles Wahnsinn von mir! [...] Baumann drückte sein Gesicht in das Kissen und schluchzte sich in den Schlaf“ (S. 87). Dadurch stellt Petersen nicht nur dar, wie Gewalt das Handeln der Gestapo prägt, sondern auch, wie sich die Spirale der Ereignisse verselbstständigt.

Der Titel des Romans spielt in der Handlung selbst eine Rolle. Die Gerichtsverhandlung gegen Baumann trägt den Titel „Sache Baumann und Andere. Unter Ausschluß der Öffentlichkeit“ (S. 233). Auf der einen Seite wird durch den Titel „Sache Baumann“ auf ein System angespielt, in welchem der Mensch zu einer „Sache“ bzw. zu einem „Fall“ wird und er der Gewalt der Gestapo ausgesetzt ist. Auf der anderen Seite weist der Zusatz „und Andere“ auf einen kollektiven Rahmen hin. „Andere“ treten in Gestalt der Wärter als Akteure dieses Systems auf oder sind, im Fall von Eva, Heinrich Möller, Kramer und Reichelt, der Gewalt und Willkür der Gestapo ausgesetzt. Der Untertitel „Unter Ausschluß der Öffentlichkeit“ weist darüber hinaus auf den Verlust einer transparenten Rechtsprechung hin, da sich Eva sowie alle anderen, die fälschlich angeklagt wurden, zum Stillschweigen verpflichten.


Biografie

Hans Otto Alfred Schwalm (geb. 02.07.1906 in Berlin, gest. 11.11. 1969 in Berlin) wurde als Sohn eines Maurers geboren. Er erlernte zunächst den Beruf eines Drehers und Werkzeugmachers, bevor er sich dem Schreiben zuwandte. Als Fünfzehnjähriger engagierte sich Schwalm erstmals in der Widerstandsbewegung, trat der Kommunistischen Arbeiterjugend bei und wurde 1930 schließlich Mitglied der KPD. Erste Gedichte, Texte und Sprechchöre erschienen vor 1933 in verschiedenen Zeitschriften, wie „Rote Fahne“, „Arbeiterstimme“, „Illustrierte Rote Post“ und „Illustriertes Volksecho“. Von 1931 bis 1932 war Schwalm Leiter des „Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller Deutschlands“, von 1933 bis 1935 Leiter der „Widerstandsgruppen der antifaschistischen deutschen Schriftsteller“. Zudem arbeitete er als Redakteur der Literaturzeitschriften „Neue Deutsche Blätter“ und „Stich und Hieb“.

Neben seiner Tätigkeit als Journalist widmete sich Hans Schwalm ebenfalls seinem literarischen Werk. Unter den Pseudonymen Jan Petersen, Klaus bzw. Claus Halm, Otto Erdmann und Erich Otto veröffentlichte er mehrere Romane und zwei Drehbücher. Sein Debüt, der Roman „Unsere Straße“, erschien erstmalig 1936 in Deutschland. Seine Werke wurden in mehrere Sprachen übersetzt.

1935 emigrierte Schwalm zunächst nach Frankreich und in die Schweiz, 1937 nach England. 1938 wurde ihm die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt. Von 1938 bis 1946 war er Vorsitzender der „Schriftstellersektion des antifaschistischen Freien Deutschen Kulturbundes“ in England und darüber hinaus Mitglied des englischen PEN-Clubs. Nachdem Hans Schwalm 1946 nach Deutschland zurückgekehrt war, trat er in die SED ein. 1950 wurde ihm der Goethe-Preis der Stadt Berlin für seinen Roman „Unsere Straße“ verliehen. Bis 1955 war Schwalm erster Vorsitzender der „Volksbühne“ in Berlin sowie des Deutschen Schriftstellerverbandes in Berlin, Bezirk Berlin. Darüber hinaus wurde er 1953 zum Mitglied des deutschen PEN-Zentrums ernannt. 1958 erhielt er den Vaterländischen Verdienstorden (VVO).

Quellen:


Werkgeschichte

„Sache Baumann und Andere“ erschien 1948 erstmals im Dietz-Verlag in Berlin. 1962 folgte eine zweite Auflage, ebenfalls in Berlin. Der Roman wurde 1939 ins Englische, „Gestapo Trial“, und 1943 ins Schwedische, „Hemligs Polisens Offer“, übersetzt. Das Werk wurde in der englischen Presse mehrfach rezensiert, so wird er in der „Reynold News“ am 12. Dezember 1939 als „ein aufregendes Buch“ bezeichnet, das „lebendig geschrieben und bewundernswert übersetzt“ sei. Ralph Straus urteilt in „The Sunday Times“, vom 26. November 1939: „Es ist ein Dokument unserer Tage, das seinen Eindruck hinterlässt“. Einem Urteil von Albert Kroh folgend beruht der Roman auf wahren Tatsachen und „schildert die Zustände im 3. Reich, die Gangstermethoden der Gestapo, die faschistische Justizmaschinerie und die grausamen Folgen von Denunziationen“.

Quellen:

  • Kroh, Albert (Hg.): Faschismus und Widerstand. Eine Literaturauswahl. Bernau 1963.
  • Petersen, Jan: Sache Baumann und Andere. Berlin 1948. Rückseite.



Bearbeitet von: Lisa Beckmann